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Keine Feuerwehr

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Die drohende Gefahr für Österreich, mit Beginn des kommenden Jahres im wirtschaftlichen Niemandsland Europas zu landen, scheint vorerst gebannt. Die Politiker sind einer Meinung: EWG — es wird gehen. Nicht nur im Regierungslager, auch bei der Opposition hofft man, daß endlich einmal die Optimisten nicht eine weitere Enttäuschung hinnehmen müssen. So wird für Juli der Abschluß der Verhandlungen zwischen Brüssel und Wien prognostiziert, im Herbst rechnet man mit der Ratifizierung der österreichischen EWG-Verträge und damit mit einer Vertragswirksamkeit ab dem 1. Jänner 1973.

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Die drohende Gefahr für Österreich, mit Beginn des kommenden Jahres im wirtschaftlichen Niemandsland Europas zu landen, scheint vorerst gebannt. Die Politiker sind einer Meinung: EWG — es wird gehen. Nicht nur im Regierungslager, auch bei der Opposition hofft man, daß endlich einmal die Optimisten nicht eine weitere Enttäuschung hinnehmen müssen. So wird für Juli der Abschluß der Verhandlungen zwischen Brüssel und Wien prognostiziert, im Herbst rechnet man mit der Ratifizierung der österreichischen EWG-Verträge und damit mit einer Vertragswirksamkeit ab dem 1. Jänner 1973.

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In den letzten Tagen und Wochen hat in Sachen EWG bei den österreichischen Politikern ein Reisefieber um sich gegriffen: Kreisky besuchte Paris, Bonn, Den Haag, Luxemburg, Brüssel und vergangenes Wochenende auch noch Rom. In einem Aufwaschen damit wurde auch eine London-Visite absolviert. Bundespräsident Jonas stellte seinen Staatsbesuch in Frankreich ganz in das Zeichen des österreichischen EWG-Kreuzzuges, und — nicht zuletzt — Handelsminister Staribacher eilte erstmals nach Brüssel, um diese Woche unser EWG-Fährschiff bei den Beamtenverhandlungen fester in die Hand zu bekommen. Alles in allem genommen — müßte der unbeteiligte Beobachter konstatieren — ist es, wenn der österreichische Vertrag mit der Wirtschaftsgemeinschaft nach dem vorhergesehenen Terminplan zustande kommt, dieser hektischen Reisediplomatie zu verdanken, die Österreich den Schritt zum Gemeinsamen Markt ermöglicht hat.

Der Schein allerdings trügt: Zu einem Vertragsabschluß wäre es auch dann gekommen, wenn Österreichs Politiker auf ihre Goodwill-Touren mit Zahnbürste und Wechselhemd verzichtet hätten. Denn die Würfel sind nicht erst jetzt — fünf Minuten vor zwölf — gefallen, sondern schon zu einem früheren Zeitpunkt.

Österreichs EWG-Vertrag wird vielmehr — auch in seiner zeitlichen Entwicklung — von Sachzwängen bestimmt: Auch eine große Wirtschaftsgemeinschaft — seit dem 22. Jänner ab dem kommenden Jahr bereits durch Großbritannien, Dänemark, Norwegen und Irland erweitert — kann es sich nicht leisten, unsere kleine Alpenrepublik ins wirtschaftliche Niemandsland Europas zu drängen. Mit der Erweiterung zur „Gemeinschaft der Zehn“ war eine rasche Verhandlung mit den „Nichtbeitrittskandidaten“ und ein rechtzeitiger Vertragsabschluß gegeben, weil nur ein gleichzeitiges Inkrafttreten aller Verträge gewährleisten kann, daß nicht bereits abgebaute Zollschranken wiedererrichtet werden. Österreich als Vertragspartner der Wirtschaftsgemeinschaft ist für diesen „Giganten“ darüber hinaus als „Zwerg“, aber auch vor allem wegen seiner Schaufensterfunkticn gegenüber dem osteuropäischen Raum notwendig.

Für Österreich arbeiten also die wirtschaftlichen Sachzwänge in Europa, gegen Österreich arbeitet nur noch die Zeit. Bis zum heutigen Zeitpunkt ist nämlich die konkrete österreichische Wunschliste in Brüssel nicht verbindlich formuliert. Und darin liegt die große Gefahr, die den vorgesehenen Terminplan noch über den Haufen werfen könnte. Wenn nämlich die EWG von sich aus ihr Angebot vorlegt und sich die österreichische Seite noch immer nicht über ihre Vorstellungen gänzlich klar ist, ist eine Verzögerung durchaus denkbar.

Ein anderes Problem für Österreich ist freilich in Österreich selbst begründet. Und zur Lösung dieses Problems wurde wenig — um nicht zu sagen: nichts — unternommen: Es handelt sich um die Vorbereitung unserer Wirtschaft auf den großen Europäischen Markt. Derzeit schon hat der österreichische Export sehr unter der rückläufigen Konjunkturentwicklung in wichtigen Abnehmerländern zu leiden, und es ist anzunehmen, daß er in den nächsten Monaten zunehmend stagnieren wird. Das ist um so besorgniserregender, als sich Österreichs Handelsbilanz ausgesprochen ungünstig entwickelt. Der EWG-Vertrag wird die österreichische Exportwirtschaft dazu noch einem noch größeren Wettbewerbsdruck aussetzen. Und während sich EWG-Firmen bereits ihren Markt organisiert haben, müssen sich unsere Unternehmen erst den Markt erschließen.

Die offenen Probleme werden von Tag zu Tag brennender, von der Feuerwehr ist keine Spur zu sehen. Der nach dem Staatsvertrag wohl für Österreich bedeutsamste Vertragsabschluß wird mit typisch österreichischem Schlendrian angepeilt: EWG — es wird — schon — gehen.

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