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Riß durch Europa?

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Als am 25. März 1957 sechs europäische Staaten in Rom den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) schlössen, die als Vorbild für einen noch größeren europäischen Markt gelten sollte, kamen die wachen Geister in den übrigen OEEC-Ländern nicht mehr zur Ruhe. Wohl war das Vertragswerk der sechs Staaten: Deutschland, Frankreich, Italien und Benelux im Rahmen der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, wie der volle Wortlaut der gebräuchlichen Abkürzung OEEC heißt, gegründet worden. Wohl steht auch gemäß diesem Vertrag der Beitritt anderen OEEC-Staaten oder die Erweiterung zu einem großen europäischen Markt in Form einer Freihandelszone offen; doch die Gefahr lag nur zu nahe, daß die Zoll-und Wirtschaftsgemeinschaft der „Sechs“, die eine machtvolle Wirtschaftsballung innerhalb der siebzehn OEEC-Staaten darstellt, das Gleichgewicht in dieser Gemeinschaft störe.

Was in Wien erst durch den Besuch von Sir Reginald Maudling, des Herolds der Freihandelszone, zu Beginn dieses Jahres der breiten Oeffentlichkeit gewahr wurde, daß die Zoll- und Wirtschaftsunion der „Sechs“ das westliche Europa in zwei Teile spalten würde, ließ bald nach der Unterzeichnung des EWG-Vertrages die OEEC-Staaten unter initiativem Vorgehen Englands an der Schaffung eines größeren, alle siebzehn Staaten umfassenden Marktes arbeiten. Dieser soll nicht nur die sechs EWG-Staaten mit ihrem gemeinsamen Zolltarif gegenüber Drittländern als Kern umfassen, sondern in Form einer Freihandelszone auch die elf übrigen OEEC-Staaten, die aus Souveränitätsgründen einen Beitritt zur EWG ablehnen, mit einschließen. Drittländern gegenüber aber könnte jedes dieser elf Länder seinen eigenen Zolltarif behalten.

Heute ist das Projekt der Freihandelszone in aller Munde, denn ab 1. Jänner 1959 werden die praktischen Maßnahmen zur Schaffung der EWG beginnen. Dieser Zeitpunkt ist es, der die seit vielen Monaten in Paris sich zäh hinziehenden Verhandlungen zur Schaffung einer Freihandelszone immer wieder in Bewegung geraten ließ.

Schon seit März 1957 arbeiten auf Grund eines OEEC-Ratsbeschlusses drei sogenannte Arbeitsgruppen an der Schaffung einer FreU handelszone. Alle siebzehn OEEC-Staaten beteiligten sich daran. Die Arbeitsgruppe Nr. 21 sollte die grundsätzlichen Fragen klären, wie Zoll- und Kontingentabbau, Ursprungsfragen, Ausweichklauseln und Wettbewerbsregeln. Die Arbeitsgruppen Nr. 22 und Nr. 23 sollten die Einbeziehung der Landwirtschaft und die Eingliederung der im wirtschaftlichen Aufbau begriffenen Länder in eine Freihandelszone erörtern.

Während sich die „Sechs“ mehr im Hintergrund hielten und die Verhandlungen in der Arbeitsgruppe Nr. 21 recht und schlecht gediehen - lediglich das Problem der Ursprungsbezeichnung der Waren blieb völlig ungelöst —, prallten die Meinungen Englands, das nur eine industrielle Freihandelszone wünschte, und die der Agrarstaaten, insbesondere Dänemarks, heftig aufeinander. Diese müßten in einem nur industrielle Erzeugnisse erfassenden größeren Markt — wie es England mit Rücksicht auf seine agrarischen Commonwealth-Partner wünscht — ihre Zollschranken fremden Industrieprodukten öffnen, während ihre eigenen Agrarerzeugnisse bei der Ausfuhr auf die hohen Zollsätze der anderen stoßen würden. Einig ist man, daß bei Einbeziehung der Landwirtschaft diese ein Sonderstatut bekommen soll.

Da die Maßnahmen der Freihandelszone unbedingt zu gleicher Zeit mit denen der EWG wirksam werden sollen, treten seit Herbst vorigen

Jahres, gleichsam auf höherer Ebene, sogenannte Ministerkomitees in Paris zusammen, die die von Beamten und Experten geführten Verhandlungen der drei Arbeitsgruppen fortsetzen und die derzeit noch andauern.

Seit nun die Freihandelszone, wenn auch sehr schemenhaft, Gestalt anzunehmen beginnt, zeigt sich ein merkwürdiges Schauspiel. England, das sich bisher im Straßburger Europarat einer europäischen Einigung gegenüber, selbst auf wirtschaftlichem Gebiet, immer sehr reserviert verhalten hatte, wurde nun seit der Gründung der EWG Anwalt eines großen europäischen Marktes, und das trotz innenpolitischer Opposition einiger ganz unentwegter Commonwealth-Anbeter. Frankreich, das seit Briands Tagen eine große Aufgeschlossenheit für ein geeintes Europa-zeigte beginnt nun scheinbar den großen europäischen Markt zu opponieren.

Seit Wochen läuft in Frankreichs Presse, Rundfunk und Film eine Kampagne gegen die Freihandelszone, die als englischer Störungsversuch der EWG abgetan wird. Für diese Situation ist eine Karikatur bezeichnend: das Bild John Bulls, der ein Pulverfaß mit brennender Lunte (Aufschrift: „Freihandelszone!“) in die friedlich im Kreis sitzende Runde der „Sechs“ rollt.

In einer der letzten Ministerkomiteesitzungen in Paris überraschte Frankreich damit, daß es der Freihandelszone eine „Union der wirtschaftlichen Zusammenarbeit“ vorziehen würde. Offiziell ist der Inhalt dieses Gegenvorschlages noch nicht bekannt, da er erst mit den übrigen EWG-Staaten abgestimmt werden soll. Mit seiner Veröffentlichung ist anfangs Mai zu rechnen. Was jedoch durchgesickert ist, läßt nichts Gutes ahnen.

Er sieht für die übrigen elf OEEC-Staaten, im Vergleich zur EWG, einen späteren Beginn des Zoll- und Kontingentabbaues vor, was einer Diskriminierung gleichkommt, und enthält Vorteile für die französische Industrie in Form eines lediglich sektorenweise zu erfolgenden Zollschutzabbaues.

In den europäischen Hauptstädten fragt man sich nun, ob Frankreich den Plan eine*- Freihandelszone so zu Fall bringen will, wie im Jahre 1954 den einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft, ob der französische Gegenplan lediglich ein innenpolitisches Ablenkungsmanöver ist oder ob man eben seine Zustimmung letztlich nur so teuer wie möglich verkaufen will? Die enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Frankreichs, sein zerrüttetes Währungssystem und die Lasten des Algerienkrieges sind ja bekannt.

Nachdenklicher muß schon stimmen, daß Frankreich bei gewissen Politikern anderer EWG-Länder Gehör zu finden scheint. Erklärte doch kürzlich der deutsche Außenminister von Brentano gegenüber einem DPA-Vertreter, er würde bilaterale Assoziierungsverträge einzelner Drittländer mit der EWG den multilateralen (gemeint ist die Freihandelszone) vorziehen. Der deutsche Abgeordnete Voller betonte im Montan-Union-Parlament mehr als nötig gewesen wäre, die Pflichten, die jene elf OEEC-Staaten, die für eine Freihandelszone eintreten, gegenüber der EWG zu übernehmen hätten; und dem Vornehmen nach herrscht in den Institutionen der EWG ein der Freihandelszone nicht sehr günstiges Klima.

Oesterreichs Stellung zur Freihandelszone ist klar. Es kennt keine innenpolitischen Meinungsverschiedenheiten. Als einer der übrigen elf OEEC-Staaten ist es, wie auch aus dem jüngst den Vertretern der OEECLändern, den USA und Kanada überreichten Memorandum hervorgeht, an dem Zustandekommen eines größeren Wirtschaftsraumes in Form einer Freihandelszone brennend interessiert. Denn zweiseitige Verhandlungen zwischen der EWG und jedem einzelnen der elf OEEC-Länder könnten bei der wirtschaftlichen Ueberlegenheit der EWG nur zu ihren Gunsten ausgehen.

Im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen zur' Schaffung einer Freihandelszone würde sich England im Geiste eines Lord Beaverbrook in die Traumgärten des Commonwealth zurückziehen, die skandinavischen Länder eventuell einen „nordischen Markt“ bilden, oder es würden sich, neuesten Spekulationen nach, Norwegen und Schweden dem Commonwealth, Dänemark der EWG anschließen und die Schweiz würde nach Bundesrat Petitpierre an eine teilweise Entliberalisierung des Handels und eine Rückkehr zum bilateralen Zahlungssystem mit den EWG-Staaten denken. Und Oesterreich, dessen Exporte derzeit nahezu zwei Drittel nach den Ländern der geplanten Freihandelszone gehen, wäre isoliert.

Ein einseitiges Inkrafttreten der Wirtschaftsmaßnahmen der EWG am 1. Jänner 1959 ohne den Schutzmantel einer Freihandelszone, ein wirtschaftliches Aufsplittern der übrigen elf OEEC-Staaten, würde dem vom östlichen und westlichen Machtblöcken eingeschlossenen Westeuropa nicht zum Guten gereichen. Das wird man sich auch in den Ländern der EWG sagen müssen, und daran wird wohl auch der deutsche Kanzler Adenauer bei der internen Abstimmung des französischen Gegenvorschlages in der EWG denken, er, der sooft schon der deutsch-französischen Zusammenarbeit zuliebe — zum Kummer seines Wirtschaftsministers Erhard — für Frankreichs protektionistische Wirtschaftsmaßnahmen Verständnis gezeigt hat.

Der Zug der Zeit läßt sich nicht beirren, schon gar nicht auf wirtschaftlichem Gebiet. Die Entwicklung unserer gesamten Kultur, der Fortschritt der Technik und Zivilisation erfordern großzügiges Denken und machen wirtschaftliche Großräume zu einer Notwendigkeit.

Die in der letzten Zeit aufblitzenden Warnsignale eines k1eineuropäischen Egoismus aber scheinen zu grell zu sein, um als wirkliche Anzeichen einer überlegten Entwicklung gewertet zu werden.

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