Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Freunde - und Verwandte
In wenigen Tagen wird Großbritannien Mitglied der EWG sein, aber man kann schwerlich behaupten, daß die britische Öffentlichkeit davon begeistert ist — trotz aller Bemühungen der Regierung, dem Volk die Bedeutung dieses Schrittes vor Augen zu führen.
In wenigen Tagen wird Großbritannien Mitglied der EWG sein, aber man kann schwerlich behaupten, daß die britische Öffentlichkeit davon begeistert ist — trotz aller Bemühungen der Regierung, dem Volk die Bedeutung dieses Schrittes vor Augen zu führen.
Die Einstellung der Labour-Opposition ast wohlbekannt. Offenbar in dem Bestreben, die Einheit der Partei zu wahren, hat das „Schattenkabinett“ der Labour-Partei kürzlich empfohlen, für mindestens ein Jahr keine Delegierten ins Straßburger Parlament zu entsenden. Und der Generalsekretär des britischen Gewerkschaftsbundes, Victor Feather, hat erklärt, die Gewerkschaften würden die Institutionen der EWG ebensolange boykottieren.
Als der Versuch, die Gesetzesvorlagen zur Vorbereitung des EWG-Beitritts im Parlament zu Fall zu bringen, endgültig gescheitert war, fanden sich verschiedene Gegner unter den Konservativen mit der neuen Situation ab, und das zeigte sich zweifellos auch in der Haltung eines Teils der öffentlichkeit. Aber neuerdings sind einige Fragen aufgetaucht, die dem britischen Volk zeigen, was ein Beitritt zur EWG bedeutet; und die Reaktion darauf dürfte der Regierung gewisse Sorgen bereiten. Da ist einmal die Frage neuer Einwanderungsbestimmungen, bei der die Regierung im Unterhaus eine Niederlage erlitten hat — und zwar, weil EWG-feindliche Abgeordnete der Labour-Partei sich mit konservativen Abgeordneten verbündeten, die Befürworter der Commonwealth-Bande sind. Diese Konservativen sind — zu Recht oder zu Unrecht — der Meinung, daß nach dem 1. Jänner 1973 Bürger der EWG-Länder leichteren Zugang zu Großbritannien haben werden als Bürger Kanadas, Australiens und Neuseelands. Die Bande, die Groß-
britannien mit den alten „weißen“ Commonwealth-Staaten verknüpfen, sind noch immer sehr stark. Die Einstellung vieler Familien läßt sich vielleicht mit den Worten zusammenfassen: „Unsere Freunde haben wir auf dem europäischen Kontinent. Aber unsere Verwandten sind über die englischsprachige Welt verstreut.“
Ferner zeigt sich starker Widerstand in der Bevölkerung angesichts der Möglichkeit, daß auf britischen Straßen gemäß den Bestimmungen der EWG 40-Tonnen-Lastwagen zugelassen werden. In weiten Kreisen Ist man der Ansicht, daß die heutige Begrenzung in Großbritannien auf 32 Tonnen schon kaum noch ratsam sei und daß schwerere Wagen den alten britischen Städten und Dörfern erheblichen Schaden zufügen würden, von Fragen des Umweltschutzes ganz zu schweigen. Auch ist manch einer darüber erbost, daß die EWG dies mit solchem Nachdruck kurz vor dem britischen Beitritt vorgebracht hat. Um eine Abstimmungsniederlage zu vermeiden, hat die Regierung beschlossen, einen Antrag der Opposition gegen die Zulassung schwerer Lastwagen anzunehmen; allerdings weigerte sich der betreffende Minister, zu versichern, daß die Regierung gegen einen entsprechenden EWG-Beschluß ihr Veto einlegen werde.
Hinzu kommt die weitverbreitete Befürchtung, daß die Einführung der Mehrwertsteuer nach Großbritanniens EWG-Beitritt im nächsten Jahr inflationäre Folgen haben könnte; und die Labour-Opposition hat die Regierung aufgefordert, die Einführung der Steuer hinauszuschieben.
Fragen wie diese haben das britische Volk zu der Erkenntnis gebracht, daß künftig viele Beschlüsse, die das Leben aller Bürger des Landes betreffen, nicht mehr vom eigenen Parlament, sondern von Bürokraten in Brüssel gefaßt werden könnten. Und Generationen in Großbritannien sind nun einmal im Glauben an die Suprematie des Parlaments von Westminster aufgewachsen.
Die Gefahr ist, daß eine Reihe solcher Fragen die Opposition gegen Großbritanniens EWG-Beitritt verstärken und seine Freunde in Europa verärgern könnte. Eins ist sicher: Wenn Spannungen vermieden werden sollen, dann müssen beide Seiten Verständnis und Takt zeigen. Ohne Zweifel geht Großbritannien einer Zeit schmerzlicher Umstellung entgegen. Immerhin Vertritt die Labour-Opposition in der EWG-Frage im Grunde genommen aber keine völlig ablehnende Haltung, sondern eher eine abwartende; und die Regierung hofft und glaubt, daß die Öffentlichkeit im Laufe der Zeit eine positivere Einstellung zur EWG zeigen wird, sobald sich klar erkennen läßt, daß die Vorteile der Mitgliedschaft die Nachteile überwiegen.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!