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Krankensaal Europa

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Europa hat um ein weiteres Minderheitskabinett mehr. Es wurde nun doch nicht vom großen Wahlverlierer Heath, sondern vom Führer der stärksten, wenn auch nur um ganze fünf Sitze stärkeren Partei gebildet. Daß nicht Heath, sondern Wilson in Downingstreet 10 residieren ward, ist nur gerecht, denn immerhin sind bei der Beurteilung des britischen Wahlergebnisses nicht nur die Stimmen- und Sitzeanteile zu berücksichtigen, sondern auch die Ausgangslage, aus der sie erzielt wurden, die Mandats Verluste beziehungsweise -gewinne der Parteien.

Aber Wilson wird in Downingstreet 10 aus dem Koffer leben müssen. Die Delogierung über den Stimmzettel hängt wie ein Damoklesschwert über seinem Haupt.

Damoklesschwerter hängen aber auch, und vor allem, über Europa. Für England bedeutet Wilsons Ministerpräsidentschaft zweifellos, daß jetzt der einzige Mann das Sagen hat, der noch mit den Gewerkschaften, und hier in allererster Linie mit den Bergarbeitern, sprechen kann. Der Mann, der sich ihnen gegenüber nicht festgelegt hat und daher alle Voraussetzungen mitbringt, Großbritannien zurück in eine normale Arbeitswoche zu führen, zurück in die zweifelhafte Normalität des britischen Krisenalltages.

Die Erfahrungen mit Heath haben auch gezeigt, daß, wenn irgendjemand, dann der Labour-Chef den Gewerkschaften Zugeständnisse abzuringen in der Lage ist — wenn auch sehr geringe Zugeständnisse, wie Wilson, als er seinerzeit an der Regierung war, erfahren mußte. Seither ging es aber mit Englands chaotischer Sozial-„Partnerschaft“ so steil bergab, daß die Rückkehr zu Verhältnissen, wie sie zur Zeit von Wilsons Abgang und Heath' Einzug in der Downingstreet geherrscht haben, bereits als Erfolg zu feiern wäre.

Vor allem aber: Wie immer es damals auch wirtschaftlich aussah — die Widerstände, die sich seinerzeit in der Labour Party gegen Englands EWG-Beitritt regten, hatten noch nicht ein Ausmaß erreicht, das Wilson zum Getriebenen in der EWG-Frage machte. Genau das aber ist er heilte. Und deshalb steht zu befürchten, daß der größte Verlierer dieser Unterhauswahlen nicht Heath, sondern die EWG sein wird. Denn Europa hat — im Gegensatz zu einem Parteiführer, der ganz gute Chancen hat, ein Comeback als Premier zu feiern — Unwiederbringliches zu verlieren. Und dies in einer ohnehin fast schon katastrophalen Situation.

Europa, das heißt heute nicht nur ein schriller Mißklang als Ende des Versuches, „mit einer Stimme“ zu reden, heißt nicht nur Triumph der nationalen Egoismen, Triumph der Kurzsichtigkeit, bedeutet nicht nur den großen internationalen Scherbenhaufen. Europa heißt heute leider auch und vor allem eine Versammlung nationaler, staatlicher politischer Trümmerfelder. Die Be-skschungsgelder der ölkonzerne haben Italien in ein Chaos gestürzt — eine arbeitsfähige Regierung ist hier nicht abzusehen. In der Bundesrepublik hat Willy Brandt in den letzten Monaten so viel von seinem politischen Glamour eingebüßt, daß die SPD-Niederlage in Hamburg nur bestätigte, was klar zu sehen war — die SPD wird viel tun müssen, um sich an der Regierung zu halten. Regierungskrise in Belgien, in Dänemark eine labile Minderheitsregierung — in Frankreich gerade eine ausgestandene Regierungsumbildung — Europa ein politischer Krankensaal; und der zusetzt eingelieferte englische Patient ist ein besonders schwieriger Fall.

Denn es ist zweifelhaft, ob ein starker Harold Wilson stark genug gewesen wäre, England in die Nor-inalität zurückzuführen und zugleich die EWG-Gegner in seiner Partei vom Äußersten zurückzuhalten. So wie die Dinge jetzt liegen, ist abzusehen, was geschieht: Großbritannien wird in Brüssel Forderungen stellen, die die EWG bis zum Zerreißen beanspruchen. Wo Frankreich „nur“ obstruiert, ist von Großbritanniens Korrekturwünschen die Erschütterung der EWG-Grundsätze zu befürchten. Einige Alleingänge Frankreichs in der Energiefrage mögen durch das Verhalten der anderen EWG-Partner provoziert worden sein, Frankreichs Haltung in der EWG war bislang stets von der Ratio des nationalen Eigennutzes bestimmt. Es steht zu befürchten, daß Großbritannien nun die Situation durch emotionelle Faktoren im negativen Sinne bereichert.

Ein starker Willy Brandt hätte, als Sozialist zum Sozialisten, in England möglicherweise die Stimme der Vernunft erheben können. Ein schwacher Willy Brandt hat andere Sorgen als eine so heikle, vom Scheitern bedrohte außenpolitische Mission. Ein starker Wilson könnte es sich möglicherweise leisten, die Stimme der Vernunft zu hören. Ein schwacher Wilson kann nur von heute auf morgen taktieren, um zu überleben.

Die Konservativen allein können ihn nicht stürzen — er allein kann kein Gesetz durchbringen. Bleiben die Liberalen als Zünglein an der Waage. In den nächsten Wochen könnte das Schicksal der EWG in der Hand dieser Mini-Fraktion liegen — vorausgesetzt, sie machen das Überleben der Regierung Wilson davon abhängig, daß Wilson die EWG leben läßt. Und vorausgesetzt, daß sich Wilson diesen Kompromiß innerparteilich leisten kann.

Lange wird Englands jetziger Zustand schwerlich dauern — Wilson wird versuchen, einen spektakulären Auftakt zu setzen, um in einem für ihn günstigen Moment Neuwahlen provozieren zu können, die Opposition wird auf einen Augenblick der Schwäche lauern. Was immer geschieht: es wird Europa betreffen.

Europa lebt gefährlich in diesen Tagen.

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