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Bipolarer Konsens - plus Imponiergehabe?

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Noch geblendet vom Glanz der Veranstaltung und ein wenig ratlos, ja bedrückt wegen des vergleichsweise eher bescheidenen Ergebnisses reiste die stattliche Hundertschaft an Berichterstattern vom Kongreß der „Sozialistischen Internationale“ in Wien wieder heim. Nun, es liegt wohl sowohl am Wesen einer solchen Veranstaltung als auch in der Absicht der Veranstalter, der Welt zu zeigen, was der Verhaltensforscher das „Imponiergehaben“ nennt. Der prächtige Aufzug einer Schar Premierminister, einer mittleren Kompanie Regierungsmitglieder, einem Trupp hochbedeutsamer Oppositionsführer, Parteichefs, Experten, Parlamentarier, Hochfunktionäre und auch der unvermeidlichen „grauen Eminenzen“ dient sicherlich nicht in erster Linie der gemeinschaftlichen Diskussion und Problemlösung; er dient vielmehr dem Zweck, der geographischen und politischen Umwelt einen gehörigen Eindruck von Glanz, Macht und Masse zu machen. Das ist übrigens durchaus legitim.

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Noch geblendet vom Glanz der Veranstaltung und ein wenig ratlos, ja bedrückt wegen des vergleichsweise eher bescheidenen Ergebnisses reiste die stattliche Hundertschaft an Berichterstattern vom Kongreß der „Sozialistischen Internationale“ in Wien wieder heim. Nun, es liegt wohl sowohl am Wesen einer solchen Veranstaltung als auch in der Absicht der Veranstalter, der Welt zu zeigen, was der Verhaltensforscher das „Imponiergehaben“ nennt. Der prächtige Aufzug einer Schar Premierminister, einer mittleren Kompanie Regierungsmitglieder, einem Trupp hochbedeutsamer Oppositionsführer, Parteichefs, Experten, Parlamentarier, Hochfunktionäre und auch der unvermeidlichen „grauen Eminenzen“ dient sicherlich nicht in erster Linie der gemeinschaftlichen Diskussion und Problemlösung; er dient vielmehr dem Zweck, der geographischen und politischen Umwelt einen gehörigen Eindruck von Glanz, Macht und Masse zu machen. Das ist übrigens durchaus legitim.

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Diesen Zweck hat die Wiener Sozialistenkonferenz sicherlich erreicht, obgleich sie unter dem Schatten inflationärer Währungskrisen stand, die nach Lage der Dinge heute so vielen sozialdemokratischen Parteien und Regierungen verantwortlich zugeschrieben werden. Große politisch-konzeptive Ergebnisse waren von dem festlichen Auflauf nicht zu erwarten, zumindest nicht vordergründig sichtbare. Statt wirklicher Diskussionen gibt es so wo eben Referate, oft brillant formulierte, aber irgendwie und irgendwo schon oft gehörte Deklamationen und zum Schluß endet das nach unvermeidlichem Ritus in Resolutionen. Schön war's, gut war's, nett war's!

Historischer Stil

Würde man allein diesen Showeffekt im Auge behalten, als dessen unübertrefflicher Regisseur und Selbstdarsteller sich Dr. Kreisky wieder einmal mehr bewährte, würde man zugleich das Ereignis unzulässig verharmlosen. Denn schon der bloßen Heerschau europäischer Sozialdemokratie kommt in einem vorgeburtlichen Zeitabschnitt der Europäischen Sicherheitskonferenz eine gewisse bildhafte Bedeutung zu. Die eigentlichen Essenzen, das weiß man ja, werden in kleineren Kreisen (in Igls etwa oder anderswo) gemischt.

Immerhin vermittelte dieser sozialistische Wiener Kongreß, der sich mitunter in der Tat sehr um historisehen Stil bemühte, auch andere, bildhafte Eindrücke, die wiederum ausleuchtende Schlüsse zulassen. Zunächst das eine: die marxistisch-wissenschaftlichen Theorien und Thesen und die Frage, wo Sozialdemokraten diesen folgen, wo sie sich davon abbheben oder entfernen, spreiten eine geringe Rolle. Dort, wo sie gestreift oder angezogen wurden, handelte es sich bloß um beiläufige Untermalung aktueller, ja, oft nur von Tagespolitik. So blieb dem unvoreingenommenen Beobachter der Eindruck eines allgemeinen Konsensus gewahrt, was ja wohl auch die Absicht gewesen sein dürfte.

Und doch — an wichtigen Positionen und Postulaten löste sich dieser

Konsens sehr rasch in Bipoiaritäten auf, deren Spannweite beachtlich ist. Diese Bipolarität scheint der Sozialdemokratie entgegen aller anders lautenden Behauptungen inhärent zu sein, besonders, seit sie infolge fortgeschrittener Qualitäten und Quantitäten — nach ihrer Lehre zwangsläufig — von den berühmten „inneren Widersprüchen“ geplagt und gezwickt wird. Dafür einige typische, ja sogar warnende Beispiele geboten zu haben, ist ein wenn vielleicht auch nicht beabsichtigtes, so doch bemerkenswertes Ergebnis dieses Kongresses.

Das wurde deutlich bei der Frage sichtbar, ob die Sozialdemokratie sich politisch gegen den Kommunismus tatsächlich abgrenzen läßt, und wenn, dann wo und wie.

Als scharf formulierende Abgren-zer traten besonders Willy Brandt und Bruno Kreisky hervor, wenn letzterer auch durch einige elegante Verklausulierungen deutlich machte, daß er die noch kürzlich von ihm abgelehnte „Konvergenztheorie“ heute nicht mehr so obsolet findet. Gegen die beiden stand, hätte er nicht gesprochen, dann eben als stummer Zeuge etwa Mitterand. Er kam nach Wien, unmittelbar nachdem er in Paris mit der KPF in allen Punkten einig geworden war und einen Wahlkampfpakt sowie im (Zu-)Falle eines Sieges auch schon ein Regierungsbündnis samt Regierungsprogramm abgeschlossen hatte. Das wichtigste daraus: gemeinsame Sozial-, Innenund Außenpolitik, gemeinsame Wirtschaftspolitik, mehr Verstaatlichung als je zuvor, ernsthafte und nachdrückliche Bemühungen in gesell-schaftsverändernder Richtung — und, was für die erklärten „Europäer“ unter den Sozialdemokraten noch manches Problem aufwerfen wird: Frankreich soll, regiert von KPF und Sozialisten, in der EWG verbleiben und auch im Atlantikpakt, denn es komme darauf an, diese Systeme sozusagen „vom Kern her zu verändern“. Man wird gebeten, seiner Phantasie sehr freien Lauf zu lassen!

Entgegengesetztes repräsentierten die Gäste aus Italien: hier die sozialdemokratische Saragat-Gruppe, allem Techtelmechtel mit der KPI abhold und nur korrekt demokratischen Gesellschaftsformen zugetan und daher wieder in des Christdemokraten Andreotti ein wenig nach rechts gerücktes Kabinett eingetreten — da die vergrämten Sozialisten De Mar-tinos, die nach wie vor Linksbündnissen bis zu den Kommunisten hin, vor allem auf „unteren und mittleren Ebenen'“, den Vorzug geben und daher die Regierungs- mit der Oppositionsbank tauschten. Da wird fein säuberlich und offiziell getrennt sichtbar, was anderswo in der Partei verdaut werden muß, die dann sehr oft wie wild mit allen Flügeln um sich schlägt.

Veränderung der EWG

Sehr unterschiedlich ist auch die Einstellung zur EWG. Bruno Kreisky malte diese in den schönsten Farben eines unbedingten Bekenntnisses. Pittermann schwärmte von der Rolle des „gesellschaftlichen Transformators“ und rief angestrengt zur „Verteidigung der bisherigen Verstaatlichung und zu deren Ausweitung“ auf, wozu Kreisky kein glückliches Gesicht machte. Auch Pittermann will natürlich die EWG-Gesellschaft gründlich verändern, wie gründlich, ließ sich aus mitunter brillanten, aber im Grunde bloß Agitation treibenden Formulierungen nicht ausmachen.

Brandts EWG-Bekenntnis war echt und an jenem der Benelux-Soziaii-sten läßt sich kaum zweifeln. Dunkel hingegen war der Rede Sinn, wenn Harold Wilson, wenn Norweger oder Schweden darüber sprachen.

Die oft berufenen Länder der „Dritten Welt“ kamen nicht recht zu Wort. Die Sozialdemokraten Asiens hatten ihren Kongreß schon abgehalten und mußten wegen Geldmangels daheim bleiben; aus Afrika und Südamerika waren nur spärliche Delegationen und einige Telegramme eingelangt. Wohl auch deswegen, weil sich dort allerhand Parteien sozialistisch und sogar demokratisch nennen, beides aber — auch nach Auffassung der SI und ihres Vorsitzenden Pittermann — nicht sind. Größere Aufgebote hätten durch Theorienstreit den mattpolierten Konsens doch nur getrübt. Das alte Lied: Väter und Söhne!

Frau Golda Meir, aus deren Augen zweitausendjährige Weltweisheit blickt, steuerte einen erfrischend mutigen Aspekt bei. „Man soll nicht verlangen, daß die Alten mit allem einverstanden sein müssen, bloß weil junge Leute es vorbringen!“ Dabei wirkte sie unverdächtig und unverdrossen. Das war gewissermaßen eine „Stimme von der Front“.

Mit Bruno Kreisky stimmte sie darin überein, daß die europäische Sicherheit von der des Nahen Ostens nicht zu trennen sei; und weil sie dem Bundeskanzler, der darüber schon oft und manchmal sehr zum Mißvergnügen der Moskauer Stirn-gerunzei rapportierenden Diplomaten seine Meinung geäußert hatte, zugleich herzlich für Österreichs in diese Richtung weisenden Initiativen dankte, wurde ein Stück offizieller Außenpolitik sichtbar, von dem bisher vielleicht nur einige wenige etwas wußten oder ahnten. Francops Mitterand zeigte sich eher reserviert und man muß nicht erst raten, warum — der Pakt mit der KPF! Andere Sozialdemokraten auch. Dennoch zeigte sich sogar an den beiseite gesprochenen Bedenken und Antireaktionen, wie weit Kreiskys mitteleuropäische Führungsrolle bereits gediehen ist. (Nun wäre wohl wieder eine Parlamentsdebatte über Österreichs Außenpolitik angebracht, oder nicht?)

Nachdem man lange und häufig und auch äußerst stilvoll in kleinen oder größeren Kreisen (wobei die kleinsten zumeist nur den Größten zugänglich blieben) diniert, geluncht und gefrühstückt hatte, begab man sich auch in die Stadthalle, um jener „Wienerinnen und Wiener“ ansichtig und von diesen gesehen zu werden, von denen die „AZ“ in dosierter Verhüllung einer Großkundgebung der Wiener SPÖ gesprochen hatte.

Irgendwann passiert immer was! Einem erfolgsgesättigten Bruno Kreisky schließlich der schlechte Gag: „Da haben wir immerhin einiges zusammengebracht. Da können die anderen nicht mithalten. Die haben höchstens ein paar Calafattis.“

Das ist von einem „großen Staatsmann“ (frei nach Richard Nixon) nicht besonders fein ausgedrückt. Besonders wenn man bedenkt, daß er eine ganze Anzahl solcher „Calafattis“ erst kürzlich aufsuchte, um sie als EWG-Nothelfer für Österreich einzustimmen — und auch nicht darauf vergißt, daß er im Laufe seiner Regierungszeit wohl noch oft mit diesen „Calafattis“ zu tun haben wird.

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