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Visionen in Igls

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Beobachter wußten zu registrieren, daß Italiens erst kürzlich aus dem Amt geschiedener Staatspräsident Giuseppe Saragat zwischen Artischocken und Kalbsrückensteak ä la Othello Karl Marx zitierte. Daß die Geschichte keine Probleme aufgäbe, die nicht gelöst werden könnten, war auch offensichtlich die Spruchweisheit des gesamten Treffens der Sozialdemokraten aus vier Alpenländern in Igls bei Innsbruck — ein Ereignis, das allerdings über den rein protokollarischen Teil weit hinausging.

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Beobachter wußten zu registrieren, daß Italiens erst kürzlich aus dem Amt geschiedener Staatspräsident Giuseppe Saragat zwischen Artischocken und Kalbsrückensteak ä la Othello Karl Marx zitierte. Daß die Geschichte keine Probleme aufgäbe, die nicht gelöst werden könnten, war auch offensichtlich die Spruchweisheit des gesamten Treffens der Sozialdemokraten aus vier Alpenländern in Igls bei Innsbruck — ein Ereignis, das allerdings über den rein protokollarischen Teil weit hinausging.

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Bieten sich angesichts der Prominenz durch awei amtierende Regierungschefs, ein Staatsoberhaupt, das vor noch nicht einmal einem Vierteljahr aus dem Amt schied, einem Vizepremier, der erst seit einem Monat eine Regierung verließ, (weil sie sich auflöste) und einen Parteichef, dessen engster Mitarbeiter derzeit Außenminister ist, Spekulationen an, so verdunkelt doch auch die offizielle Themenstellung weithin den Kern der Sache. Österreichs Bundeskanzler hatte schon vor Monaten die Idee einer ,Alpenregion“ nach dem Muster der Beneluxstaaten zur Diskussion gestellt, bei dieser Gelegenheit auch von einer Einbindung Jugoslawiens gesprochen (was nunmehr Deutschlands Bundeskanzler Brandt im Hinblick auf „Donauinteressen“ nicht ausschloß) und auch skandinavische Genossen mit der Idee vertraut gemacht. Das Treffen von Igls markiert also vorläufig bereits ein Realisierungsstadium auf höchster Ebene, dessen Bedeutung offensichtlich von den sonst heftig kämpfenden Oppositionsparteien übersehen wurde und denen etwa CDU und ÖVP nur einen mageren gleichzeitigen Bonn-Besuch Doktor Schleinzers entgegensetzen können — der im Ergebnis nur den Wunsch nach mehr christdemokratischen Kontakten an die Öffentlichkeit brachte.

Sozialdemokraten schalten offensichtlich rascher, und vertrauen auf die Eigengesetzlichkeit eines am Neuen stets orientierten Journalismus, dem man Absichtserklärungen schon oft als Leistungserfolg offerieren kann. Tatsächlich ist die „Alpenregion“ in verschiedener Hinsicht eine Angelegenheit mit Fragezeichen. Man muß die Unterschiedlichkeiten Revue passieren lassen, in der die Länder der vier Bruderparteien stecken:

• Italiens primäre Interessen sind nach wie wie vor am Mittelmeerraum orientiert. Die NATO- und EWG-Zugehörigkeit bindet das Land eindeutig an die westliche Allianz. Allerdings läuft Italien Gefahr, gerade nach der Erweiterung der EWG stärker als bisher an den Rand der europäischen Dynamik gedrängt zu werden. Dafür erschüttern das Land schwere politische und soziale Krisen — und man behauptet nicht zuviel, wenn man sagt, daß die strukturelle Krise der demokratischen Parteien den Kommunisten vor der Tür entgegenkommt.

• Die Bundesrepublik wiederum ist geographisch in das Europa nördlich der Alpen integriert, politisch als NATO-Staat exponiert, wirtschaftlich der verdächtigte und beargwöhnte Riese. Die Hektik der Ostverträge läßt kritische Stimmen im Westen hörbar werden; und innenpolitisch kann niemand sagen, wie lange sich die Sozialdemokraten am Ruder halten — vor allem auch, wie sich die „Krücke“ FDP als Koalitionspartner auf Zeit am Leben erhält.

• Die Schweiz pflegt trotz zunehmender häuslicher Kritik eine Neutralität eigenen Stils, die selbst die UNO-Mitgliedschaft ausschließt, und •betont immer wieder, daß ein Arrangement mit der EWG keine Frage um jeden Preis sei. Die institutionalisierte Koalition macht es auf Dauer den Schweizer Sozialdemokraten unmöglich, einen alleinbeherrschenden Einfluß auf die Außenpolitik zu erlangen.

• Und da ist Österreich: Aufs stärkste als Land am Alpenkamm an Kontakten mit West und Ost, Süd und Nord interessiert; in seiner Neutralität militärisch so gut wie ungeschützt, wenngleich andersartig aktiv in UNO und Europarat. Vor allem aber latent vom Osten verunsichert, auf ein Arrangement mit der EWG für die Wirtschaft aber dringend angewiesen. Innenpolitisch darf sich die SPÖ vorläufig auf eine solide und auf dem Polster der Popularität ruhende Mehrheit verlassen, die Kreisky auch Rückenfreiheit in seiner Außenpolitik läßt.

Tatsächlich ist der Chef des Wiener Ballhausplatzes der interessierteste Partner des Gesprächs von Igls gewesen. Seine Überlegungen über mögliche „Absicherungen“' und sogar instituionalisierte Kontakte machen den Plan der „Alpenregion“ für Österreichs Außenpolitik sympathisch.

Anderseits muß aber angemerkt werden, daß regionale Zusammenschlüsse nur dann eine bindende Wirkung haben, wenn handfeste politische (nicht nur parteipolitische!), wirtschaftliche oder militärische Überlegungen Pate stehen. Die Beneluxkontakte sind bereits längst von den EWG-Kontakten überholt, der Nordische Rat hatte so lange eine vorrangige Berechtigung, als alle Partner außerhalb der größeren Gemeinschaft standen. Wie das Schicksal dieser skandinavischen Vereinbarung aussieht, wagt heute an Ost- und Nordsee niemand zu prophezeien. Der Balkanpakt von 1953 ist längst an den Realitäten zerbrochen. Und selbst die deutschfranzösische Aussöhnung, von Adenauer und de Gaulle als „Achse“ zwischen Paris und Bonn gedacht, wurde leider angesichts unterschiedlicher Interessenslagen zu einer Pflichtübung der Kontakte und nicht viel mehr.

Die Geographie allein ist also noch kein Kitt; und offenbar hat von allen europäischen Vereinbarungen und Vertragswerken nur die EWG alle an Bedeutung übertroffen, weil sie von Haus aus politische und wirtschaftliche Ziele anpeilte und überdies ein solides, wenn auch kompliziertes Gerippe besaß. Die „Alpenregion“ kann aber nur ein ganz loses visionäres Forum sein: immerhin würde der reichste und größte Staat Europas mit dem Schlußlicht der EWG überhaupt erst eine zusätzliche Basis der Gemeinsamkeit suchen müssen; ebenso wie der reiche Kleinstaat Schweiz mit seinem schwächeren Nachbarn Österreich. EWG- und NATO-Staaten aber sitzen mit Neutralen unterschiedlicher Konzeption an einem Tisch.

Damit bleibt das Gespräch in Igls der Ansatz für ein sozialistisches Kontaktforum in Europa, zu dem andere stoßen und das vielleicht eine eigene Rolle in der Internationale spielen könnte. Daß es in einem solchen Forum dann auch zu Meinungsaustausch und Abstimmung in Fragen der Europapolitik kommen wird, daß Fragen wie Sicherheitskonferenz und deutsche Ostverträge, Abrüstung und EWG-Erweiterung ihren Stellenwert finden, liegt nahe.

Dr. Kreiskys gerade in Igls angekündigte Europareise in die Hauptstädte der EWG zeigt die Richtung an. Die Rückendeckung aus Bonn und Rom sowie die Kenntnis der Meinung aus Bern wird ihm nützen.

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