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Todesurteil für Millionen Bauern?

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Immer mehr produzieren, um bei gleichbleibenden, ja teilweise sinkenden Erzeugerpreisen die ständig steigenden Produktionskosten wettzumachen — so lautet seit Jahren die Parole der Landwirtschaft in Österreich, in seinen Nachbarländern, in Europa und darüber hinaus. Mit zunehmender Industrialisierung ist die „Preisschere” überall zum Schreckgespenst für die Landwirtschaft geworden, deren todbringendem Zuschnappen man sich nur durch weitere Produktionsanstrengungen entziehen zu können scheint. Auf diese Weise wächst die Erzeugung und wachsen allmählich auch die Überschüsse. Die Sicherung des Absatzes wird zu einer Lebensfrage für die Bauern, der Kampf um den Markt zu einem Existenzkampf.

Der traditionelle Absatzmarkt für den Export der österreichischen Land- und Forstwirtschaft liegt vorwiegend in jenen Ländern, die sich nun zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zusammengeschlossen haben. Dorthin gingen — und gehen vorläufig noch immer — rund 80 bis 90 Prozent der land- und forstwirtschaftlichen Ausfuhrerzeugnisse Österreichs. Vor allem die viehzüchtenden und holzreichen Alpenländer sind es, die von der Konjunktur keineswegs besonders begünstigten Bergbauern, deren wirtschaftliche Situation von det Aufrechterhaltung und Pflege dieser Exportwege maßgeblich beeinflußt wird. Es ist daher nicht verwunderlich, daß seit geraumer Zeit, bis herein in die jüngste Vergangenheit, auch in den Kreisen der österreichischen Landwirtschaft immer wieder Stimmen laut geworden sind, die sehr nachdrücklich für ein möglichst rasches und enges Zusammengehen mit der EWG plädierten. An warnenden Gegenstimmen fehlte es ebenfalls nicht.

Fanatismus unangebracht.

„Es gibt EWG-Fanatiker und es gibt EFTA-Fanatiker”, sagte dazu erst kürzlich Landwirtschaftsminister Diplomingenieur Hartmann, ,,jnit Fanatismus sind jedoch diese Fragen nicht zu lösen. Die Integration ist auch.jpr die Landwirtschaft keine Einbahnstraße, auf der es keinen Gegenverkehr gibt.”

Diese Feststellung traf der österreichische Landwirtschaftsminister nicht etwa im vertraulichen Zwiegespräch, sondern in Anwesenheit des EWG- Vizepräsidenten und Vorsitzenden der Landwirtschaftskommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Minister a. D. Dr. S. L. Mansholt, und im Beisein führender Bauernvertreter aus allen österreichischen Bundesländern. Hartmann hatte den Schöpfer des Planes für die gemeinsame Agrarpolitik der EWG zu diesem Gespräch eingeladen. Wenn es dabei seine Absicht war, Fanatiker jeglicher Art durch Tatsachenberichte und Feststellungen aus berufenem Munde zunächst einmal wenigstens nachdenklich zu stimmen, dann dürfte dieses Ziel zweifellos erreicht worden sein. Mansholts Ausführungen waren klar, eindeutig und unmißverständlich. Sie lauteten auch für die Agrarpolitik der EWG: nur wer bereit ist, die Opfer, die wir uns damit auferlegen, mitzumachen, der wird auch unbeschränkt an den zu erwartenden Vorteilen teilhaben können. Und daß die erwähnten Opfer keine geringen sein werden, müssen selbst die begeistertsten EWG- Verehrer deutlich erkennen.

Es läßt sich jedoch nicht bestreiten, daß die Gestalt der europäischen Landwirtschaft von morgen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bereits entscheidende Formen anzunehmen beginnt. Gleichgültig, ob uns diese Gestalt nun gefällt oder nicht, sie wächst und wirft ihre Schatten schon jetzt auf den kleinen österreichischen Nachbarn. Somit bleibt unseren Bauern nur die Wahl, sich für eine dauernde Schattenstellung einzurichten oder auf ihre Weise mit der Entwicklung Schritt zu halten, um ihren bescheidenen Platz an der Sonne nicht unwiederbringlich zu verlieren, ehe die europäische Integration endgültige Formen angenommen hat.

„Preisschere” auch in der EWG

Vizepräsident Dr. Mansholt hat im Laufe der Wiener Gespräche immer wieder versichert, daß die EWG- Agrar- und -Wirtschaftspolitik keines wegs eine Agrarautarkie für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft anstrebe. Auch die traditionellen Handelswege für den österreichischen Agrarexport würden also nicht versperrt werden. Für die weitere Pflege dieser Exporte konnte der österreichische Landwirtschaftsminister sogar konkrete Zusagen erhalten. Wir haben keine Ursache, am guten Willen der EWG-Agrarfachleute und an ihrer Bereitschaft zum Entgegenkommen zu zweifeln. Es ist jedoch auch nicht zu übersehen, wie sehr innerhalb der EWG selbst die Landwirtschaft zu Produktions- und Produktivitätssteigerungen gezwungen ist, um dem Druck der „Preisschere” entgegenzuwirken. Für zahlreiche Erzeugnisse der Landwirtschaft ist darum schon heute in der EWG keinerlei Einfuhrbedarf mehr vorhanden, für viele Produkte wird es morgen so weit sein, und selbst die Sorge mit Agrarüberschüssen in einem und dem anderen Produktionszweig ist im Raum der Wirtschaftsgemeinschaft spürbar. Die gemeinsame Agrarpolitik sieht daher große Umstellungsmaßnahmen vor, deren Ziel es nicht zuletzt ist, die Produktion der Landwirtschaft den Absatzmöglichkeiten anzupassen.

Noch viele Opfer und Schwierigkeiten

Daß es bis zur Erreichung des gesteckten Zieles der EWG-Agrarpolitik noch viele Opfer und Schwierigkeiten geben wird, ist auch dem Nichtfachmann verständlich. Aber man meint, mancher dieser Schwierigkeiten in gemeinsamer Arbeit weitaus leichter Herr werden zu können, als im Rahmen einzelstaatlicher Bemühungen. Dabei spielt die Hoffnung auf einen einheitlichen Absatzmarkt für 170 Millionen Menschen mit steigendem Lebensstandard eine große Rolle.

Mansholt, sein Kabinettschef Mozer und ihre rührigen Mitarbeiter haben in der vergangenen Woche anläßlich einer Informationstagung in Brüssel rund 70 Delegierten aus den EWG- und EFTA-Ländern, darunter auch aus Österreich, einen tiefen Einblick in die Ziele und Pläne ihrer Agrarpolitik gewährt und aus ihren Absichten keinerlei Geheimnis gemacht. Es wurde dort bestätigt, was bereits der Mansholt- Besuch in Wien deutlich offenbarte: Man hält die Anpassung der landwirtschaftlichen Produktion an den Bedarf für unbedingt notwendig und die großen Umstellungserfordernisse, die sich daraus für die gegenwärtige Agrarstruktur ergeben, für unumgänglich erforderlich. Der auch in ihren Mitgliedstaaten unbefriedigenden Situation der Landwirtschaft will die EWG- Agrarpolitik nicht durch preis-, sondern durch strukturpolitische Maßnahmen abzuhelfen suchen. Das heißt, daß durch wirtschaftliche und berufliche Umstellung, durch Zusammenlegung von Klein- und Kleinstbetrie- ben, durch Nebenbeschäftigung in Gewerbe, Industrie und Fremdenverkehr die Zahl der hauptberuflichen Landwirte weiterhin und entscheidend vermindert werden soll, damit die verbleibenden Bauern durch rationelle Wirtschaftsführung und höchste Produktivität ihr Einkommen an jenes anderer Wirtschaftszweige angleichen können.

Gemeinsames Agrarpreisniveau.

Auch die Agrarpreispolitik der EWG wird von manchem der Mitgliedstaaten schwere Opfer fordern. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Agrarpreisniveau will man nämlich von einem gemeinsamen Weizenpreis den Ausgang nehmen, der auf einer mittleren Linie zwischen den gegenwärtig in den verschiedenen Staaten geltenden Preisen liegen soll. Daß sich bei der Verwirklichung dieses Zieles große Schwierigkeiten ergeben werden, ist unschwer verständlich, wenn man bedenkt, welch großer Unterschied etwa zwischen dem Weizenpreis in Deutschland mit 240 Schilling pro 100 Kilogramm und jenem in Frankreich mit 174 Schilling für 100 Kilogramm besteht. Das Heruntergehen auf eine mittlere Linie muß für die deutschen Bauern eine gewaltige Einbuße bedeuten, während anderseits die Preiserhöhung für die Franzosen einen mächtigen Produktionsanreiz darstellt. „Wir haben”, sagt Mansholt, „bei den Grunderzeugnissen nicht ein Festpreissystem vorgeschlagen, sondern unter dem Gesichtspunkt der Verlagerung der Produktion zu den günstigsten Standortsbedingungen ein Richtpreissystem vorgesehen.” — Natürlich bedeuten derartige Pläne nicht gerade Zukunftsmusik etwa für die Landwirtschaft des Bergbauerngebietes. Man ist aber auch weit davon entfernt, das in der EWG etwa zu bestreiten. In Zukunft, so betont man, müssen noch viel weniger Bauern mehr Konsumenten ernähren. Dem hochmechanisierten bäuerlichen Familienbetrieb mit weitgehend spezialisierter, intensivster Wirtschaftsweise gehört die Zukunft, davon ist man überzeugt.

Wie sehr die Dinge in dieser Richtung bereits in Fluß sind, beweist die Tatsache, daß von den etwa 18 Millionen Menschen, die noch 1950 in den Staaten der EWG in der Landwirtschaft tätig waren, inzwischen mehr als dreieinhalb Millionen-zu anderen Berufen abgewandert sind. Diese Entwicklung wird durch die EWG-Agrarpolitik einerseits verstärkt, anderseits aber mit Hilfe erheblicher Umstellungshilfen auch entschärft werden. Ein gemeinsamer Fonds ist dafür vorgesehen, dem Milliardenbeträge zufließen sollen. Regionale Entwicklungs- und Umstellungspläne werden voraussichtlich ganze. Landstriche ihres vorwiegend bäuerlichen Charakters entkleiden.

Unklare Vorstellungen

Natürlich herrschen darüber auch in der Bauernschaft der EWG teils noch unklare Vorstellungen und größte Befürchtungen, besitzen doch mehr als zwei Drittel aller Landwirtschaftsbetriebe der Gemeinschaft nicht mehr als 10 Hektar Grund und Boden. Wo wird künftig die Grenze der Lebensfähigkeit sein? Was gibt es für Um- stellungsmöglichkeiten? Welche Umschulungsmaßnahmen? Wird man wenigstens der Generationenfolge Raum lassen oder wird sich die Entwicklüng überstürzen? Etwa zu Massen bäuerlicher Hilfsarbeiter, zu einem neuen Industrieproletariat?

Immerhin sieht, wie gesagt, die EWG einen Umstellungsfonds mit Bereitstellung von Milliardenbeträgen vor. Auch in der österreichischen Landwirtschaft mit ihrer vorwiegend klein-, mittel- und bergbäuerlichen Struktur sind zur notwendigen Anpassung in zunehmendem Maße gewaltige Umstellungsmaßnahmen erforderlich. Sie wurden durch das Landwirtschaftsgesetz — allerdings mit höchst bescheidenen Mitteln — bereits in die Wege geleitet. Man wird aus wirtschaftlichen, politischen und sozialen Gründen gut daran tun, hier in Zukunft etwas großzügiger bei der Vergebung der Gelder zu sein. Die freigegebenen Counterpartmittel etwa fänden hier eine ideale Verwendungsmöglichkeit.

Die Wirtschaftspolitiker haben gesprochen. Nun wäre höchst wesentlich und interessant zu hören, was die Soziologen zur fortschreitenden und anscheinend unumgänglichen Entbäuer- lichung unserer Wohlstandsgesellschaft zu sagen haben.

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