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Die zweite Etappe

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Wer immer meinte, das schwierige Problem der Landwirtschaft werde die wirtschaftliche Integration innerhalb der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ernsthaft verzögern oder überhaupt scheitern lassen, hat vorerst geirrt. Vorerst, denn die jüngste Einigung der sechs Minister in Brüssel über einen gemeinsamen Agrarplan bedeutet nicht mehr als einen Anfang, der allerdings den Weg für die zweite Etappe des EWG-Planes frei machte.

Wer aufmerksam die Entwicklung in der Sechsergemeinschaft seit Anbeginn verfolgte — aus dem Vertrag allein ist ja noch nicht viel herauszulesen —, wurde durch die Entscheidung in Brüssel kaum überrascht. Wohl türmten sich dort wirtschaftliche Schwierigkeiten und ungelöste Probleme, doch wurden sie durch politische Erwägungen hinweggefegt. Hier zeigte sich wieder einmal ganz deutlich, daß die EWG eben in erster Linie eine politische Gemeinschaft ist. (Es wird gut sein, wenn dies die Neutralen bei ihren Assoziierungsgesprächen immer vor Augen haben.)

4$ Sitzungen und vier Nervenzusammenbrüche

Was bedeutet eigentlich, daß die EWG in das zweite Stadium ihres Entwicklungsplanes getreten ist? Der sogenannte Romvertrag, die „Verfassung“ der EWG, sieht vor, daß die Zollschranken und anderen Handelsbeschränkungen (Kontingente) stufenweise in drei Hauptabschnitten beseitigt werden. Es war ursprünglich geplant gewesen, in den Jahren 1959, 1960 und 1961 die Zölle um je 10 Prozent zu senken. Damit sollte die erste Hauptstufe abgeschlossen sein. Doch war der wirtschaftliche Aufschwung in der industriellen Produktion der EWG so groß, die Zunahme der internen Handelsbeziehungen so beachtlich (34 Prozent des Gesamthandels der Mitgliedstaaten), daß man im Mai 1960 beschloß, den Zollabbau zu beschleunigen. Mit Ende des Jahres 1961 waren daher die Zölle um insgesamt 40 Prozent gesenkt und die übrigen Handelshemmnisse (Kontingente) fast zur Gänze beseitigt. Dies bezog sich aber alles nur auf industrielle Güter.

Die landwirtschaftlichen, seit jeher die Sorge der Nationalökonomie, wurden zu Beginn des EWG-Zeitplanes noch ausgeklammert. Die schwierige Eingliederung der Landwirtschaft in di Integration mußte aber ihre Lösung finden, bevor die zweite Hauptstufe mit 1. Jänner 1962 begonnen werden durfte.

Es ist daher die Freude der Politiker über die erzielte Einigung in Brüssel verständlich, als sie müde, unrasiert, nach einer anstrengenden Nachtsitzung am Morgen des 14. Jänner 1962 jubelnd verkündeten, daß die Landwirtschaft integriert sei. 45 Sitzungen und die physischen Zusammenbrüche von vier Teilnehmern waren dem vorausgegangen.

Der Mansholt-Plan

Das Übereinkommen der Sechs stützt sich auf den sogenannten Mansholt-Plan, dessen Verfasser, Vizeprä-

Das EWG-Dinner — zweiter Gang sident und Landwirtschaftsexperte der EWG-Kommission, zu den fähigsten Köpfen im Apparat der Gemeinschaft zählt.

Es sieht, wie in jedem landwirtschaftlichen Plan üblich, erst einmal ganz allgemein eine Steigerung des landwirtschaftlichen Einkommens, Stabilisierung der Preise, Erhöhung der Produktivität durch Modernisierung der landwirtschaftlichen Geräte usw. vor.

Darüber hinaus aber wird man konkret:

• Für Getreide, Schweinefleisch, Eier, Geflügel, Obst, Gemüse und Wein wurde eine Marktordnung oder zumindest eine Marktregelung getroffen.

• Für Wein wurden Einfuhrkontingente zwischen Frankreich und Italien einerseits und Deutschland anderseits getroffen.

• Lediglich Grundsatzbeschlüsse für eine baldige Marktregelung konnten auf holländischen Wunsch für Milch und Milcherzeugnisse, auf französisches Begehren für Rindfleisch und Zucker und auf italienisches Verlangen für Reis vereinbart werden.

• Der Kartoffelmarkt bleibt vorläufig noch ungeregelt, obwohl man sich nach langer Debatte, ob Kartoffeln eine Art von Gemüse sei, immerhin einigte, daß dies nicht so sei.

Zeichnung: „Daily Mail', London

• Die Wettbewerbsregeln des EWG-Vertrages wurden modifiziert auf die Landwirtschaft ausgedehnt.

• Für bestimmte Gebiete der Ernährungsindustrie dürfen Ausgleichsabgaben eingehoben werden, die einem zu gründenden Fonds zugeführt werden.

Das Tauziehen bei den Verhandlungen erfolgte wie immer in der „Gemeinschaft“ zwischen Frankreich und der Bundesrepublik. Dieses erhofft sich durch eine Öffnung des Marktes eine Milderung der Absatzschwierigkeiten auf dem Agrarsektor. Jene sieht ihre teurer produzierenden und von den natürlichen Gegebenheiten benachteiligten Bauern bedroht. Ein Beispiel bietet der Weizenpreis: in Frankreich S 200.—, in Deutschland S 290.-.

Aber in Paris argumentiert man so: Wir haben in der ersten Etappe unsere Industrie der Konkurrenz der starken deutschen ausgesetzt, ihr müßt loyalerweise nun das gleiche bei der Landwirtschaft machen. Die Deutschen erreichten lediglich eine siebeneinhalbjährige an Stelle der vorgesehenen sechsjährigen Übergangszeit und die Einführung einer sogenannten Schutzklausel.

Die Handhabung dieser ist jedoch letzten Endes nicht Deutschland, sondern der „Kommission“ der EWG überlassen. Innerhalb von vier Tagen hat diese zu entscheiden, ob die Inanspruchnahme der Schutzklausel, die die Bestimmungen des Vertrages auf einem Gebiet und für gewisse Zeit außer Kraft setzen würde, gültig ist oder nicht. Hiermit haben sich die Länder eines Teiles ihrer Souveränitätsrechte begeben, und ihn einer supranationalen Behörde, der „Kommission“, übertragen.

Umflorte Jubelfanfaren

Welche Aussichten eröffnet nun das Brüsseler Übereinkommen für die nächste Zukunft?

Einmal ist es ein nicht zu leugnender Prestigeerfolg für die Sechsergemeinschaft. Dadurch werden die Beitrittsbestrebungen Dänemarks und Irlands, die sich mit Freuden auf den offenen landwirtschaftlichen Markt stürzen werden, sicher bald zu einem positiven Abschluß kommen. Sind aber einmal durch den Beitritt Dänemarks die wenig konkreten Pläne eines gemeinsamen nordischen Marktes gescheitert, wird Norwegen sich auch stark für die EWG interessieren.

Für einen Beitritt Großbritanniens wird sich das Agrarabkommen von Brüssel aber eher hemmend auswirken, da dort die Bedingungen ähnlich wie in der Bundesrepublik liegen. Der teuer produzierende englische Farmer wird wohl alles daran setzen, um seinen Markt gegenüber den EWG-Pröchikten zu schützen. snirl dthsQ

Demgegenüber bedeutet der Eingang in die zweite Etappe, daß von nun an noch mehr ausländische Investitionen innerhalb der EWG vor sich gehen werden. Im Jahre 1950 betrug die Kapitalinvestition in den sechs Ländern 640 Millionen Dollar, im Jahre 1960 bereits 2650 Millionen.

Ein großer Nachteil des landwirtschaftlichen Übereinkommens in der EWG liegt allerdings darin, daß es nur mit einem starken Dirigismus und einem komplizierten Verwaltungsapparat durchführbar sein wird. Tatsächlich ist jetzt ja nur über einen Teil der landwirtschaftlichen Produkte volles Übereinkommen getroffen worden und über die Lösung im Grundsätzlichen. Für die übrigen bedeutet dies nichts anderes als ein Aufschieben der Erledigung. Es ist zweifellos richtig, daß man in keinem Land, auch im wirtschaftlich freiesten nicht, gegenwärtig ohne landwirtschaftliche Lenkung auskommt. Es ist aber abzuwarten, ob nicht das Brüsseler Übereinkommen in seiner Kompliziertheit zu einem Protektionismus führen wird, der wiederum ein Erlahmen der Initiative zur Folge haben kann. Das Bild eines riesigen, schwerfällig arbeitenden, verstaatlichten Warenhauses irgendwo im Osten drängt sich auf.

Ob diese Probleme überhaupt gemeistert werden können, hängt letzten Endes von der politischen Stabilität der beteiligten Länder ab.

Der Schritt in Brüssel zeigt zweifellos Konsequenz und Kühnheit. Für einen Jubelgesang im Lager der EWG aber ist es noch zu früh. Gerade die Sorgen der Landwirte haben schon manche Regierung zu Fall gebracht. Eine Voraussetzung, daß die zweite Etappe gelingt, ist daher die unveränderte politische Linie im Palais Elysee in Paris und Schloß Schaumburg in Bonn.

Nur ein geringes Abweichen davon — und was kann alles in siebeneinhalb Jahren geschehen - könnte das kunstvoll und komplizierte Gebäude des revidierten Mansholt-Planes zum Wanken bringen Ob daher die Entscheidung von Brüssel tatsächlich eine historische war, wie sie in den Hauptstädten der EWG-Länder gefeiert wurde, wird erst die Zukunft erweisen.

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