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England und der Kontinent

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So wie J. W. Stalin unter anderem als der eigentliche Urheber der NATO in die Geschichte eingegangen ist, so ist es unmittelbar auf Nikita Chruschtschow zurückzuführen, daß auf dem Weg zur Einigung Europas Fortschritte erzielt worden sind, die noch vor kurzem als utopisch erschienen wären. Das bezieht sich nicht bloß auf die deutsch-französische Verständigung, für deren Zustandekommen sicherlich nicht der geringste Hinweis in der Vergangenheit der beiden Nationen zu finden war. Kaum weniger überraschend, weil unvereinbar mit traditionellen Grundsätzen der englischen Politik, ist die jetzt in den Gesprächen Macmillans in Bonn bekundete prinzipielle Bereitschaft seiner Regierung, sich den Bestrebungen eines VerbandesJignUnen-taler Staaten anzuschließen, deren erklärtes Ziel es ist, ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit immer enger zu gestalten und mit einer Gemeinschaft auch auf politischem Gebiet zu krönen. Das heißt natürlich nicht, daß die Tatsachen oder Umstände, die sich seinerzeit dem Beitritt Großbritanniens zur EWG in den Weg gestellt haben, plötzlich weggefallen wären; vielmehr sollen sie neuerlich überprüft und dahingehend untersucht werden, ob sie nicht doch die Möglichkeit eines Brückenschlages zu der Gemeinschaft der Sechs in irgendeiner Form offen lassen. Die zuständigen Londoner Regierungsstellen sind mit einer solchen Überprüfung bereits beauftragt.

Da ist zunächst die Frage der britischen Beziehungen zu den übrigen Mitgliedern des Commonwealth. Ein Abgehen vom Prinzip der zollfreien Einfuhr ihrer Produkte in das Vereinigte Königreich würde nicht nur den Zusammenhalt des Commonwealth bedenklich lockern, es würde für die Wirtschaft namentlich der Mitgliedstaaten, die, wie Australien und Neuseeland, zu den verläßlichsten Bundesgenossen und Stützen Großbritanniens und der freien Welt überhaupt zählen, geradezu eine Katastrophe bedeuten. Zu berücksichtigen ist ferner der grundlegende Unterschied zwischen dem in Großbritannien fest verankerten System der Subventionierung der Landwirtschaft aus öffentlichen Mitteln, welches die Lebensmittelpreise außerordentlich niedrig hält, und der Landwirtschaftspolitik der EWG, die es dem Konsumenten überlassen will, im Wege des Verbraucherpreises den Produzenten indirekt zu stützen. Ein weiteres ist die noch durchaus unübersichtliche Entwicklung, die eintreten wird, wenn es den Mitgliedern der EWG ab 1970, wie in den römischen Vereinbarungen festgelegt wurde, verwehrt ist, separate Handelsbeziehungen mit Drittländern zu unterhalten. Für Großjjri^njnjen! dessen Handel sich gegenwärtig zu etwa 84 Prozent mit Ländern außerhalb der EWG abwickelt, würde die Annahme jener Bestimmung jedenfalls sehr weitreichende Folgen haben. Dazu kommt noch, abgesehen von den Interessen der Partner in der EFTA, die unter allen Umständen gewahrt werden sollen, das ungemein schwerwiegende Problem, das mit der Ausdehnung des zu errichtenden politischen Daches der EWG über Großbritannien entstehen würde. Der Gedanke, daß die souveräne gesetzgebende Versammlung von Westminster, die „Mutter der Parlamente“, sich einem Super-parlament gleich welcher Art unterwerfen und des Rechtes verlustig gehen solle, über die Steuer-, Finanz- und Handelspolitik und damit über das wirtschaftliche und soziale Leben der Nation in voller Unabhängigkeit zu entscheiden, ein solcher Gedanke ist der britischen Mentalität noch zu fremd, als daß er überhaupt diskutabel erschiene. Was übrigens für Bundeskanzler Dr. Adenauer kein Geheimnis ist und ihn veranlaßt hat, das Tempo der politischen EWG-Konstruktion ein wenig abzubremsen.

Es ist eine Sache, sich für die Beseitigung kommerziell hinderlicher fremder Grenzen einzusetzen, wie es Großbritannien zum Beispiel im 19. Jahrhundert durch Förderung der Einigungsbestrebungen in Italien und in Deutschland getan hat, und eine ganz andere, an einem Zusammenschluß fremder Staaten in einer Weise zu partizipieren, die einem weitgehenden Verzicht auf wirtschaftliche und politische Selbstbestimmung gleichkäme. Solches ist noch von keiner britischen Regierung auch nur erwogen worden. Wenn Premierminister Macmillan sich trotzdem zutraut, die öffentliche Meinung in Großbritannien allmählich für ein Unternehmen zu gewinnen, welches zu einer historisch erstmaligen Bindung dieses Landes an den Kontinent führen könnte, so wohl in der Überzeugung, daß sein Prestige fest genug fundiert ist, um eine solche Belastungsprobe auszuhalten. Damit hat er wahrscheinlich recht. Daß die von ihm mit einer Moskaureise vor eineinhalb Jahren inaugurierte und dann unermüdlich betriebene „Gipfeldiplomatie“ gescheitert ist, wird ihm in keiner Weise zum Vorwurf gemacht; im Gegenteil, man hält ihm zugute, daß er, zielbewußt und hartnäckig gegen Widerstände auch im eigenen Lager ankämpfend, das Beste getan habe, was westlicher-seits für eine Entspannung überhaupt getan werden konnte, und diese Auffassung ist natürlich geeignet, das Vertrauen in seine weitere Führung zu stärken. In diesem Sinn verspricht auch der eben erzielte Erfolg seines Kolonialministers in der heiklen- Frage Nyassaland zu wirken, und zwar um so mehr, je chaotischer sich die Lage im Kongo und vielleicht noch in anderen Gebieten Afrikas gestaltet, wo unter den früheren Herren wenig geschehen war, um die Selbstverwaltung vorzubereiten. Für die Neuordnung des nyassaländischen gesetzgebenden Rates, wo die Afrikaner zum erstenmal in der Mehrheit sein werden, die volle Zustimmung sowohl des Sprechers des europäischen Bevölkerungsteils, wie des gerade erst aus dem Gefängnis entlassenen Führers der afrikanischen Ultranationalisten, Dr. Hastings Banda, zu erreichen, und dies bei voller Wahrung der Autorität des britischen Gouverneurs, war eine Leistung, auf die nicht allein der Chef des Kolonialdepartements, MacLeod, stolz sein darf.

Indirekt trägt die Verwirrung im sozialistischen Lager dazu bei, die Basis der Kontinentalpolitik des konservativen Premierministers zu verstärken. Daß der Labour-Führung auf der noch immer andauernden Suche nach der Ursache ihrer dreimaligen Wahlniederlage bisher nichts Besseres eingefallen ist, als die Idee, das offenbar mißliebig gewordene Wort „Verstaatlichung“ aus dem Parteiprogramm zu streichen und durch den nicht weniger ominös klingenden Ausdruck „Planung“, im sozialistischen Sinn natürlich, zu ersetzen, und anderseits ihre sichtliche Ratlosigkeit, wo es sich darum handeln würde, zu Fragen internationaler Bedeutung eigenständige, konstruktive Gedanken zu entwickeln, nimmt ihrer Kritik am Regierungskurs viel von der beabsichtigten Wirkung auch im eigenen Lager.

In seiner Unterhausrede vom 25. Juli bezeichnete der damalige Außenminister und jetzige Schatzkanzler Selwyn Lloyd die politische, wirtschaftliche und kommerzielle Einigung Europas kategorisch als einen Wunsch der britischen Regierung. Indes, so erklärte er. gebe es verschiedene Wege zu diesem Ziel. Die einen redeten von Integration, die anderen von Föderation oder Konföderation oder Assoziation, und man sei keineswegs ein weniger guter Europäer, weil man die eine Methode der anderen vorziehe. Das ist eine Formulierung, die bestimmt von der großen Mehrheit des britischen Volkes unterschrieben würde. Wird ein Modus der Einigung gefunden, der der Besonderheit der britischen Lage Rechnung trägt, dann kann sich noch herausstellen, daß sich die Briten von keinem Volk unseres Kontinents an Hingabe für die gesamteuropäische Sache übertreffen lassen.

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