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Vom britischen Kolonialreich zur demokratischen Weltunion?

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Der britische Schatzkanzler Sir Stafford Cripps bekräftigte unlängst in einer Versammlung seine im Jahre 1935 abgegebene Erklärung, die „Liquidierung” des britischen Empires sei ein wesentlicher Programmpunkt des englischen Sozialismus. „Gewiß, das ist es gerade, was wir im Falle von Indien, Pakistan, Burma und Ceylon getan haben”, lautete Sir Staffords Antwort auf die an ihn gestellte Frage.

Der Schatzkanzler hat damit gewiß kein politisches Geheimnis der Labourregierung verraten. Seine hervorragende persönliche Rolle bei der „Liquidierung” des Kaisertums Indien und die Einstellung der Regierungspartei zu den mannigfaltigen Fragen des britischen Kolonialbesitzes und des Commonwealth sind der Öffentlichkeit zur Genüge bekannt. Von größerer Bedeutung ist der Zeitpunkt, zu dem Sir Staffords neuerliches Bekenntnis zur Politik der „Liquidierung” des Empires gefallen ist. Die Existenzfrage des britischen Weltreiches befindet sich gegenwärtig neuerdings in einem akuten Stadium, das Entscheidungen von schicksalhafter Tragweite erheischt. In der kurzen Zeitspanne von drei Jahrzehnten haben sich in seiner staatsrechtlichen Organisation bereits sehr tiefgreifende Wandlungen vollzogen. Aus dem Geschehen des ersten Weltkrieges wurden zwangsläufig nüchterne und realistische Schlußfolgerungen gezogen, die zu einer Umgestaltung des stolzen, einst zentral geleiteten, ungeheuren Kolonialreiches Seiner Majestät in eine weitgehend dezentralisierte Tnteressenvereinigung des englischen Mutterlandes mit den ihm verbleibenden —- und zahlenmäßig ständig abnehmenden — Kronkolonien einerseits und der mit staatlicher Autonomie ausge-, stattpten Dominien andererseits führten. Diese durch das Statut von Westminster (1926) geschaffene weltumspannende Vereinigung ist symbolisch, durch die britische Krone, faktisch aber noch durch dichte Fäden der Tradition und mannigfaltiger ideeller und materieller Interessen zu einer geschlossenen Einheit verbunden. Eine schwere Zerreißprobe hat sie im zweiten Weltkrieg i erfolgreich bestanden. Das Kaiserreich Indien, das seit Jahrzehnten in Unabhängigkeitsträumen fieberte, einst die „Perle” in der Krone der Königin Viktoria, und das seit fast acht Jahrhunderten um seine Loslösung aus dem großbritannischen Königreich kämpfende Irland spielten schon in diesem Wandlungsprozeß Sonderrollen, die die weitere Entwicklung des Empireproblems nachhaltig beeinflussen sollten.

Die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges stehen noch in frischer Erinnerung. Das Kaiserreich Indien wurde — wohl rascher, als es dem Grundsatz erreichter politischer Reife entsprochen hätte — „liquidiert” und in zwei Dominien, Indien und Pakistan, geteilt. Ceylon wurde gleichfalls, nebst anderen Kolonien, der Status eines Dominion zuerkannt. Burma erhielt vertraglich seine völlige Selbständigkeit und schied aus. Damit traten aber dem Commonwealthverband, der bis dahin den Charakter eines weltweiten britischen Staatenklubs getragen hatte, bunte Fremdkörper mit ungeheuren Volksmassen und ungeklärten Zielstrebungen bei. Das britische Element geriet folglich innerhalb des Verbandes gegenüber dem gewaltigen Zuwachs an eingeborenen asiatischen und afrikanischen Völkerschaften in die Defensivstellung zahlenmäßiger Mindethert, die vorerst nodi durch zivilisatorische Überlegenheit und faktische, militärische wie wirtschaftliche Übermacht wettgemacht werden kann. Diese Entwicklung hat aber außerdem noch sehr schwerwiegende Folgen für die Struktur des Commonwealth nach sich gezogen. Eine Reihe von Dominien, unter denen sich Indien, Pakistan, Rhodesien, aber auch die bis zum Sturze des Regimes Feldmarschall Smuts hervorragend loyale Südafrikanische Union befinden, machen aus ihrer Absicht, ehemöglichst ihre Untergebenheit gegenüber der britischen Krone aufzukündigen und — nötigenfalls außerhalb des Commonwealth — ihre volle Selbständigkeit auf republikanischer Basis für sich in Anspruch zu nehmen, kein Hehl. Der irische Freistaat hat seinerseits diesen Schritt eben erst vollzogen. Mit der Bindung durch die Krone fällt aber staats- und völkerrechtlich der Bau des britischen Commonwealth.

Das konstitutionelle Problem wurde, nach übereinstimmender Auffassung der englischen Blätter, durch das Streben Indiens nach Errichtung einer selbständigen indischen Republik aufgerollt. Hierin sekundierten diesem jüngsten Dominion zwei der ältesten Mitgliedstaaten, Südafrika und Irland, in denen bemerkenswerterweise gleichfalls ein innenpolitischer Garniturwechsel vorangegangen war. Über die Beweggründe dieser Dominien, di im Hinblick auf mögliche Beispielsfolgerungen von Interesse sind, urteilt der gewiegte Publizist und Herausgeber des katholischen Wochenblattes „The Tablet”, Mr. Woodruff, folgendermaßen: Indien gebe sich liberalen und fortschrittlichen Gedankengängen hin, die es aus Europa bezogen habe und zu einem Zeitpunkt verwirklichen wolle, da sie auf diesem Kontinent selbst längst überholt seien; in Südafrika habe man es mit einer „postlibenalen Erscheinung mit germanischem Gedankengut” und in Irland mit historisch begründetem Romantizismus zu tun.

In dieser Atmosphäre hat der britische Schatzkanzler seine eingangs erwähnte Erklärung abgegeben und damit auch auf ehe Konferenz der Ministerpräsidenten der wichtigsten Dominien mit der britischen Regierung angespielt, die kürzlich in London stattgefunden hat.” Die Ergebnisse der geheimgehaltenen Besprechungen sind bisher bloß in einem wenig inhaltsreichen Schlußkommunique der Regierung verlautbart worden, hinter dessen Wortlaut sich aber offenkundig außerordentlich gewichtige Auseinandersetzungen über die Grundfragen der künftigen Gestaltung des Commonwealth und über deren politische und wirtschaftliche Auswirkungen für Mutterland und Mitglieder verbergen. Es handelt sich hier nicht um eine innerbritische Familienangelegenheit allein. Von der weiteren Entwicklung dieser die gesamte Welt umspannenden Organisation, vom Grade ihres Zusammenhaltes und von ihren nach außen gerichteten Zielen wird die Stellung des englischen Mutterlandes im entscheidungsvollen Kräftespiel der Weltmächte um die Zukunft Europas ebenso abhängen wie die Geltung der britischen Nation im indischen, pazifischen und atlantischen Raum.

Unter den gegenwärtigen weltpolitischen Verhältnissen ist das Interesse des überwiegenden Teiles der Commonwealthmitglieder, insbesondere und gerade Indiens, Pakistans, Ceylons und des australischen Staatenbundes, an einem starken und wirksamen militärischen Schutz gegen das Vordringen des sowjetrussischen Kommunismus dominierend. Dieser kann ihnen aber ausschließlich von London und seinen Verbündeten gewährleistet werden. Wirtschaftliche und finanzielle Erwägungen dürften auf eine Reihe von Jahren hinaus in die gleiche Richtung weisen und voraussichtlich mit dazu beitragen, überhastete zentrifugale Tendenzen vorerst einigermaßen zu dämpfen. Damit liegen andererseits — unter dem Einfluß noch unabsehbarer Entwicklungen in Europa und im Fernen Osten — die Interessen des britischen Mutterlandes, der übrigen Dominien und Kolonien grundsätzlich parallel. Manche Anzeichen deuten denn auch darauf hin, daß die britische Regierung bemüht ist, Lösungen zu finden, die ein schrittweises Honorieren der freiheitlichen Strebungen der Dominien mit der Aufrechterhaltung eines elastischen und praktisch einsetzbaren einheitlichen Gefüges vereinigen könnten. So hat beispielsweise die Londoner Regierung in ihren letzten offiziellen Auslassungen — zum heftigen Ärger Mr. Churchills und der traditionsbetonten britischen Kreise — das Ad- jektivum „British” sang- und klanglos aus dem Titel des Commonwealth bereits kassiert und — zumindest bisher — Anregungen, die in der Presse auftauchten und die Möglichkeit ventilierten, die Präsidenten von republikanischen Dominienstaatėn mit dem dekorativen Glanz einer persönlichen Stellvertretung des Königs auszustatten, nicht widersprochen.

Freilich könnten dies nur Maßnahmeti provisorischen Charakters sein, um die Schwierigkeiten des Augenblicks zu überbrücken. Der Zug der Entwicklung weist aber unzweideutig in die Richtung der Koordinierung des britischen Commonwealth — als mehr oder minder kompakter Einheit oder seiner verselbständigten einzelnen Glieder — mit den Völkergruppierungen, die sich in noch vagen Konturen am Horizont der Zukunft abzeichnen. Es gilt in vielleicht schon naher Zeit, eine Entscheidung von schicksalhafter Bedeutung für das britische Weltreich, wohl aber auch für die Entwicklung der Weltpolitik za treffen, wie nämlich die Verpflichtungen, die das englische Mutterland, das heißt das Vereinigte Königreich, als einzige derzeit vollwertige Macht Westeuropas bezüglich des europäischen Kontinents einzugehen im Begriffe ist, mit seinen Verpflichtungen gegenüber den Commonwealthmitgliedern in den anderen Weltteilen in Einklang zu bringen sind. Die fernöstlichen Dominien und wohl auch Südafrika sind, wie bereits erwähnt, heute wesentlich daran interessiert, das Mutterland weitmöglich militärisch, politisch und wirtschaftlich gesichert zu wissen. Erklärungen in diesem Sinne scheinen auf der Londoner Konferenz der Ministerpräsidenten abgegeben worden zu sein. Von Seite der Glieder des Commonwealth dürfte demnach bis auf weiteres einer Sonderverpflich- . tung Englands gegenüber Europa — im Rahmen der Westunion — und gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada in einem . kommenden Atlantikpakt kein Hindernis in den Weg gelegt werden. Auf weite Sicht gesehen aber, wird die von maßgeblichen Beobachtern vorausgesehene, rapid fortschreitende „Ent- britannisierung” des Commonwealth — die der vom Schatzkanzler zugegebenen „Liquidierung” sehr nahekommt — allen Teilen des gegenwärtigen Verbandes einschließlich Englands selbst unbeschränkte Handlungsfreiheit verleihen und damit völlig neue Perspektiven eröffnen: die aus dem britischen Kolonialreich hervorgesangene Völkervereinigung des Commonwealth könnte nach ihrer neuerlichen Metamorphose, den Keim einer auf vollkommener Gleichberechtigung ihrer Mitglieder beruhenden demokratischen Weltunion bilden, d’e unter der geistigen Führung Englands alle Kontinente einschließlich Europas mit seinem kolonialen Anhang zu umspannen vermöchte.

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