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Wilsons schwache Nerven

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Premier Harold Wilson haben bisher seine Gegner gute Nerven nachgerühmt. Von Oktober 1964 bis April 1966 hat er mit einer unsicheren Majorität regiert, noch dazu mit einer unvorbereiteten Majorität, beinahe ohne Programm.

Die Seelenruhe und die guten Nerven verließen Harold Wilson nun ganz plötzlich. Seine Partei ging ihm schon manchmal auf die Nerven, einmal waren seine Gegner alte Veteranen der Arbeiterbewegung, dann wiederum junge Rebellen, meistens Leute mit mehr Temperament als klarem Denken, mit mehr Pathos als diskutablen oder gar ernsten Zielsetzungen. Nun zeigte sich endlich ein Feind, den er bisher für unwesentlich halten konnte: das House of Lords, eine uralte Einrichtung Englands, eine fast unsichtbare, aber bei seinen seltenen Auftritten besonders pittoreske Institution. Das Oberhaus hat, mit einer Mehrheit von neun Stimmen, die neue, verschärfte Gesetzgebung über die Sanktionen gegen Rhodesien abgelehnt.

Bekanntlich haben die Sanktionen 1965 angefangen, damals mit konservativer Zustimmung, eigentlich als Fortsetzung einer konservativen Politik. Großbritannien hat seinen Kolonien die Unabhängigkeit grundsätzlich nur unter der Bedingung gewährt, daß in einer Kolonie die neue Regierungsmacht aus dem allgemeinen Volkswillen hervorgeht und keine Volksschichte irgendwie benachteiligt. Man weiß heute, daß den unabhängigen Staaten die Praxis dieser Theorie nicht allzu lange treu blieb. Minderheitsregierungen, Diktaturen,' Sezessionen, Bürgerkriege kamen — alle möglichen Abweichungen von der Theorie. Der wahre Grund, warum Großbritannien die Kolonien nicht weiter verwalten wollte, ist klar: ein moderner Industriestaat kann im späten zwanzigsten Jahrhundert keine Kolonien mehr brauchen. Sie sind mit der Zeit zu einer kostspieligen Belastung geworden. Die Rohstoffe der britischen Industrie kommen aus Staaten, die entweder nie britische Kolonien (aus Brasilien, Argentinien usw). oder schon lange unabhängige Staaten waren (Australien, Kanada usw.); viele kommen aus den Vereinigten Staaten, die Großbritannien an Macht und Weltgeltung schon lange übertroffen haben. Es ist unmöglich, beim Welthandel und Welttransport dieses späten zwanzigsten Jahrhunderts, ein Gebiet vor der Weltkonkurrenz abzuschließen. Einst hat man die Kolonialbevölkerungen als billige Arbeitskräfte gebraucht; jetzt hofft man, daß sie bald, durch erhöhte Lebensansprüche, gute und zahlende Konsumenten für britische Produkte werden.

Da nun Afrika Großbritannien braucht, als Land aus welchem den neuen Staaten die Entwicklungsanleihen zukommen und in welchem manche afrikanische Produkte einen Markt finden, ist es wohl berechtigt, daß Großbritannien weiter einen Einfluß in Afrika ausübt. Nichts ließe dagegen einwenden, daß dieser Einfluß dem Bürgerrecht, der Gleichheit vor dem Gesetz, der demokratischen Regierungsform zukomme, in Rhodesien wie anderswo. Bloß hat die Erfahrung der letzten zweieinhalb Jahre bereits reichlich gezeigt, daß mit Sanktionen gegen Rhodesien dieses Ziel nicht zu erreichen sei und daß die Sanktionen höchstens das Gegenteil solcher Zielsetzung fördern würden, wären sie nicht überhaupt zu lächerlich und wirkungslos. Daß sie es sind, braucht kaum einen weiteren Beweis. Noch hat kein irgendwie ernster Mensch, der das Land kennt, darüber einen Zweifel geäußert. Die „schwarze“ Bevölkerung wird in Rhodesien volles Bür-gerrecht erhalten, wenn die Sanktionen endlich aufhören und die Bedrohung durch afrikanische Demagogie ebenfalls, wenn Ian Smith die Anerkennung der Unabhängigkeit durch Großbritannien durchsetzt und über die künftige beschleunigte oder langsame Entwicklung der rhodesi- schen Verfassung mit Großbritannien eine Vereinbarung findet.

Anerkannte Funktion

Das Votum des Oberhauses hat diese Ansicht ausgedrückt und daraufhin hat Wilson leider dieses Oberhaus mit einer „Reform“ bedroht. So weit hat er zum Glück doch nicht seine Nerven verloren, um von einer „Abschaffung“ zu sprechen, wie manche seiner Parteigänger es tun. Wozu hat England ein House of Lords? Zur Sicherung der Freiheit! Die Lords sind lebenslänglich ernannt, manche von ihnen sind durch ihre Ämter, als Richter oder Bischöfe der Staatskirche, nur auf eigene Bitte pensionierbar. Einige Lordsitze sind erblich, aber bei weitem nicht die Mehrzahl. Dies bedeutet, daß die Lords, im Gegensatz zu Mitgliedern des Unterhauses, unabhängig sind. Ein Mitglied des Unterhauses kann „bedroht“ werden. Gehorcht er der „Parteilinie“ nicht, so wird er bei seiner nächsten Wahlkampagne nicht mehr die Parteifonds erhalten. Aus privaten Mitteln sind Wahlfonds kaum zu haben. Ein Lord braucht nicht wiedergewählt zu werden; ihm kann eine Partei nichts antun. Die Erblichkeit wie die Lebenslänglich- keit eines Oberhaussitzes war stets und bleibt noch heute eine Garantie der Unabhängigkeit — obwohl es zu unserer Zeit nur ganz seltene Fälle gibt, in denen ein Staaitsprozeß dem gerichtlichen Befugnis des Oberhauses unterbreitet wird. Keine größere Gefahr für die Freiheit kennt man aus der Geschichte vieler Völker als die Parteidiktatur.

Wilsons Reformplan will die noch bestehende Erblichkeit einiger Sitze weiter einschränken. Dies würde jedoch die Lage im Oberhaus kaum verändern. Manche erbliche Lords haben bereits auf ihr Erbrecht verzichtet, da sie als Oberhausmitglieder nicht ins Unterhaus gewählt werden können und sie haben den Wunsch im Unterhaus zu sitzen, woher man größere Aussichten auf Kabinettsämter hat. Andere besitzen das Erbrecht, ohne es zu gebrauchen, da sie eine Beschäftigung treiben, die ihnen keine Politik erlaubt. Dagegen gibt es zahlreiche Männer, deren Stimme in öffentlichen Angelegenheiten gehört werden sollte, da sie

Leute von beträchtlicher Erfahrung und Kenntnis sind, die aber unmöglich einen Wahlkampf und nachher ein vollbeschäftigtes Leben im Unterhaus sich leisten können. Ein Professor der Medizin, der Generaldirektor eines großen Industrieunternehmens und ähnliche Leute haben keine Zeit für Wahlversammlungen, sie sind indessen in der Politik oft nützlich, als Wortführer für das Gemeinwohl.

Harold Wilson weiß es. Trotz seiner Verärgerung über eine Abstim-r mung, die übrigens durchaus keine einheitlich konservative war, kann er nicht die Abschaffung einer Institution wünschen, die von den meisten seiner Mitbürger als eine Sicherung der Freiheit betrachtet wird, darunter von solchen, die vielleicht selbst 1971 ihn wiederwählen wollen.

Es gibt Dinge, die man erfinden müßte, sollte sie es nicht bereits geben. Es ist mühsam und schwer, sogar oft unmöglich, Dinge zu erfinden, die man einstmals vernichtet hat. Meistens ist eine zweite Ehe, nach einer gebrochenen, noch schlimmer als die erste war und auf eine erste Scheidung folgt meistens eine zweite, dritte, vierte. Gut sind die Dinge, die man nicht neu erfinden muß, da sie, obwohl von der Vollkommenheit etwas entfernt, bereits bestehen.

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