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Das Veto der Lords

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Das Parlament des Vereinigten Königreiches wird oft als die „Mutter der Parlamente“ bezeichnet, und tatsächlich hat jene, in ihren wesentlichen Zügen seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts bestehende Institution den parlamentarischen Einrichtungen in allen Demokratien jüngeren Datums mittelbar oder unmittelbar als Vorbild gedient. Von der „Großmutter“ wird seltener gesprochen, und doch hatte die Legislative, welche im Jahre 1295 unter Eduard I. von England zum ersten Male zusammentrat, eine Vorläuferin, der sie ihre Entstehung verdankte: die bereits 1258 von Simon von Montfort in Opposition zu König Heinrich III. einberufene Versammlung des hohen Adels und ernannter Vertreter des kleineren Grundbesitzes und einzelner Städte, die ohne Rücksicht auf die königlichen Prärogative das Recht der Gesetzgebung für sich in Anspruch nahm. Die eigentliche Keimzelle des modernen Parlamentarismus ist also in jener „Versammlung der Barone“ oder, wie sie später hieß, im House of Lords, zu erblicken, das in wenigen Jahren sein siebenhundertstes Jubiläum feiern sollte. Ob es zu einer solchen Feier kommen wird, erscheint im Lichte der jüngsten Entwicklung fraglich. Bis zum Jahre 1911 waren die beiden Kammern des englischen Parlaments völlig gleichberechtigt; zur Verabschiedung eines Gesetzes war die Zustimmung beider Häuser erforderlich. Durch die sogenannten Parlamentsakte des genannten Jahres erfuhren dann die Befugnisse des Oberhauses eine wesentliche Einschränkung; wenn das House of Lords einer Vorlage die Zustimmung versagte, so konnte dadurch das Inkrafttreten eines von den Commons beschlossenen Gesetzes nicht mehr verhindert, sondern nur, äußerstenfalls um zwei Jahre, verzögert werden. Die Kürzung dieser Zeitspanne um die Hälfte steht nun unmittelbar bevor; in spätestens einem Monat wird dem König eine mit rückwirkender Kraft ausgestattete Novelle zur Unterschrift vorgelegt werden, welche die aufschiebende Wirkung eines allfälligen Einspruchs der Lords gegen Beschlüsse der Commons mit einem Jahre begrenzt. Daß die Regierung sich dafür entschied, gerade jetzt, in einer Zeit vordringlicher wirtschaftlicher und politischer Sorgen, eine neuerliche Reform des überlieferten Gesetzgebungsapparats vorzunehmen, lag in ihrem Wunsche begründet, die viel umstrittene und vom House of Lords abgelehnte Verstaatlichung der Eisen- und Stahlindustrie noch während der Lebensdauer des gegenwärtigen Parlaments zum Abschluß zu bringen; ein Programmpunkt übrigens, der über Verlangen der Opposition schließlich dahingehend abgeändert wurde, daß das bereits beschlossene Gesetz, die Verstaatlichung jener Industrie betreffend, nicht vor dem 1. Oktober 1950, also erst nach den Neuwahlen, die spätestens im Sommer nächsten Jahres stattfinden müssen, in Kraft treten soll. Es mag sein, daß auch andere Erwägungen, parteipolitischer oder sachlicher Natur, mitwirkten, um den jüngsten Eingriff in die traditionellen Funktionen des Zweikammernsystems herbeizuführen; aber die Art, wie dieser Schritt unternommen wurde, und die Argumente, die man zu seiner Rechtfertigung ins Treffen führte, verrieten denselben Mangel an Bedacht auf das organisch Gewachsene, den die Labourpartei seit vier Jahren schon häufig an den Tag legte und dessen Auswirkungen mit der heutigen Lage Englands vielleicht mehr zu tun haben, als es zunächst den Anschein haben mag.

Englands gegenwärtige Situation ist gewiß zu einem guten Teil durch Umstände und Verhältnisse bedingt, für welche die heute führenden Männer nicht Y ant ort- lieh gemacht werden können, und welche völlig zu meistern auch keiner anderen, wie immer zusammengesetzten Regierung gelungen wäre. Die gewaltigen Verluste und Einbußen an Nationalvermögen, die England durch zwei überaus opferreiche Kriege binnen dreißig Jahren erlitten hat; die rasch fortschreitende Industrialisierung der Dominions und anderer überseeischer Gebiete, die früher fast ausschließlich auf den Bezug englischer Industrieprodukte angewiesen waren; die nationalistischen und zentrifugalen Bestrebungen, die sich, durch intensive Propaganda aus vielen Quellen angespornt, in allen Teilen des britischen Imperiums immer mehr Geltung verschafften; das immer dringendere Begehren breiter Volksschichten nach der Verfolgung einer Sozialpolitik, deren Ziele mit mehr Rücksicht auf das Wünschenswerte denn auf das vernünftig Erreichbare gesteckt werden mußten; das wachsende wirtschaftliche Übergewicht der Vereinigten Staaten, zugleich mit der zunehmenden Erschwerung, wenn nicht dem völligen Ausschluß des freien Handels in immer weiteren Gebieten des Ostens — all diese und andere Gegebenheiten hätten auch im günstigsten Falle und bei Einsatz der größten staatsmännischen Begabung die Erhaltung oder volle Wiederherstellung der früheren wirtschaftlichen und politischen Stellung Englands und seiner Stellung an der Spitze des Commonwealth und Empire zu einem Ding der Unmöglichkeit gemacht. Aber immer weitere Kreise des englischen Volkes vertreten heute die Meinung, daß manche Schwierigkeiten sich leichter hätten überwinden lassen und mancher verlorengegangene Posten erhalten geblieben wäre, hätten die Leiter der englischen Politik in den letzten Jahren sich jene unwägbare, aber durchaus reale Kraft zunutze gemacht, die eng verknüpft ist mit dem Begriff politischer Kontinuität. Wenige Staaten unserer Zeit besitzen eine so alte und zugleich so lebendige Überlieferung wie die, welche dem britischen Reich bis vor kurzem noch ein besonderes Gepräge gab. Ihre Pflege erschöpfte sich nicht in patriotischen Gedenkfeiern, in militärischem Gėprange, sie manifestierte sich in der sprichwörtlich gewordenen Gesetzestreue und Selbstdisziplin des Bürgers, der seinerseits wieder mit der weitestgehenden Selbstbeschränkung der Staatsgewalt rechnen konnte, in der Heranbildung eines Typus von Menschen, die ihren Stolz darein setzten, den in der nationalen Überlieferung wurzelnden Grundsätzen von Rechtschaffenheit, von Selbständigkeit und Unabhängigkeit, vom Dienst an der Allgemeinheit, entsprechend zu leben, und nicht zuletzt in der sorgsamen Bewahrung tausenderlei uralter Formen und Institutionen. Auf der geschlossenen Stärke dieser Tradition, die so unverrückbar schien wie die Felsen der englischen Küste, beruhte, mehr noch vielleicht als auf der Zahl der britischen Schlachtschiffe, das Prestige des englischen Namens. Zwischen dem mittelalterlichen Zeremoniell der Londoner Guildhall und dem Weltruf der gewerblichen und industriellen Erzeugnisse Englands; zwischen den altgewohnten Erziehungsmethoden von Eton und Harrow und der unantastbaren Auorität des jungen englischen Beamten, der in Indien oder Afrika vielleicht als einziger Weißer im Umkreis von Hunderten von Meilen das Empire repräsentierte; zwischen dem Wollsack des Lordkanzlers im englischen Oberhaus und dem einst unvergleichlichen Ansehen der Bank von England; zwischen der Perücke des englischen Richters und dem Vertrauen, das der englische Kaufmann in aller Welt genoß, bestanden Zusammenhänge, die nun, da jenes Prestige nicht mehr dasselbe ist wie früher, klar in Erscheinung treten. Ob solche Zusammenhänge und ihre noch in die Gegenwart reichende Bedeutung auch jenen klar zu werden beginnen, die heute die Geschicke Englands lenken, dafür ist noch kein Anhaltspunkt gegeben.

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