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Sozialpolitik in Österreich

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Die seit dem Ende des ersten Weltkrieges so bedeutende Gesetzgebung auf sozialpolitischem Gebiet und insbesondere ihr Kernstück, Arbeitsrecht und Arbeiterschutz, ist verhältnismäßig neueren Ursprungs und beginnt im großen und ganzen erst mit der Zeit, da die Verhältnisse in Industrie und Handwerk infolge Einführung der modernen Maschinen eine strukturelle Umwandlung erfuhren und die Fabrikarbeit an Umfang und Bedeutung gewann. Die einschlägige Gesetzgebung beginnt als Arbeiterschutzrecht der Fabrikarbeiter, und zwar, wie man nach weitverbreiteter Ansicht annimmt, in jenem Land, in dem sich eine Industrie im heutigen Sinne zuerst entwickeln konnte — in England. Tatsächlich ist dort unter der starken Initiative Robert Peels schon 1802 ein Arbeiterschutzgesetz geschaffen worden, das sich mit Bestimmungen über die Kinderarbeit befaßte. Wenn ' dieses Gesetz auch bis 1833 — dem Geburtsjahr der Gewerbeaufsicht in England — zum Teil nur auf dem Papier blieb, so wurde es doch zweifellos als Ausgangspunkt der modernen Sozialpolitik von grundsätzlicher Bedeutung und bildete einen Vorläufer jener bedeutenden englischen Arbeiterschutzgesetzgebung von 1847, für welche sich Männer wie Carlyle, Disraeli, Landlow mit großem Weitblick einsetzten.

Die Reihenfolge der ältesten Arbeiter- schutzgesetze läßt sich folgendermaßen feststellen: 1802 England, 1813 Belgien, 1839 Preußen, 1840 Bayern und Baden, 1841 Frankreich. Seit der Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts und insbesondere nach der Revolution von 1848, verstärkt in den fünfziger und sechziger Jahren, folgen alle anderen Staaten früher oder später nach. Eine Ausnahme bildet allenfalls die Arbeiterschutzgesetzgebung der Schweiz, die zwar erst 1874 Bundessache wurde und vorher der kantonalen Regelung unterlag. Bei diesen Regelungen für gewisse hausindustrielle Produktionszweige reichen allerdings die Schweizer Arbeiterschutzmaßnahmen vielfach weiter zurück, als in den anderen europäischen Staaten (bis in das 17. Jahrhundert), doch kann hier nicht von einer Gesetzgebung im vollen Sinne gesprochen werden, da es sich um örtliche Sonderregelungen für bestimmte Zweige der Hausindustrie, die von wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörpern („kaufmännische Direktorien") getroffen und vom städtischen Rate genehmigt wurden.

In dieser Reihenfolge scheint also England an der Spitze zu stehen. Dennoch sind die Anfänge der Fabrikarbei- terschutzgesetzgebung in Österreich gelegen, in einem „stillen Winkel Europas", wie Werner Sombart sagt, wo aber „die aufgeklärte Bürokratie zuerst zu besonderer Wirksamkeit gelangt war und wo ein guter Fürst frühzeitig von den Idealen der Aufklärung geträumt hat“. In Österreich war es, wo Jahre vorher durch die Initiative eines modern denkenden Herrschers Reformen geschaffen und auch die ersten sozialpolitischen Gesetze erlassen wurden. In der österreichischen Kulturgeschichte ist diese Tatsache, seltsam genug, kaum beachtet geblieben, selbst in zünftigen Darstellungen der Rechtsentwicklung. Entsprechend irrige Auffassungen werden in vielen gangbaren Handbüchern vertreten. Auch in dem soeben erschienenen Buche von Dr. Michael Kröll „Sozialpolitik in Österreich", Verlag „österreichische Zeitschriften", Wien, 1948, das im übrigen eine verdienstliche Zusammenstellung der sozialpolitischen Entwicklung der letzten 100 Jahre in Österreich enthält, wird die gleiche unzutreffende Auffassung wiederholt und der Beginn der Geschichte österreichischer Sozialpolitik in den Vormärz verlegt.

Nicht erst 1802, wie in England, oder 1839, wie in Preußen, oder 1840, wie in Bayern, sondern schon 1786 beginnt in Österreich die sozialpolitische Gesetzgebung durch eine „Allerhöchste Entschließung“ Josephs II. vom 20. November 1786. Die betreffende Vorschrift befaßt sich mit der Erziehung der Fabrikslehrlinge, mit ihren Lebensverhältnissen, Kontrolle ihrer körperlichen Pflege, ihrem physischen und moralischen Wohle. Dabei gehen die Vorschriften so weit ins Detail, daß bezüglich der jüngeren Fabrikarbeiter die Frage der gesonderten Unterbringung der beiden Geschlechter, der Anspruch jedes Lehrlings auf ein eigenes Bett, der Wechsel der Bettwäsche und derartige Einzelheiten vorgeschrieben werden. Eine zur Durchführung dieses kaiserlichen Erlasse ergangene Regierungsverordnung vom 12. März 1816, die vorstehende Anordnung Kaiser Josephs neuerlich einschärfte, machte den Bezirks- und Stadtärzten eine regelmäßige Aufsicht und Untersuchung der Fabriklehrlinge ihres Bezirkes zur Pflicht und erinnerte daran, daß die Aufmerksamkeit auf alle in der Verordnung vorgeschriebenen Punkte den Ärzten zum besonderen Verdienst werde angerechnet werden.

Über die Dauer der Kinderarbeit in den Fabriken finden sich bereits in einem Hofkanzleidekret vom 18. Februar 1787 eine Reihe von Bestimmungen. Eingangs wird gesagt, es sei „der Staatsverwaltung sehr daran gelegen, daß so viele in den Fabriken arbeitende Kinder einerseits nicht in der rohen Unwissenheit aufwachsen, andererseits aber den Fabriken die für die Produktion nötigen Hände und der ärmeren Klasse die Verdienstmöglichkeit nicht entzogen werde“, es wird dann vorgeschrieben — am Ende des 18. Jahrhunderts! —, daß „Kinder vor dem Antritt des neunten Jahres nicht ohne Not zur Fabrikarbeit herangezogen werden sollen“. Weitergehende Vorschriften in dieser Hinsicht erscheinen dann in einem Hofkanzleidekret vom 11. Juli 1842, das die Kinderarbeit in der Regel erst vom zwölften Jahr angefangen gestattet. Auch in betreff der Lohnzahlung finden sich in den älteren Gesetzen manche den Schutz der Arbeiter bezweckende Bestimmungen, so namentlich in den zahlreichen, zum Teil aus dem 18. Jahrhundert stammenden Bergordnungen der österreichischen Länder, in denen vorgeschrieben wird, daß die Lohnzahlungen an die Arbeiter zur gewöhnlichen Lohnzeit vom Schichtmeister in Gegenwart der Steiger in barem Geld und guter Münze, nicht aber in Waren erfolgen und die Zahlung persönlich an die Arbeiter geleistet werden soll. Ferner bestimmt ein Hofkanzleidekret vom 24. Jänner 1791, daß die Fabrikanten nur die in ihrem Hause wohnhaften Arbeitsleute mit Verpflegung (Kost und Getränk) versorgen dürfen, nicht aber jene Arbeiter, welche außer dem Hause wohnen. Es ist kein einseitiges Verschulden gerade der österreichischen Verwaltung, daß zwischen jenen ursprünglichen Bestimmungen aus der Zeit Josephs II. bis zu fortgesetzten einsdilägigen Anordnungen geraume Zeit verstreichen mußte und allgemein auf dem Kontinent die Jahrzehnte bis 1848 auf sozialpolitischem Gebiet geringfügige Ergebnisse gebracht haben. In die magere Sozialpolitik des vormärzlichen Europas kam erst nach den vorbildlichen Bestrebungen in England 1846 47 stärkere Bewegung. Alles in allem genommen stand in Europa die Sozialpolitik um das Jahr 1846 noch auf so schwachen Füßen, daß die englischen Schutzgegner die ungünstigen Verhältnisse auf dem Festland gegen die großen sozialpolitischen Fortschritte ins Treffen zu führen suchten, die sich um diese Zeit in England anbahnten.

Jedenfalls findet sich als nächste Stufe nach jenen Vorschriften aus der Zeit Josephs II. in Österreich erst das Hofkanzleidekret von 1842, das die Arbeitszeit für Kinder bis zu 12 Jahren auf 10 Stunden und für Kinder bis zu 16 Jahren auf 12 Stunden täglich besdiränkte, während Nachtarbeit verboten war. Diese Bestimmungen sollten die einzigen Arbeiterschutzmaßnahmen für die nächsten Jahte bleiben, um erst durch das Berggesetz von 1854 und die Vorschriften der Gewerbeordnung von 1859 einigermaßen ergänzt zu werden. Wenn auch der Entwicklungsgang der Sozialpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein langsamer war, so soll nicht übersehen werden, daß Österreich hier bahnbrechend voranging.

Ein sicherlich unbefangener Beurteiler wie Werner Sombart stellte vor dem ersten Weltkrieg fest, „daß am weitesten fortgeschritten auf der Bahn des Arbeiterschutzes und der Sozialpolitik die Staaten Österreich, Schweiz und Großbritannien" seien.

Was aber seit 1918 in Österreich an sozialen Gesetzen geschaffen wurde, ist für immer ein Ruhmesblatt in der Geschichte österreichischer Gesetzgebung. Als 1945 die zweite Republik errichtet wurde, war allerdings von diesen Gesetzen nicht allzuviel übriggeblieben. Der Nationalsozialismus hatte ganze Arbeit geleistet und diese Gesetze zu einem beträchtlichen Teil abgeändert oder außer Kraft gesetzt. Bei der Wiedererrichtung unserer Sozialgesetzgebung sind viele Schwierigkeiten zu überwinden gewesen, da durch den Krieg auch die wirtschaftliche Lage völlig unübersichtlich geworden war. Trotzdem darf man wohl rückblickend auf die seit Kriegsende erbrachten Leistungen bei der Neuerstellung des österreichischen Sozialrechtes feststellen, daß es gelungen ist, Großes neu zu schaffen. Das gemeinsame Bestreben muß und wird auch bleiben, das österreichische Sozialrecht auf mustergültiger Höhe zu erhalten.

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