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Gesetzgebung auf Widerruf?

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Es muß vorerst zugegeben werden, es hat keinen guten Klang, dieses Wort: Rationalisierung. Es erinnert so sehr an jene Zeit, da durch Einführung einer neuen Maschine in so manchem Betrieb hunderte Arbeiter brotlos wurden und auf diese Weise das Heer der Arbeitslosen neuerdings vergrößert worden war.

Hier soll aber von einer anderen Art von Rationalisierung gesprodien werden, und zwar in der Gesetzgebung, einem Gebiete, auf dem eine solche Maßnahme nicht nur keine Nachteile, sondern lediglich Vorteile, und zwar für die Behörde, wie auch für die gesamte Öffentlichkeit bringen würde.

Es erscheint interessant, daß fast überall in unserem Jahrhundert, insbesondere auch in den meisten Zweigen der Kunst, ein Streben nach Einfachheit, sozusagen nach der geraden Linie zu bemerken ist, ob es sich jetzt um Malerei, Bildhauerei oder Architektur handelt; lediglich in der Wissenschaft vollzieht sich der umgekehrte Prozeß. Mag dies mit den Ergebnissen der immer umfangreicher und tiefer schürfenden Forschungsarbeit leicht erklärt werden können, so besteht kein ausreichender Grund, von der Rechtswissenschaft an sich abgesehen, auch die Gesetzgebung selbst, insbesondere die Gesetzgebungstechnik immer mehr zu komplizieren.

Ein alter Grundsatz jeglichen Rechtes geht dahin, daß Unkenntnis der Gesetze nicht als Entschuldigungsgrund vorgebracht werden darf. Dieses Prinzip ist selbstverständlich so alt, wie das erste Gesetz überhaupt, das in einem Lande gegeben worden ist. Denn jegliche Satzung, die den Staatsbürgern gegeben wird, hat ja nur dann überhaupt einen Zweck, wenn nach der gehörigen Kundmachung sich niemand mit der Unkenntnis derselben ausreden kann.

Es erscheint aber wohl trotz dieser selbstverständlichen Grundlage alles gesatzten Rechtes dennoch als unbedingte Voraussetzung der Aufrechterhaltung dieses Prinzips, daß die große Masse der Bevölkerung, nicht nur der irgendwie besonders vorgebildete Staatsbürger sondern auch d er einfache Mann aus dem Volke imstande ist, den Sinn eines Gesetzes verstehen und aus dem Wortlaut des Gesetzestextes ohne besondere Schwierigkeiten erkennen zu können, in welcher Weise er den Erfordernissen der jeweiligen Vorschrift nachkommen, wie er die darin enthaltenen Gebote und Verbote einhalten kann.

Die Frage, wie es heute mit dieser Grundbedingung einer guten Gesetzgebung bestellt ist, kann nur mit einer unerfreulichen Feststellung beantwortet werden. Und doch hat man gerade in Österreich die hohe Kunst der Gesetzestechnik in vorbildlicher Weise beherrscht. Musterbeispiele dafür bieten unser Strafgesetz (aus dem Jahre 1852) wie auch das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch (aus dem Jahre 1811). Beide Gesetzbücher sind in ungerriein klarer, leichtverständlicher Sprache abgefaßt, es haben ihre Autoren eine so weise Voraussicht und Lebensklug-l\eit gezeigt, daß diese Bücher heute noch gegenwartsnah, durchaus aktuell und noch immer fast modern uns erscheinen können.

Sehen wir zum Vergleich auch nur irgend eines der in den letzten Jahrzehnten und auch jetzt in unseren Tagen erscheinenden Gesetze oder Verordnungen an, so tritt immer wieder dasselbe Bild entgegen. Man hat den Eindruck, daß über besonderen Auftrag in wenigen Stunden einige Paragraphen zusammengedichtet werden, über deren Bedeutung und praktische Auswirkung sich ihre Urheber selbst kaum ins klare gekommen sein konnten.

Es ist bezeichnend, daß jeder irgendwie bedeutungsvolleren Gesetzesarbeit fast ausnahmslos schon einige Wochen nach ihrer Kundmachung, zwei, drei und mehr. Novellierungen, also Teilabänderungen dieses Gesetzes nachfolgen. Nicht selten schaffen die ersten Auswirkungen eines neuen Gesetzes in der Praxis eine so unmögliche Situation, daß die jeweiligen Beamten und Behördenvertreter an die Regierungsgewalt einen verzweifelten Hilferuf richten, daß mit dem neuen Gesetz in der bisherigen Form nicht das Auslangen gefunden werden könne.

Man sehe sich nun die in den letzten Monaten erschienenen Staats- und Bundesgesetzblätter an, um die Richtigkeit dieser Feststellung bestätigt zu finden.

Das Verbotsgesetz wurde bereits zweimal novelliert, das Kriegsverbrechergesetz desgleichen, das Wirtschafts-säuberungsgesetz vom 12. September 1945 bedurfte bereits am 16. November und dann am 13. Dezember, also immer schon nach Verlauf eines Monats seiner Gültigkeit einer tiefgreifenden weiteren Novellierung, manche Gesetze verhalten sich schon wie periodische Druckschriften. Denn sie kommen alle Monate mit mindestens einer neuen Ausgabe heraus. Interessant erscheint da auch die Identitätsausweis-Verordnung vom 8. Oktober 1945. Man schuf die Vorschrift, daß jeder Staatsbürger vom vollendeten

15. Lebensjahre an einen Ausweis mit Lichtbild besitzen müsse. Schon vier Wochen später entdeckte man plötzlich, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem Gebiete der Photographie noch gar nicht so weit fortgeschritten sind, daß man von jedem Staatsbürger, verlangen könne, sich ein Lichtbild zu beschaffen. Das zu erkunden, hatte man vor Erlassung der Verordnung nicht Zeit gehabt, oder nicht für nötig befunden. Denn vier Wochen später erging ■schon die erste Abänderung der Verordnung mit Datum vom 3. November 1945, durch die man zugab, Lichtbilder nicht von jedermann verlangen zu können. Gleichzeitig kam man zur geänderten Meinung, daß man schon von allen Personen vom vollendeten 14. (nicht 15.) Lebensjahre angefangen, den Besitz von Identitätausweisen verlangen müsse. Wer weiß, vielleicht ist derzeit schon wieder eine neue Novelle in Vorbereitung, die nunmehr das 13. Lebensjahr als Ausgangspunkt für den Besitz dieser Ausweise fordert.

Man wird nun einwenden, daß die besonderen, krisenhaften Zeiten des neuen Staatswesens oftmals schnelles Handeln der legislativen Abteilungen und Ausschüsse nötig machen und daher eine längere Beratung und Überlegung solcher rasch zu erlassender Vorschriften ausgeschlossen ist. Das kann wphl nur für einzelne Gesetze Gültigkeit haben und nicht für fast alle.

Ein Hinweis auf die parlamentarische Beratung der Gesetze genügt nicht zur Entlastung. Es kann nicht Sache der einzelnen Mitglieder des Parlaments sein, die juristische Feinarbeit an zu beschließenden Gesetzen zu vollziehen. Es müssen ihnen geeignete und wirklich gewissenhaft vorbedachte und überlegte Entwürfe vorgelegt werden. Und diese Arbeit hat in den legislativen Abteilungen der Ministerien zu geschehen. Hiebei müßte mit aller Entschiedenheit immer darauf Bedacht genommen werden, daß das Ziel dieser Tätigkeit bleiben muß: klare Sprache, die vom Volke auch verstanden wird, gewissenhaftes und alle Auswirkungen voraussehendes lDurchdenken jedes Wortes in den zu schaffenden Gesetzen und Verordnungen. Gesetze schafft man nicht nur für ein paar Wochen oder Monate Gültigkeitsdauer. Sie sollen in der Regel Jahrzehnte überdauern können, ohne zeitfremd und unanwendbar zu werden. Es ist auch auf möglichste Vereinfachung der Vorschriften im einzelnen zu sehen. Am wenigsten kann sich ein Staat in so krisenhaften Zeiten, wie den gegenwärtigen, den Luxus einer komplizierten Gesetzgebung leisten, wie sie' heute sichtbar ist.

Um noch ein Beispiel zu erwähnen: Da erschien eine Verordnung des Staatsamts für Inneres vom 29. Oktober 1945, ausgegeben am 1. Februar 1946, BundesgesetzMatt 27/1946. Sie beschäftigt sich mit der heute so bedeutungsvollen und alle Österreicher und viele Ausländer interessierendes Frage der Staatsbürgerschaft. Es findet sich da unter anderem im 1 der nette Satz: „Die Feststellung, ob eine Person nach dem Verbotsgesetz als .Illegaler' zu behandeln ist, obliegt der B e h ö r d e.“ Im 2, Absatz 2, dieser gleichen Verordnung heißt es:

„diese Feststellung . . . obliegt der zur Entgegennahme der Erklärung zuständigen Behörd e.“ Es dürfte kaum einen Staatsbürger geben, der auf die Idee gekommen wäre, die angeführten Obliegenheiten stünden irgendwelchen „Privatpersonen“ zu und nicht der „Behörde“/ Wichtig aber wäre es, dem rechtsuchenden und das Gesetzblatt studierenden Staatsbürger mitzuteilen, welche der nicht spärlich vorhandenen Behörden dieser neue Aufgabenkreis zugeteilt wird. Darüber bewahrt diese Verordnung Stillschweigen.

So geschieht es, daß die Gesetzgebung von heute in mancher Beziehung fast einem Kreuzworträtsel ähnelt. Ein immer wieder in den verschiedensten Gesetzen vorkommender Satz ist zum Beispiel der folgende: „W eiche Behörde zuständig ist, wird durch Verordnung bestimmt werden.“

Der Staatsbürger liest es und weiß damit nicht viel anzufangen. Aber er darf einstweilen auf die Verordnung warten. Es .genügt nicht, daß er sich das einzelne Bundesgesetzblatt mit dem bewußten Gesetzestext erstanden hat. Er braucht dann die Fortsetzung und Erklärung dieses Gesetzes durch eine später, zu einem noch nicht bestimmten Zeitpunkte erscheinende Verordnung. Also wird es am besten sein, jeder Staatsbürger abonniert sich das Bundesgesetzblatt. Damit er die darin enthaltenen Gesetze auch verstehen lernt, wird es am besten sein, er studiert für alle Fälle nebenbei Jus. Um ihn davor nicht abzuschrecken, verheimliche man ihm womöglich, daß nach Erscheinen so manchen Gesetzes auch hohe, langgediente, erfahrene Beamte und so manche Richter oftmals in langen, mehrstündigen Beratungen zu erklügeln trachten, wie denn eigentlich diese oder jene Gesetzesbestimmung gemeint sei und ob man wirklich auf dem rechten Wege sei, wenn man diese Bestimmung so oder so auslege und ... .Schließlich richten sie eine interne Anfrage an das zuständige Ministerium.

Eines soll abschließend nidit vergessen werden: Man schaffe vor allem nicht Normen, wie es die reichsdeutschen Gesetze gerne und vielfach getan, die der Willkür freien Lauf gelassen haben. Wenn man so manches dieser deutschen Gesetze bis zum Schluß durchgelesen hatte, und nach eingehendem Studium schließlich glaubte, die Rechtslage halbwegs zu kennen, las man mit Erstaunen wiederholt noch einen letzten Paragraph, ungefähr nachstehenden Inhalts: „Vermeidung von Härten Sollten sich bei Anwendung vorstehender Bestimmungen unbillige Härten ergeben, kann, den Umständen gemäß, nach den Grundsätzen der Billigkeit anders entschieden werden . . .“ Vorschriften ungefähr dieses Wortlauts finden wir in sehr zahlreichen, wichtige rechtliche Materien regelnden Gesetzen .(aucK im Ehegesetz zum Beispiel) immer wieder. . Sie bedeuten für die Praxis nicht mehr und nicht weniger, als daß keiner, der das Gesetz noch so gut kennt, sich entsprechend danach richten kann, weites daß kein Rechtsanwalt imstande ist, eine präzise Auskunft über einen Rechtsfall zu geben und dem Richter kein geeignetes Rüstzeug für die Rechtsprechung an die Hand gegeben wird, sondern das für ihn sehr zweifelhafte Geschenk, im einzelnen Falle ohne näheren Anhaltspunkt im Gesetze vollkommen nach freiem Ermessen, je nach Willkür urteilen zu können.

Wir sind heute mit dem Bau unseres neuen Österreich beschäftigt. Die Gesetzgebung des Landes ist der Baustein, mit dem dabei gearbeitet wird. Wenn er schlecht und nicht ordentlich gebrauchsfähig ist, nützt der beste Bauplan, der beste Bauarbeiter nichts und auch die Bauherren selbst, wie seine Bewohner können auf die Beständigkeit und Sicherheit des neu aufzuführenden Gebäudes nicht vertrauen.

Dies mit voller Klarheit nüchtern auszusprechen, scheint mir hoch an der Zeit.

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