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Viel zuviel und oft auch unverständlich

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Stoppt die Gesetzesflut! Dieser Ruf wird immer lauter. Und viele sprechen bereits von einer Informationskrise des Rechts. Dazu kommt auch noch eine oft unverständliche

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Stoppt die Gesetzesflut! Dieser Ruf wird immer lauter. Und viele sprechen bereits von einer Informationskrise des Rechts. Dazu kommt auch noch eine oft unverständliche

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Sprache. Ein Beispiel dafür ist der § 22 des Einkommensteuergesetzes 1972: Demnach sind Einkünfte aus selbständiger Arbeit „3. Gewinnanteile der Gesellschafter von

Gesellschaften, bei denen die Gesellschafter als Mitunternehmer anzusehen sind, sowie Vergütungen, die die Gesellschafter von der Gesellschaft für ihre Tätigkeit im Dienste der Gesellschaft… bezogen haben, sofeme die Tätigkeit der Gesellschaft ausschließlich als selbständige Arbeit anzusehen ist und jeder einzelne Gesellschafter im Rahmen der

Gesellschaft selbständig … tätig wird ..

Der Fortschrittsglaube, in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts hochgejubelt, hat alles machbar erklärt. In der Folge muß dann alles geregelt, normiert, registriert, verwaltet und letzten Endes auch die Gesellschaft geändert werden. Seit Jahren stürzt deshalb eine steigende Flut von Gesetzen, Verordnungen und Erlässen auf den Staatsbürger ein.

Im Glauben, den Schwächeren mit oft in kleinste Details gehenden Regelungen helfen zu müssen, erreicht man aber oft das Gegenteil: Denn diese finden sich in dem Wust der Gesetze und Vorschriften nicht zurecht und müssen sich vielfach, wenn es schon zu spät ist, Fachleuten oder Beratern anvertrauen.

Schon in den sechziger Jahren erhob Günther Winkler, Verfassungsrechtler an der Universität Wien, seine warnende Stimme: „Angesichts der ungeheuren Fülle der Rechtsvorschriften ist es aber praktisch vielfach unmöglich, alle Vorschriften einer modernen Rechtsordnung zu kennen. Für das Studium des Bundesgesetzblattes, das jährlich durchschnittlich 1800 Seiten umfaßt, würde ein geschulter Jurist mindestens 30 Arbeitswochen benötigen.“

In den Jahren der sozialistischen Alleinregierung hat in Österreich eine geradezu lawinenhaft anwachsende Gesetzesproduktion eingesetzt. Derzeit füllen die Wälzer der Bundesgesetzblätter jährlich schon über 4000

Seiten (Spitze 1977: 4501 Seiten, das sind rund 30.000 Paragraphen oder Artikel). Diese Flut ist selbst von geschulten Juristen nicht mehr zu bewältigen.

Dazu kommen jedes Jahr auch noch die jeweiligen Landesgesetzblätter mit 150 bis 200 Seiten, das Amtsblatt der österreichischen Finanzverwaltung mit 900 bis 1000 Seiten, die Amtlichen Nachrichten des

Bundesministeriums für soziale Verwaltung und des Bundesministeriums für Gesundheit und Umweltschutz mit 800 bis 900 Seiten, schließlich das Amtsblatt der österreichischen Justizverwaltung mit 100 bis 150 Seiten.

Als Folgeerscheinung dieser Massenproduktion und vielfachen Novellierungen leidet naturgemäß die Qualität der Gesetze. Neue Paragraphen oder „Verbesserungen“ passen nicht mehr zum ursprünglichen Text, wi-

dersprechen sich oft, das Amtsdeutsch ist vielfach nicht mehr verständlich. Dies schafft Unklarheiten und zur Folge Rechtsunsicherheiten.

Im November 1978 hat sich die Regierung etwas Neues einfallen lassen. In einem Bundesgesetzblatt (189. Stück), die Kraftfahrzeugausrüstung betreffend, wird darauf hingewiesen, daß die Kundmachung „zur Einsicht während der Amtsstunden im Bundesministerium für Verkehr und bei allen Ämtern der Landesregierungen aufliegt.“ Dies war im vorliegenden Fall vielleicht nicht gravierend, da es sich um ein begrenztes Spezialgebiet handelt, aber sehr bedenklich wäre es, wenn diese Vorgangsweise - oder war es ein Testfall, wie in Österreich nun einmal üblich? - zur Gewohnheit werden sollte.

Der Staatsbürger wird derzeit weit überfordert. In der Sozialgesetzgebung findet er sich nicht zurecht, kennt meist seine berechtigten Ansprüche auf Leistungen der Sozial-

Versicherung nicht und hängt nur mehr vom guten Willen der Beamten ab. Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz aus dem Jahre 1956 erfahrt nun seine 34. Novellierung.

Wie soll sich der Inhaber eines Kleingewerbebetriebes noch im Wüste der Gesetze, der Steuervorschreibungen, der sozialen Bestimmungen zurechtfinden?

Der Staat macht es sich sehr leicht, indem er im § 2 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches festlegt: „Sobald ein Gesetz gehörig kundgemacht worden ist, kann sich niemand damit entschuldigen, daß ihm dasselbe nicht bekannt geworden sei.“

Seitens der Abgeordneten wird kaum Verständnis zu erwarten sein, es beweist doch die steigende Gesetzesproduktion, daß diese im Parlament nicht die Zeitung lesen, nicht in der Milchbar herumsitzen, sondern hart arbeiten.

Die Ankündigung in der letzten Regierungserklärung von einer Durchforstung der staatlichen Vorschriften kann, da schon so oft versprochen, nicht mehr ernstgenommen werden. Man halte sich einmal vor Augen: Der

Ausstoß an Bundesgesetzblättern seit Gründung der Zweiten Republik, also in 34 Jahren, erreichte Ende 1978 die unfaßbare Summe von 70.000 Seiten; dazu kommen noch durchschnittlich 7000 Seiten der jeweiligen

Landesgesetzblätter und etwa 60.000 Amtsblätter der Bundesministerien.

Der Staatsbürger kennt nur mehr einen Bruchteil des eigentlich für ihn geschaffenen Paragraphendschungels. Was man nicht kennt, was nicht mehr erfaßbar ist, kann man aber nicht mehr befolgen. Manche versu-

chen, sich durch den Gesetzesdschungel zu schlängeln, andere suchen, es sich zu richten. Die meisten müssen wohl oder übel resignieren. Eine allgemeine Lethargie und Staatsverdrossenheit ist die Folge.

Der österreichische Gesetzgeber müßte alles daransetzen, um die Ge- setzesflut zu reduzieren, dafür gründlicher und sorgfältiger zu arbeiten - in Hinkunft also mehr Qualität als Quantität.

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