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Provisorien—und kein Ende

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Die Verhandlungen über die Bildung der neuen Bundesregierung gemäß dem Wahlergebnis vom 18. November 1962 konnten in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, daß sich die österreichische Politik wirklich erlauben darf, den Großteil ihrer ideologischen und menschlich-physischen Kräfte in Seit- und nervenvergeudenden Auseinandersetzungen über Personal- und Kompetenzfragen zu verbrauchen. Eine nicht immer glücklich komponierte publizistische Begleitmusik zu diesen Auseinandersetzungen ließ leider vereinzelte Stimmen verantwortungsbewußter Politiker untergehen, die sich mit Ernst und Nachdruck bemühten, auf die Notwendigkeit einer Änderung des politischen Stils und der politischen Gesinnung hinzuweisen. Sehr spät, hoffentlich nicht zu spät wird allerdings auch die österreichische Öffentlichkeit mit einigen harten Tatsachen vertraut gemacht werden müssen.

Daß die Zuwachsrate des Nationalprodukts immer geringer wird, hat sich zwar allmählich herumgesprochen, die notwendigen Konsequenzen hat man aber bisher nicht gezogen. Im Gegenteil: Obwohl mit einer Dämpfung der Konjunktur schon lange gerechnet werden mußte und man daher schon geraume Zeit die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für den Staatshaushalt vorhersehen konnte, wurden situationsverschärfendc und eininder grotesk widerstreitende Maßnahmen fortgesetzt; auf der einen Seite trug man durch eine Steuersenkung zur Verminderung der Staatseinnahmen noch wesentlich bei, auf der anderen Seite erhöhte man aber die Staatsausgaben oder ließ sich zumindest in eine Diskussion über derartige Maßnahmen ein. Schließlich standen ja Nationalratswahlen vor der Tür!

Anschließend gelang es noch einmal, die unbequemen Entscheidungen hinauszuschieben: Man verfertigte ein Budgetprovisorium für die ersten vier Monate des Jahres 1963, erklärte die Ansätze des Bundesfinanzgesetzes 1962 grundsätzlich auch für die Zeit des Provisoriums als verbindlich und überließ es großzügig dem Bundesministerium für Finanzen, durch Ersparungs-maßnahmen gesetzliche Mehraufwendungen zu bedecken. Angesichts solcher Leichtfertigkeit muß es geradezu als gerecht erscheinen, daß in der Zwischenzeit die Schwierigkeiten nicht geringer, sondern noch bedeutend größer wurden. Ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes fügte nämlich den bereits bestehenden wirtschaftlichen Problemen noch ein erhebliches Maß nunmehr offener verfassungsrechtlicher Fragen hinzu.

Verfassungsgesetze auf Probe?

Der Verfassungsgerichtshof erblickt das Wesen der parlamentarischen Budgethoheit nach dem geltenden Verfassungsrecht darin, daß nur dem Nationalrat das Recht der Bewilligung von Bundesausgaben zusteht. Der Nationalrat hat dieser Rechtspflicht durch genaue zahlenmäßige Festsetzung von Detailbeträgen zu genügen. Daher wurden vom Verfassungsgerichtshof die bisher jährlich dem Finanzminister vom Nationalrat erteilten Ermächtigungen, unabweisliche Mehraufwendungen bei einem vom Nationalrat genehmigten Budgetansatz durch gänzliche oder teilweise Rückstellungen eines anderen Kredites zu bedecken sowie Überschreitungen der finanzgesetzlichen Ansätze betreffend das Investitionsprogramm unter bestimmten Bedingungen zu bewilligen, als verfassungswidrig aufgehoben. In weiterer Folge hob der Verfassungsgerichtshof auch noch andere Ermächtigungen die dem Bundesministerium für Finanzen regelmäßig erteilt wurden, auf, und zwar insbesondere die, Bundesanleihen aufzunehmen, Bundeshaftungen zu übernehmen sowie über bewegliches und unbewegliches Bundeseigentum zu verfügen.

Es steht bereits außerhalb jedes Parteienstreites, daß nach diesem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, das sich naturgemäß streng an den Wortlaut des Bundesverfassungsgesetzes hält, neue gesetzliche Grundlagen für ein den Erfordernissen der modernen Wirtschaftspolitik entsprechenden Haushaltsrecht des Staates geschaffen werden müssen. Aber trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmung dürfte es in Detailfragen nicht immer leicht fallen, zu einer einhelligen Auffassung zu gelangen. Schließlich wird die letzte Verankerung dieses neuen Haushaltsrechtes des Staates im Bundesverfassungsgesetz vorgenommen werden müssen, und Änderungen der Bundesverfassung lassen sich nun einmal nicht aus dem Ärmel schütteln.

Verfassungsrecht — provisorisch?

Was soll nun aber bei der Verlängerung des Budgetprovisoriums geschehen, das ja alle jene Vollmachten enthält, die durch das Bundesfinanzgesetz 1962 dem Finanzminister vom Nationalrat erteilt worden waren und nunmehr vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben wurden? Theoretisch könnte der Nationalrat diese Vollmachten im bisherigen Wortlaut für die Monate Mai und Juni nochmals beschließen; denn während dieser kurzen Zeitspanne wird sich wohl niemand finden, der die Sache nochmals beim Verfassungsgerichtshof anhängig machen würde. Außerdem käme jedenfalls das neuerliche Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes erst nach dem Anlaufen des verlängerten Budgetprovisoriums zustande. Es braucht wohl nicht näher ausgeführt werden, daß eine derartige Vorgangsweise ein eklatantes Vergehen gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit darstellen würde.

Zweifellos wäre der einzige formgerechte Ausweg der, daß das neue Haushaltsrecht des Bundes einschließlich der erforderlichen Verfassungsänderungen vom Nationalrat noch vor Verlängerung des Budgetprovisoriums verabschiedet würde. Das setzt aber eine Einigung der beiden Regierungsparteien noch vor Ende April voraus, und dafür liegen verschiedene Termine höchst ungünstig: Momentan ist man noch mit der Regierungsbildung beschäftigt, auf Mitte April fallen die Osterfeiertage, und Ende April ist der erste Wahlgang für die Bestimmung des neuen Staatsoberhauptes fällig.

Angesichts dieser Schwierigkeiten zeichnen sich Versuche ab, eine provisorische verfassungsrechtliche Lösung zu finden. Nun hat sich das Verfassungsrecht seit 1945 schon manches gefallen lassen müssen, doch wäre dies zweifellos eine neue Variante. Jeder junge Jurist lernt nämlich, daß der Gesetzgeber letzte und möglichst dauerhafte Grundsätze in die Form von Verfassungsgesetzen kleidet; daher ist zu ihrer Abänderung stets ein erhöhtes Abstimmungsquorum — nämlich Zweidrittelmehrheit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten — und gegebenenfalls sogar eine Volksabstimmung erforderlich. Mit der Schaffung verhältnismäßig kurz befristeter Verfassungsgesetze würde die österreichische Rechtspolitik ein neues Kuriosum in die Welt setzen.

Nüchterne Zahlen

Noch grotesker ist das Budgetprovisorium auf dem Hintergrund der wirtschaftlichen Gegebenheiten zu beurteilen. Aus gesetzlichen und vertraglichen Verpflichtungen dürften dem Bund im Jahre 1963 etwa fünf Milliarden Schilling an Mehrbelastungen gegenüber dem Bundesvoranschlag 1962 erwachsen. Für das erste Halbjahr 1963 muß also mit Mehraufwendungen von rund zweieinhalb Milliarden Schilling gerechnet werden. Die vom Bundesminister für Finanzen im Vollzug des Budgetprovisoriums verfügten Bindungen von zehn Prozent des Verwaltungsaufwandes, 50 Prozent der Anlagen- und Förderungsausgaben sowie 20 Prozent der außerordentlichen Gebarung dürften kaum hinreichen, auch nur die Hälfte dieses Mehraufwandes zu bedecken!

Dazu kommt noch, daß angesichts der nachlassenden Konjunktur die Bindung von Ausgabenkrediten der außerordentlichen Gebarung wirtschaftspolitisch eher verfehlt sein dürfte. Ferner verteilen sich die Einnahmen des Staates erfahrungsgemäß nie gleichmäßig auf das ganze Jahr; das Aufkommen der öffentlichen Abgaben ist im ersten Halbjahr immer wesentlich geringer als im zweiten. Schließlich wurde aber auch noch nichts zur Bedeckung der außerordentlichen Gebarung unternommen. Zwar hört man von einer vielleicht im Mai zu begebenden Bundesanleihe, doch ist ihr Erfolg angesichts der labilen politischen Verhältnisse fraglich. Im Zusammenhang damit kann auch nicht übersehen werden, daß die höhere Verschuldung des Staates steigende Ausgaben für Verzinsung und Tilgung erfordert: waren hierfür bis 1957 nur geringe Beträge erforderlich, so wuchsen die diesbezüglichen Ausgaben 1958 bereits auf 1,4 Millionen jährlich und bis 1961 sogar auf den ansehnlichen Betrag von 2,5 Millionen jährlich an. Sicher war es richtig, die weltweite Rezession um das Jahr 1958 durch eine stärkere Verschuldung des Staates abzufangen. Auch in diesem Frühjahr wird es von der weiteren Konjunkturentwicklung abhängen, ob wieder eine zumindest mäßige Erhöhung der Staatsschuld möglich und tragbar erscheint.

Unabänderliche Tatsachen

Eines aber ist sicher: Die Zahlen des Bundesfinanzgesetzes 1962 sind sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite überholt, und zwar sowohl infolge gesetzlicher Bestimmungen als auch durch die inzwischen eingetretene Änderung'der allgemeinen Wirtschaftssituation. Nur einschneidende Maßnahmen zur Entlastung des Bundeshaushaltes oder zur Eröffnung neuer Bundleseinnahmen können den Gegebenheiten des Staatshaushaltes im ersten Halbjahr 1963 gerecht werden. Eine einfache Verlängerung des Budgetprovisoriums in seiner jetzigen Fassung kommt daher nicht mehr in Betracht; sie wäre in jeder Hinsicht unverantwortlich!

Es ist höchste Zeit, mit diesen unabänderlichen Tatsachen an die Öffentlichkeit zu treten. Zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten ist freilich eine Änderung des politischen Stils und der politischen Gesinnung beziehungsweise Gesittung erforderlich. Gerade in einem demokratischen Staat stellt die nunmehr anscheinend notwendig gewordene Verteilung von Lasten eine noch viel härtere Bewährungsprobe der Politiker, aber auch des gesamten Volkes dar als die Auseinandersetzung um den gerechten Anteil am Wertzuwachs der Volkswirtschaft. So einschneidend, wie manche meinen, ist allerdings die Stil-und Gesinnungsänderung auch wiederum nicht. Man müßte nur den Mut haben, den Geist von 1945 und der folgenden Jahre zu beschwören. Die österreichische Bevölkerung hat damals ihren Opfermut genügend unter Beweis gestellt, und auch die maßgeblichen Politiker konnten durch aufrichtige Zusammenarbeit unseren Staat auf den Weg ungeahnter Erfolge leiten.

Auf diesem Gebiet können mit Fug und Recht „unabdingbare“ Forderungen erhoben werden. Freilich müssen sie vom Gemeinwohl und nicht allein von Parteiinteresse diktiert sein. Hier liegen aber auch die Aufgaben, die von der österreichischen Politik in nächster Zukunft bewältigt werden müssen. Gelingt es uns nicht, die wirtschaftliche Basis unserer Existenz und damit vor allem auch den weiteren Bereich des Staatshaushaltes und der Staatswirtschaft in Ordnung zu halten, so wird jede Auseinandersetzung über außenpolitische Fragen, Neutralitätsdefinitionen und Kompetenzverteilungen illusorisch; denn der Trümmerhaufen einer Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung braucht weder neutral noch sonst etwas zu sein.

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