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Auf halbem Weg

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Ursachen der Verbrechen und vor allem den Tätern nicht oder nur selten auf die Spur. Sie muß sich mit viel Umsicht und, fast wichtiger, mit unbändiger Selbstverleugnung und mit Schneid damit begnügen, durch Massenverhaftungen von ihr seit langem verdächtigen Elementen zur Klarheit vorzudringen. Denn die mehr als 20 Morde, die vor kurzem im genannten Dreieck, zum Teil, wie in Corleone, während der abendlichen Promenade der Bevölkerung des 17.000 Einwohner zählenden Landstädtchens, also in aller Oeffentlichkeit, verübt wurden, haben im Augenblick keine Aussicht auf Sühne. Kaum aber besteht ein Zweifel, daß die Mörder ausnahmslos zu dem sich wie ein schleichendes Uebel durch Jahrhunderte fortschleppenden Geheimbund der Mafia gehören, kaum ein Zweifel auch, daß sich unter den in Untersuchungshaft Sitzenden einige der Mörder befinden und daß diese Mörder den vielleicht zu Unrecht Festgenommenen und sogar den gänzlich Unbeteiligten bekannt sind. Aber diese Mitwisser schweigen. Sie schweigen aus Furcht vor den Standgerichten der Mafia, die im Falle des Verrats die Todesstrafe verhängen und diese so schnell wie möglich vollstrecken.

Die „o m e r t ä“ genannte Schweigepflicht unter Missetätern ist gleichsam ihr ungeschriebenes Gesetz. Weh dem, der unter Dritten über die Angelegenheiten der Mafia aussagt oder gar die Namen von Schuldigen ausspricht! Er ist dem Tode verfallen. So ist auch das Bemühen der Polizei und der Untersuchungsrichter, die Verbrecher zu ermitteln, meist vergeblich. Sie mögen alle Künste aufwenden, ja tagelange Verhöre anstellen, stets wird die stereotype Antwort sein: „Un sacciu nenti!“ („Ich weiß nichts.'“) So kommt es, daß hier die Justiz versagt, daß die zahlreichen Verbrechen in der Mehrzahl ungesühnt bleiben und daß auch die Unbeteiligten, daß heißt die außerhalb der Mafia Stehenden, sich aus Furcht vor Rache und Tod hüten, einiges von dem auszusagen, was ihnen im Laufe langer Jahre nicht verborgen blieb.

Zuletzt war der schon genannte, 61 Kilometer südlich von Palermo liegende Gebirgsort Corleone der Schauplatz blutiger Racheakte, die unter dem Namen der „Schlacht von Corleone“ eine bleibende furchtbare Erinnerung hinterlassen werden. Denn die zwölf Todesopfer stellen den traurigen Höhepunkt der Ver-brecrtensstatistik dieses zumeist Großgrundbesitz aufweisenden Städtchens dar. Die dort .ihr Unwesen treibenden „Mafiosi“, die in erster Linie von den regelmäßigen Abgaben der Grundherren in Form von den nach der Grundfläche errechneten Getreidemengen — zum Beispiel 14 Kilogramm Weizen je Hektar — leben, scheinen besonders stark organisiert zu sein. Die Ortskundigen sprechen von 200 Mafiosi, wie denn Corleone ein autonomes Zentrum der Mafia sein soll. Autonom insofern, als die Männer dieses Zentrums sich nach der feststehenden Regel nie in die wohlaufgeteilten Bezirke anderer Mafiosi begeben, um dort ihr Handwerk zu treiben, wie sie denn auch den Mafiosi aus fremden Bezirken das Eindringen in ihre „Arbeitssphäre“ verwehren. Hier sollen seit 1944, das heißt nach dem Kriegsende in Sizilien, 123 Bluttaten begangen worden sein, von denen rund 100 ungesühnt blieben.

Diese keineswegs erschöpfenden Angaben lassen eines klar erkennen: daß das erbarmungslose Wüten der Mafiosi in Corleone ein Wüten von Männern des gleichen Geheimbundes, eben der Mafia, war, von solchen also, die untereinander Rechnungen zu begleichen hatten, seien es Racheakte für Uebergriffe einzelner, seien es Kämpfe der Jüngeren gegen die Aelteren, die „beati possidentes“, von denen sie sich zurückgesetzt fühlten. Kämpfe um die Macht also, wie wir eingangs sagten, die sich daraus erklären, daß die jüngere Generation, die zu demonstrativen Taten, zu Gewaltakten und zu schnellem Geldverdienen drängende, die im Wege stehenden Männer der älteren Generation mit dem äußersten Mittel, eben mit der völligen Beseitigung, auszulöschen sucht.

So scheint sich am Beispiel Corleones zu zeigen, daß die Jahrhunderte hindurch reibungslos funktionierende „onorata societä“ im Begriff ist, sich selber aufzufressen. Wie eingangs gesagt, sind führende italienische Politiker über dieses immer neu auftauchende Phänomen der Mafia auf der „Sonneninsel“ entrüstet und haben, wie der Führer der Sozialdemokraten, Giuseppe Saragat, in einem vielbeachteten Aufsatz der „Giustizia“ ausführte, nicht unrecht, wenn sie, ohne deswegen neue Gesetze vorzuschlagen, noch schärferes Durchgreifen der Polizei und, mindestens ebenso wichtig, die Ausrottung der immer noch in vielen Orten Süd- und Inselitaliens trostlosen Sozialordnung fordern.

Zum erstenmal seit Jahren ist die herbstliche Budgetdebatte des Nationalrates nicht von einer neuen Novellierung des Familienlasten-ausgleichsgesetzes begleitet. Diese schmerzliche Tatsache gibt Anlaß zu einer Erörterung der gegenwärtigen und künftig notwendigen Familienpolitik in Oesterreich.

Als im Gefolge der Lohn- und Preisbewegungen der Nachkriegszeit die finanzielle Situation der Familien unerträglich zu werden begann, wurde 1950 an Stelle einer allgemeinen Lohnerhöhung für die unselbständig Erwerbstätigen erstmals eine Kinderbeihilfe eingeführt — nicht zu verwechseln mit der seit 1927 bestehenden Haushalts- und Kinderzulage der öffentlichen Bediensteten, die unabhängig von der Kinderbeihilfe ausbezahlt wird, zum Unterschied von dieser aber versteuert werden muß. Die eigentliche familienpolitische Tat im Nachkriegsösterreich aber wurde das im Dezember 1954 vom Parlament einstimmig verabschiedete Familienlastenausgleichsgesetz, durch das die Notwendigkeit eines allgemeinen, vom Staat durchzuführenden Ausgleiches der materiellen Lasten zwischen Kinderlosen, Kinderarmen und Kinderreichen als sozialpolitischer Grundsatz anerkannt und somit die Behebung der finanziellen Not der Familien grundsätzlich aus dem Bereich der Fürsorge herausgenommen wurde. Gleichzeitig wurden die Selbständigen in das Beihilfensystem einbezogen, zunächst allerdings unter Wegfall der ersten Kinder. Durch die im Beihilfenfonds sich ansammelnden Reserven konnten dann erfreulicherweise für die folgenden Jahre mehrere Novellen beschlossen werden, die eine stetige Verbesserung der Beihilfen brachten. Durch, die zweite Novelle zum 1. Jänner 1956 wurde zunächst (rückwirkend vom 1. Jänner 1955) eine Geburtenbeihilfe in der Höhe von 500 S pro Kind eingeführt. Gleichzeitig wurden die ersten Kinder der Selbständigen — wenn auch noch mit einem verminderten Betrag von 50 S — in den Kreis der Arispruchsberechtigten einbezogen. Die anhaltend positive Gebarung des Beihilfenfonds ermöglichte ein Jahr später die Verabschiedung einer zweiten Novelle, die eine Gleichstellung aller Kinder und eine Verbesserung der Staffelung beim vierten Kind brachte.

Fast schien es, als könnte der so hoffnungsvoll begonnene Familienlastenausgleich auf dem Beihilfensektor durch die jährlichen Verbesserungen allmählich dem erstrebten Ziel nähergebracht werden; denn zum 1. Jänner 1958 konnte bereits eine dritte Novelle beschlossen werden. Diesmal allerdings entbrannte ein heftiger Kampf um eine familiengerechte Verteilung der vorhandenen Reserven. Besonders der Katholische Familienverband setzte sich energisch für eine weitere Verbesserung der Beihilfenprogression ein, da eine stärkere Entlastung der Mehrkinderfämilien gegenüber den bereits weniger ausgleichsbedürftigen Einkindfamilien dringend notwendig war und es auch heute noch ist. Trotz der bestehenden Staffelung nimmt die soziale Deklassierung der Familie immer noch mit der Anzahl der Kinder stark zu. Die Sozialistische Partei aber verlangte unnachgiebig eine lineare“ Beihilfenerhöhung (für alle Kinder dieselbe Zuwachsrate) — und erreichte sie auch.

Nun wird — wie eingangs erwähnt — die „Tradition“ der jährlichen Beihilfenerhöhung erstmals unterbrochen, da die Reserven des Beihilfenfonds1 erschöpft sind. Mit welchen Mitteln sollen also die Beihilfen weiter aufgestockt werden? Dazu gibt es bereits mehrere Vorschläge. Am leichtesten vertretbar und vielleicht am meisten genannt ist die Forderung nach „Rückvergütung“ eines Teiles vom Umsatzsteueraufkommen des Staates in den Ausgleichsfonds, weil gerade mit dieser Steuer die Familien (je kopfreicher desto mehr) stark belastet sind.

Neben der Aufstockung der Kinderbeihilfe sind aber auch noch andere Forderungen eines allmählichen Ausbaues des Familienlastenausgleichs zu erfüllen. Es sei hier nur an die von den Familienorganisationen seit Jahren urgierte Einführung einer Mütterbeihilfe für die nur in der Familie wirkenden Mütter („Nur-Haus-frauen“) erinnert — wenigstens in Familien ab dem dritten Kind.

Es hat sich in der Fachwelt eingebürgert, zwischen einem „horizontalen“ und einem „vertikalen“ oder „schichtenspezifischen“ Lastenausgleich zu unterscheiden. Unter dem horizontalen Lastenausgleich faßt man jene Maßnahmen zusammen, die allen Familien ohne Unterschied der Art der Erwerbstätigkeit und der Einkommenshöhe des Familienerhalters in gleicher Höhe zukommen — in erster Linie also die Kinderbeihilfen. Damit nun aber nicht eine Einengung der auf dem Leistungslohn basierenden sozialen Unterschiede eintrete (ein jüngerer Universitätsprofessor mit fünf Kindern hätte beispielsweise sonst denselben Lebenszuschnitt wie etwa ein gutverdienendes Facharbeiterehepaar mit einem Kind und einem zweifachen Einkommen), kommt der Steuerpolitik die Funktion eines schichtenspezifischen Familienlastenausgleichs zu. Das höhere Leistungseinkommen soll durch eine ins Gewicht fallende Steuerermäßigung pro Kind in einer angemessenen Weise erhalten werden. Erst dieses Zusammenspiel zwischen Beihilfe und Steuerpolitik ergibt einen echten Lastenausgleich, das heißt, ein Ausgleichssystem, das auf die Wirklichkeit der im Leistungslohn zum Ausdruck kommenden sozialen Gliederung der Gesellschaft Rücksieht nimmt. Wer die Notwendigkeit dazu verneint, stempelt entweder den Familienlastenausgleich zu einem Fürsorgeproblem oder aber er arbeitet als Marxist alter Schule auf die klassenlose Gesellschaft hin. Man muß dies einmal in aller Deutlichkeit aussprechen, da in Oesterreich die Forderung nach Valorisierung der Kinder-Steuerermäßigung auf den Stand von 1946 in den letzten Jahren immer wieder auf heftigen Widerstand gestoßen ist und man so tut, als handle es sich um ein unbescheidenes Begehren der Familien mit mittleren und höheren Einkommen. Trotz gewisser Fortschritte an-, läßlich der letzten Novelle zum Einkommensteuergesetz beträgt die gegenwärtige Kinder-Steuerermäßigung bei mittleren Einkommen erst ein Fünftel der Sätze von 1946!

Im ganzen bietet sich uns heute das Bild einer einigermaßen abgerundeten ersten Etappe österreichischer Familienpolitik. Ihr Ergebnis kann man schlagwortartig etwa wie folgt zusammenfassen:

• Wissenschaftliche Erkenntnis und Durchleuchtung des Problems,

• Schaffung einer einflußreichen organisierten Familienbewegung zur Weckung des Verständnisses in der Oeffentlichkeit, und zur Wahrnehmung der Interessen in Gesetzgebung und Verwaltung,

• Beseitigung zunächst der drückendsten sozialen Familiennot.

In der zweiten Etappe gilt es nun, die vorhandenen Ansätze auszubauen. Nach wie vor ist dabei in einem demokratischen Staatswesen der öffentlichen Meinung größte Beachtung zu schenken. Geben wir uns keiner Täuschung hin; es fehlt da noch viel!

Hier muß die Familienbewegung gemeinsam mit Schule, Kirche, Volksbildung usw. „Familienpolitik von innen her“ betreiben. Es gibt keine Zuständereform ohne Gesinnungsreform!

Nach Beseitigung der drückendsten sozialen Familiennot muß nun die weitere Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs aus dem Zustand theoretischer Anerkennung und politischer Zusagen in das Stadium der Verwirklichung führen. So fehlt es den kinderfreudigen Familien in Oesterreich immer noch an politischem Gewicht, weil sie an der Wahlurne eine Minderheit bilden. Der Einführung eines Familienstimmrechtes aber (größeren staatsbürgerlichen Pflichten entsprechen größere Rechte) setzt man den heftigsten Widerstand entgegen, und die Errichtung einer familienpolitischen Zentralstelle bei der Bundesregierung (Beirat) scheitert bekanntlich seit Jahren an einem politischen Kompetenzkonflikt. Es ist zu hoffen, daß die derzeitigen Verhandlungen auf höchster Ebene in der Regierungskoalition zu einem positiven Ergebnis führen und dieser Beirat, dessen Nichterrichtung nahezu schon ein öffentliches Aergernis geworden ist, endlich konstituiert werden kann. Nicht um milde Gaben für Notleidende ist es uns zu tun, sondern um einen Ausgleich der materiellen Lasten zwischen Kinderlosen, Kinderarmen und Kinderreichen, um eine ausgleichende Gerechtigkeit also innerhalb der Gesellschaft, damit die Lasten, .die das Fortbestehen des Staates und seiner sozialen Einrichtungen sichern, gemeinsam getragen werden und nicht nur von den sogenannten „Dummen“, die dem Volke in verantwortlicher Weise ausreichenden Nachwuchs schenken.

Die österreichische Familienpolitik wird also in ihrer zweiten Phase von einer begrifflichen Klärung ihres Wesens ausgehen müssen. Dann aber gilt es zu handeln; denn ein weiterer Schritt vom Wort zur Tat ist fällig!

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