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Das Prinzip Familie' wird nicht verwirklicht

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Gesellschaft und Familie stehen in enger Wechselbeziehung. Die im vorigen Jahrhundert begonnene und vielleicht ihren Höhepunkt schon überschreitende Industrialisierung veranschaulicht dies deutlich. Die Versuchung liegt nahe, die heutige Familie als Produkt der Industrialisierung zu bezeichnen. Dabei hat sich die Familie als in höchstem Maß flexibel erwiesen und einen tiefgreifenden Funktionswandel erfahren. Sie zeigte sich als ein gleichsam sich selbst regulierendes System im Dienste der Person und der Gesellschaft. Es mag bewundernswert scheinen, was die Kernfamilie unserer Jahrzehnte an Humanität geleistet und in welch hohem Maß sie sich als stabil herausgestellt hat. Nun, diese Feststellungen sollen keine Einleitung für das Bild einer heilen Welt der Familie sein. Sie müssen aber getroffen werden, um jener Hunderttausende von Menschen willen, die sich mühen, Familie zu leben.

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Gesellschaft und Familie stehen in enger Wechselbeziehung. Die im vorigen Jahrhundert begonnene und vielleicht ihren Höhepunkt schon überschreitende Industrialisierung veranschaulicht dies deutlich. Die Versuchung liegt nahe, die heutige Familie als Produkt der Industrialisierung zu bezeichnen. Dabei hat sich die Familie als in höchstem Maß flexibel erwiesen und einen tiefgreifenden Funktionswandel erfahren. Sie zeigte sich als ein gleichsam sich selbst regulierendes System im Dienste der Person und der Gesellschaft. Es mag bewundernswert scheinen, was die Kernfamilie unserer Jahrzehnte an Humanität geleistet und in welch hohem Maß sie sich als stabil herausgestellt hat. Nun, diese Feststellungen sollen keine Einleitung für das Bild einer heilen Welt der Familie sein. Sie müssen aber getroffen werden, um jener Hunderttausende von Menschen willen, die sich mühen, Familie zu leben.

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Tatsächlich scheint es immer weniger zu gelingen, denn gewisse Erscheinungen in unserer Gesellschaft gehen offenbar auf eine mangelnde oder fehlende Erfüllung familialer Aufgaben zurück. Beispiele dafür seien mit Schlagworten und Fakten angedeutet: Wohlstands Verwahrlosung, Rauschgift- und Sexwellen, Vereinsamung, Selbstmordziffern, Ehescheidung, Jugendkriminalität.

Diese Erscheinungen sind wichtig zu nehmen. Keinesfalls dürfen sie durch Schönfärberei verdrängt oder im Untergangspessimismus überbewertet werden. Sie stellen aber auch kein taugliches Mittel dar, um das angekündigte und zwangsläufig eintretende Ende der Familie zu beweisen.

Beispiel: Umweltschutz

Kein Politiker kann es sich heute leisten, ohne weiteres am Problem der Luftreinhaltung vorbeizugehen oder Notlösungen anzubieten, wie vielleicht Sauerstoffflaschen im Rucksack für jeden. Keiner würde es wagen, Versuche mit dem Ziel vorzuschlagen, den Menschen auf abgasangereicherte Luft hin zu modifizieren. Im Bereich der biologischen Existenz wird schneller und grundsätzlich richtig reagiert. Ein Grund mag in der möglichen, direkten Wahrnehmung des Mißstandes und seiner Lösungsversuche für den Betroffenen sein. Im Bereich der geistig-seelischen Existenz liegen die Sachverhalte wohl in komplexerer Form vor, nicht für jeden unmittelbar einsichtig und in der Wirkung eher langfristig. Dies entbindet nicht

von der Verantwortung, den richtigen Weg zu gehen, nämlich: die Ursachen zu suchen und zu beseitigen. Symptomkuren, Indikatorenmanipulation oder Menschenexperimente können wohl kaum dem Anspruch auf Verantwortung entsprechen. So ergibt sich die folgende erste Forderung für ein Prinzip politischen Handelns in der Familienpolitik: Die Ursachen der Überforderungserscheinungen in unseren Familien gehören beseitigt.

Beispiele für solche Ursachen können auf verschiedenen Ebenen gefunden werden. Einmal im Bereich

einer allgemeinen, öffentlichen, gesellschaftlichen Situation. Diese ist gekennzeichnet durch einen überheblichen Fortschrittsglauben. Alles scheint machbar und verfügbar zu sein. Der Mensch wird als Maß der Dinge bis zur Selbstvergötzung eskaliert. Merkmale dafür: die Abtreibung als ein Produkt einer sich fehlentwickelnden Emanzipationsbewegung fördert den Antigeist, der sagt: „Ich will dich nicht, du bist mir im Weg. Ich töte dich!“ Demgegenüber braucht die Familie den Geist, der sagt: „Gut, daß es dich gibt, ich nehme dich an. Ich brauche dich!“

Eine sorglose Konsumhaltung ferner, die neuerdings den Menschen neben den Sachgütern als ein Verbrauchsgut einordnet. Die Wegwerfmentalität erfaßt den Ehepartner. Er ist verbraucht, sein Konsumwert erschöpft: er ist wegzuwerfen!

Als zweites sei die Situation Gesellschaft-Familie direkt betrachtet. Drei Zitate beschreiben diese wie folgt:

• Unsere Gesellschaft, unsere Umwelt sind in großem Maße familien-und kinderfremd, ja zum Teil feindlich (Kardinal König, 1973).

• Die Arbeit beim Aufbau neuer soziokultureller Persönlichkeiten wird gesellschaftlich nicht unterstützt, ja in gewisser Weise gestört (D. Ciaessens, 1973).

• Die Familie ist de facto unter immer stärkeren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Druck geraten und zum Stiefkind der modernen Wohlstandsgesellschaft geworden (A. Rauscher, 1975).

Also nicht direkter, frontaler Kampf kennzeichnen die Situation, sondern ein Im-Stich-Lassen, Nicht-ernst-Nehmen, ein Über-die-Familie-Hinwegagieren. Familie wurde zur Privatsache ohne gesellschaftliche Relevanz.

Dies führt dann dazu, daß man versucht, die Probleme der vaterlosen Gesellschaft zu lösen, indem man sie auch noch zur mutterlosen macht.

Der Abschichtung der Generationen wird nicht entgegengewirkt, denn die Erwerbsfähigen sollen ja

in der Produktion stehen, und für die Kinder und Alten sorgt die Gesellschaft solidarisch. Manche nennen diesen Weg auch „schubladie-ren“.

Schließlich stellen heute die Familien mit einem Einkommen und insbesondere mit mehr als zwei Kindern die Gruppe der Armen dar. Familie auf- und ausbauen bedeutet wirtschaftlichen Abstieg bis zur De-klassierung.

Steuervorteil durch Scheidung?

In einer dritten Betrachtungsebene seien schließlich einzelne Gesetzesmaßnahmen behandelt. Im Strafrecht wurde die Ehestörung beseitigt und

der Lebensgefährte (die Lebensgefährtin) im Verfahren bei Zeugenaussagen dem Ehegatten gleichgestellt.

Im Steuerrecht führt das Indivi-dualsteuersystem zu einer schweren Benachteiligung des Alleinverdieners. Neuerdings kann der nicht wiederverheiratete Geschiedene seine Alimentationszahlungen als „außerordentliche Belastung“ absetzen. Tatsächlich gab es nach dieser Regelung bereits Anfragen bezüglich steuerlicher Vorteile durch Scheidung.

Im Sozialrecht erhält ein Ehemann als Mindestrente S 3755.—; der Alleinstehende S 2625.— (erhalten also zwei in Lebensgemeinschaft Lebende S 5250.—). Die ledige Mutter erhält richtigerweise S 3686.— als Karenzgeld, die verheiratete S 2457.—. Schlecht daran ist, daß man im ersten Fall nicht an den Kindesvater um den Differenzbetrag regres-siert. Der Staat bevorzugt wirtschaftlich jenen Vater, der sich seiner Verantwortung entzieht. Tatsächlich fand sich denn auch in der „Arbeiter-Zeitung“ ein Hinweis, daß zwei junge Menschen, die Zwillinge bekommen hatten, mit der Hochzeit lieber warten sollten, bis das Karenzjahr vorbei sei.

Sowohl die steuerliche als auch die Karenzgeldregelung sind in hohem Maß geeignet, eine Spirale in Gang zu bringen: zunehmende Ehescheidungen, zunehmende uneheliche Geburten sind statistisch ausgewiesen. Die Ehe nimmt an Bedeutung ab. Die Gesetze haben sich dem anzupassen.

Die Mittel des Familienlastenaus-gleichsfonds werden zunehmend nicht direkt den Eltern ausbezahlt, sondern als Sachleistungen zur Verfügung gestellt. Eine mögliche mißbräuchliche Verwendung wird dafür gelegentlich als Grund genannt. Eine pauschale Verdächtigung der Eltern, wie es sie noch nie gegeben hat. Tatsächlich dienen diese Sachleistungen zur Sanierung der Gebietskörperschaften und mancher Betriebe.

Eherecht: Neuorientierung

Es mag verständlich sein, daß unter dem Eindruck solcher Gesichtspunkte und Fakten bezüglich des Eherechtes schlimmste Befürchtungen entstanden. Der Ministerialentwurf bestärkte diese Erwartungen. Das im

Verlauf des Begutachtungsverfahrens und der parlamentarischen Behandlung daraus entstandene Gesetzeswerk stellt demgegenüber etwas anderes dar. Dieses Eherecht könnte ein erster Ansatz für eine gewisse Neuorientierung sein.

Keineswegs zementiert oder fördert es die zwangsweise Erwerbsverpflichtung, nennt ausdrücklich das Wohl des Kindes und sichert das Wohnungsrecht vor Willkür. Es wäre zu hoffen und zu wünschen, daß dieses Gesetz nicht nur eine „Vorwahlschwalbe“ darstellt. Methodisch muß jedoch nachdrücklich daran Kritik geübt werden, daß das Eherecht allein, ohne Kindschaftsrecht und

Scheidungsrecht, verabschiedet

wurde, und nicht mit diesen gemeinsam.

Dieser Hinweis leitet von den inhaltlichen Aspekten der Familienpolitik zu den methodischen über. Zwei Jahre vor der erstmaligen Bestellung eines Staatssekretärs für Familienfragen gab das Bundeskanzleramt den ersten und bisher letzten Familienbericht heraus. Vier Jahre Tätigkeit der 1971 postierten Frau Staatssekretär fanden ihre Krönung in dem vom selben Amt herausgegebenen Frauenbericht. Dieses zufällige Ereignis oder auch Symptom beschreibt treffend die Entwicklung: die Familie als solche verschwindet zunehmend aus der Familienpolitik und macht Einzelfragen Platz, die vielfach erst durch diesen Mangel entstehen. Die Familie stellt nicht ein in den einzelnen Ressorts zu beachtendes Gestaltungsprinzip dar, sie wird zu einer Art von Ressort. Die mit dem Staatssekretariat verbundenen Hoffnungen auf konsequente Verwirklichung eines „Prinzips Familie“ wurden nicht verwirklicht.

Die exemplarisch dargestellten Ursachen von in den Familien auftretenden Überforderungserscheinungen machen eine zweite These für politisches Handeln notwendig: Die praktizierte Familienpolitik braucht eine Alternative! Eine neue Familienpolitik sollte unter dem Motto stehen: Chancengerechtigkeit für die Familie. Dies setzt voraus, daß die Familie ernstgenommen und bei der Erfüllung ihrer Aufgaben im Dienste der Person und der Gesellschaft unterstützt wird. Umfassende und entschiedene Maßnahmen sind zu setzen. Drei Dimensionen seien hier angesprochen:

• Wollen: Die Leistungen beim Auf-und Ausbau familialen Lebens sind als hochwertig anzuerkennen. Das damit verbundene Sozialprestige stellt eine bedeutende Motivation dar, sich dieser sozialen Aufgabe zu stellen.

• Befähigen: Durch Lehrpläne und als Schwerpunkt der Erwachsenenbildung sind Hilfen für die Weiterentwicklung der Fähigkeiten zum familialen Leben anzubieten.

• Ermöglichen: Der Familienlastenausgleich hat so weiterentwickelt zu werden, daß Familie nicht automatisch mit der Gefahr wirtschaftlicher

Deklassierung gekoppelt ist. Wohn-und Städteplanung haben die Voraussetzungen zu schaffen, daß Familie überhaupt gelebt werden kann.

Diese Vorstellungen könnten durch Einzelmaßnahmen verdeutlicht werden. Hier sei abschließend jedoch die Forderung nach einer neuen Familienpolitik in einen größeren Zusammenhang gestellt. Es geht dabei natürlich nicht um die Institution Familie als Selbstzweck, sondern um ihre Aufgabe in der gesellschaftlichen Entwicklung und bei der Entfaltung der Person. Wir erleben ansatzweise eine schwere Erschütterung des Fortschrittsglaubens durch die sichtbar gewordenen Grenzen des Wachstums. Die Ruinen einer verfehlten, weil einseitigen Gesellschaftspolitik und damit auch Familienpolitik werden erkennbar und mehren sich. Die Stimmen, die von einer notwendigen kopernikanischen Wende des Geistes sprechen, werden lauter. Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird häufiger gestellt. Einzelne sprechen vom notwendigen

Übergang aus der Neuzeit in eine neue Zeit.

Es scheint als Aufgabe unserer Zeit und insbesondere den Christen gestellt zu sein, eine neue Phase der Sozialreform einzuleiten. Der Weg dazu könnte über die Familien gehen. Die in der Phase der Industrialisierung einseitig auf die Familie wirkenden Einflüsse gesellschaftlicher Änderungen müssen umgekehrt werden. Die Familien müssen zu sanierten Inseln werden, die wachsen und so den Motor für die Sozialreform bilden. Eine solche Sozialreform wird primär keine Strukturreform, sondern eine Gesinnungsreform sein. Der Weg zu einer Gesinnung, die Lebensqualität als Qualität des Zusammenlebens versteht. Des Zusammenlebens mit Gott, dem Nächsten, der Menschheit und der Sachwelt. Wo könnte der Mensch dies besser erleben, erlernen und einüben als in einer Familie, die Hauskirche, Schule entfalteter Humanität und Fundament der Gesellschaft ist? Solche Familien sind Auftrag, Verantwortung und Hoffnung für den Menschen, die Gesellschaft und den Staat.

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