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Familie und Gesellschaft sind zu Gegenpolen geworden

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Sehr unterschiedliche Gemeinschaftsformen zwischen Eltern oder Elternteilen und Kindern werden mit dem Sammelbegriff „Familie“ bezeichnet. Wir sprechen von der Kernfamilie mit Vater, Mutter und Kind; Eltern mit einem oder mehreren Kindern; allein erziehende Elternteile usw. Die Realität der Familien ist sehr vielfältig, und nur mit großer Vorsicht kann von einem „Familienideal“ gesprochen werden. Für Eltern und Kinder, die in einer zerbrochenen Famüie leben, bedeutet die ständige Idealzeichnung einer Familie wenig Hüfe. Den Familien müßte Mut gemacht werden, die eigene Familie zu leben. Zu leicht könnten konkrete Familien als abnormal, als außer der Norm angesehen werden und sich ausgestoßen erleben.

In der Ehe suchen Mann und Frau ihre Zuneigung und die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Eheleute dürfen nicht völlig in der Rolle als Vater oder Mutter aufgehen. Für die Ehe wurde der Eigenwert gegenüber der Familie entdeckt. Sie bedarf jedoch der bewußten partnerschaftlichen Gestaltung.

Der Wunsch nach Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und die Beziehung zum Partner können in einer wertvollen Spannung zur Aufgabe und Verantwortung für die Kinder stehen. Einem überbetonten Hingabe- und Opfermotiv mancher Eltern, die eben alles nur für ihre Kinder tun, steht der Egoismus gegenüber, der sich mit der

Angst verbindet, ständig wegen der Kinder verzichten zu müssen.

Im Verständnis von Ehe und Familie hat ein starker Wandel stattgefunden. Vom Besitzdenken, in dem die Frau als Eigentum des Mannes verstanden wurde, kam es zur Liebesbeziehung zwischen zwei gleichwertigen Partnern. Vom mehrköpfigen Familienbetrieb wandelte es sich zur Kernfamilie, die als personale Liebes- und Lebensgemeinschaft gesucht wird. Den autoritären Erziehungsstü löste weithin eine partnerschaftlich orientierte Führung der Kinder ab.

Die Familienformen früherer Zeiten werden oft, eher unkritisch, glorifiziert, wehmütig wird ihnen nachgetrauert. Von manchen Menschen werden die Wandlungen und Änderungen zu pauschal als Verlust angesehen. Denn die Veränderungen bewirken zunächst Unruhe und Verunsicherung. Die neuen Verhaltensformen zwischen Ehepartnern, zwischen Eltern und Kindern sind noch zuwenig erprobt, und für ihre Auswirkungen kann noch zuwenig auf Erfahrungen hingewiesen werden. Dennoch kann das Bemühen um partnerschaftliches, achtungsvolles Verhalten als erfreuliche Tendenz angesehen werden.

Die Famüie wird weit weniger vom Verwandtenkreis und der Gesellschaft getragen. Sie baut heute vor allem auf der Intensität der Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern auf. Es steht der Wunsch nach Geborgenheit, Vertrauen, Selbstsein und den anderen annehmen können' im Vordergrund. Das macht das Familienleben für die einzelnen erfreulicher. Es er-

fordert jedoch auch stärkere Fähigkeiten, Beziehungen und Kommunikation reich zu pflegen. Wo diese mangeln, ist die Famüie sehr krisenanfällig, denn die Stützung durch die Verwandtschaft oder durch die normierende .Gesellschaft fällt weitgehend weg.

Für die emotionale geistige und sittlich-religiöse Formung der Kinder bietet die Beziehung zu den Eltern die beste Voraussetzung. Eltern sind in irgendeiner Weise immer schicksalhafte Weichenstellung für das Leben eines Menschen. Jedoch gibt“ es heute keine allgemein anerkannten Leitbüder für die Erziehung und für die Gestaltung des Famüienlebens. Die- Kinder und die heranwachsenden Jugendlichen erleben bei ihren Eltern häufige Ratlosigkeit über Wertvorstellungen und wachsen in unklare Verhaltensmuster hinein. Antworten auf die Sinnfrage, gesellschaftspolitische Vorstellungen,

das Verhalten zwischen den Geschlechtern, die Kategorien von Leistung und Muße und viele andere Orientierungspunkte sind heute nicht selbstverständlich.

Eltern sind kaum mehrtlie alleinigen Erzieher ihrer Kinder. Schon durch Großeltern und andere Famüienange-hörige können sehr unterschiedliche Erziehungsformen vertreten werden. Müieu, Kindergarten, Schule, Medien üben mit zunehmendem Alter der Kinder einen stärkeren Einfluß aus. Mit Recht werden Erziehungsaufgaben von der Familie an andere Institutionen abgegeben. Denn nicht das Abschirmen, sondern das Beispiel und die Anleitung zur Bewältigung bedeuten die lebensnahe Hilfe. Die beste Erziehungsbegleitung für die Kinder sind Eltern, die selbst an ihrer persönlichen Weiterbildung arbeiten, die offen bleiben und immer neue geistige Auseinandersetzungen nicht scheuen und die nicht einfache Erziehungsrezepte suchen und anwenden wollen.

In den Familien wird es immer wieder Spannungen, Konflikte und Schwierigkeiten geben. Vielen schwebt zwar als Ziel eine harmonische Familie vor Augen. Konflikte dürfen jedoch nicht vorschnell als Katastrophen betrachtet werden. Konflikte und Krisen können durch die Herkunft der Partner aus unterschiedlichen Familien entstehen oder aus verschiedenen Vorstellungen, Bedürfnissen und Ansprüchen. Fast immer kön-

nen Krisen die Chancen für ein weiteres Wachsen bieten. Nicht die Krisen, sondern die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit für Lösungswege sind beunruhigend.

Im politischen und gesellschaftlichen Bereich wird viel über die Familie gesprochen und für sie entschieden. Wo jedoch Einzelpersonen allein, etwa die Frauen, die Kinder, durch Maßnahmen berücksichtigt werden, wird die Famüie als ein Ganzes leicht übersehen. Den Famüien fehlt jedoch weitgehend das Bewußtsein, welche gesellschaftspolitische Bedeutung sie.als Familien haben. Hier zeigt sich, daß das Familienleben häufig als Privatangelegenheit und nicht, gleichzeitig auch als gesellschaftlich bedeutsame Angelegenheit angesehen wird.

Die Famüie ist in Gefahr, immer mehr in den Privatbereich abgedrängt zu werden. Das Zusammenleben der Partner wird gern als deren völlig private Angelegenheit betrachtet. Von ihrer Umwelt erwarten sie selbst wenig ideelle Unterstützung. Die Diskussionen gehen meist um wirtschaftliche Notwendigkeiten. Notwendig wäre jedoch die größere geistige Wertschätzung von Ehe und Famüie.

Die Famüie kann heute kaum mehr als „Zelle“ der Gesellschaft bezeichnet werden. In einer Zelle ist irgendwie der ganze Organismus vorgezeigt. In der früheren feudalen bürgerlichen und bäuerlichen Gesellschaft bestanden im Großen ähnliche Strukturen wie im Kleinen der Famüie. Heute funktionieren die Großstrukturen der Gesellschaft, das Staatsgefüge, die Wirtschaft, durch Rationalitat und allgemeine Anonymität. Die Famüie dagegen gründet auf der Intimität und der Geborgenheit der hautnahen zwischenmenschlichen Beziehungen. So sind Familie und Gesellschaft zu Gegenpolen geworden. Dem Familienleben kommt besonderes Gewicht als Ausgleich und humanisierendes Reservat zu. Wenn diese Gegensätzlichkeit nicht bewußt ist, werden die Familien wie zwischen Mühlsteinen zer-mahlen.

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