Die Familie ist auch Individualisten viel wert

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Entgegen allen Unkenrufen (siehe Furche Nr. 7/1999) investieren Eltern auch im Zeitalter des Individualismus sehr viel in ihre Kinder. Neue Lebensverlaufsmodelle könnten Eltern sogar Chancen für mehr Familienzeit bieten.

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Entgegen allen Unkenrufen (siehe Furche Nr. 7/1999) investieren Eltern auch im Zeitalter des Individualismus sehr viel in ihre Kinder. Neue Lebensverlaufsmodelle könnten Eltern sogar Chancen für mehr Familienzeit bieten.

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Die Familie, das läßt sich tagtäglich in der politischen Auseinandersetzung zumal in einem Wahljahr beobachten, ist im Hinblick auf ihre Bedeutung, ihre Leistungen, aber auch ihre gesellschaftliche Benachteiligung eine heiß umstrittene Institution. Gleichzeitig gibt die Familie immer wieder einen willkommenen Anlaß zum Jammern über die so schlecht gewordenen gesellschaftlichen Zustände.

Zu den das Familienleben nachhaltig beeinflußenden Lebensbedingungen zählt sicherlich die auf allen Ebenen sich durchsetzende Individualisierung der modernen Gesellschaft. Mit dem Megatrend Individualismus als dominierender Lebensstil zumindest der westlichen Industriegesellschaften wurden Werte wie Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Flexibilität als die persönliche Lebensplanung bestimmend hochstilisiert.

Da diese Verhaltensnormen gemeinschaftlichen Lebensformen wie vor allem einem Familienleben als tendenziell entgegengesetzt zu betrachten sind, muß selbstverständlich die Individualisierung als eine der Hauptursachen für das Infragestellen der Institution Familie, die Instabilität von Familien, die zurückgehende Geburtenzahl und schließlich auch die Kinder- und Elternunfreundlichkeit der Gesellschaft angesehen werden.

So weit, so allgemein plausibel und gewiß auch anhand zahlreicher Einzelschicksale (vor allem von Kindern) nachvollziehbar. Für eine gründliche und seriöse Beurteilung der Situation und letztlich auch der Chancen des Lebens mit Familie in Zeiten der Individualisierung wird es aber nicht genügen, Eindrücke, die sich etwa dem Psychologen darstellen (siehe den Beitrag "In vielen Familien ist der Ofen aus" in die Furche Nr. 7/1999) ohne weiteres zu verallgemeinern. Immerhin liegen zum Thema Individualisierung und Familie neueste sozialwissenschaftliche Untersuchungen vor, die allgemeine Klischees und gefühlsmäßige Einschätzungen der Situation der Familie stark relativieren. Bei genauerer Betrachtung erweist sich, daß Familie und familiäre Solidarität trotz aller Trends zur Individualisierung gelebt werden. Dies setzt allerdings voraus, daß die Lebensbereiche Familie, Beruf und persönliche Zeit gerade in der postindustriellen Gesellschaft besser aufeinander abgestimmt werden.

So weist etwa der deutsche Familiensoziologe Hans Bertram ("Familien leben. Neue Wege zur flexiblen Gestaltung von Lebenszeit, Arbeitszeit und Familienzeit") in Abgrenzung zu den populären Hypothesen, der Individualismus und die Selbstverwirklichung der Menschen in modernen Gesellschaften seien die alleinigen Ursachen für den Rückgang der Geburtenrate und den Verfall des kulturellen Kapitaltransfers in den Familien, nach, daß solche monokausalen Erklärungsansätze zwar gesellschaftspolitische Stimmungen wiedergeben, aber empirisch falsch sind.

Der zu einfachen Annahme, aus steigenden Scheidungsraten oder der zunehmenden außerhäuslichen Erwerbstätigkeit von Müttern gleich auf ein schwindendes Zusammengehörigkeitsgefühl in den Familien wie in der Gesellschaft überhaupt sowie auf eine generell zurückgehende Investitionsneigung von jungen Eltern in Kinder schließen zu können, stellt Bertram anhand von Untersuchungen die Behauptung entgegen, daß sich in einer Familie der Aufbau von emotionaler Bindung und einer Beziehung des gegenseitigen Vertrauens sowie familiale Solidarität weniger auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern vielmehr auf das alltägliche und unmittelbare Zusammenleben und die Kommunikation in der Familie gründen.

Dem in der Sozialwissenschaft, aber auch in der öffentlichen Diskussion vielfach beklagten Bindungsverlust in der modernen Gesellschaft und dabei vor allem auch in der Familie hält Bertram entgegen, daß die Eltern-Kind-Beziehungen neben den Partnerbeziehungen heute mit Abstand zu den subjektiv befriedigendsten zählen. Dies findet nicht nur in der Zeitverwendung (vor allem junger Eltern) und im Freizeitverhalten, sondern auch im Hinblick auf zu erwartende - und auch tatsächlich erbrachte - Pflegeleistungen im Alter seinen sichtbaren Ausdruck. Außerdem werden die Beziehungen von den Eltern zu ihren Kindern, aber auch von den jungen Erwachsenen (die übrigens zu über 40 Prozent bis zu ihrem 24. Lebensjahr bei ihren Eltern leben) zu ihren Eltern als durchaus positiv empfunden, sodaß die zwischen Eltern und ihren Kindern aufgebauten gefühlsmäßigen Bindungen in der überwiegenden Mehrheit ein Leben lang halten.

Angesichts der Tatsache, daß auch Personen mit individualistischen und postmateriellen Werthaltungen diese Art von Vertrauensbeziehungen aufbauen, kommt Bertram zu dem Schluß, daß jene Form von Solidarität, die manche Untergangspropheten so gerne schwinden sehen, zumindest im familialen Kontext immer noch mehr als gut funktioniert. Deshalb laute die gesellschaftspolitische Aufgabe, diese familialen Solidaritätsressourcen institutionell für die Zukunft abzusichern und dabei so zu organisieren, daß etwa auch kinderlose junge Ältere bereit sind, einen Teil ihrer Lebenszeit für die Pflege von Hochbetagten aufzuwenden; dies in der sicheren Erwartung, daß sie selbst einmal auch diese Unterstützung erfahren werden.

Bertram stellt anhand von Zeitbudgetstudien auch dar, daß Eltern heute, trotz zunehmender außerhäuslicher Erwerbstätigkeit der Frauen, sowohl an Geld wie auch an Zeit sehr viel mehr in - allerdings immer weniger - Kinder investieren. Dabei wird das zur Verfügung stehende Zeitkontingent entsprechend der Bedürfnisse der vor allem kleinen Kinder einfach umgeschichtet. Vor allem bei den (erwerbstätigen) Müttern wird dieses zeitliche Engagement durch eine spürbare Verringerung der persönlichen Regenerationszeit ermöglicht. Von den materiellen Investitionen der Eltern in die längeren und aufwendigeren Ausbildungen der Kinder profitiert übrigens durch die Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte vor allem der Staat.

Die Überlastung von Eltern in zeitlicher Hinsicht ergibt sich aber vor allem daraus, daß Frauen, aber zunehmend auch Männer, in ihren "besten Jahren", also zwischen dem 26. und 46. Lebensjahr, gleichzeitig ökonomische Selbständigkeit, beruflichen Erfolg, die Gründung einer Familie und die Erziehung und Betreuung der Kinder bewältigen müssen. Die Konzentration von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit auf diese relativ kurze Zeitspanne ist eine Folge der allgemein längeren Lebenserwartung und der gleichzeitig deutlich abgenommen Lebensarbeitszeit. Durch die heute dominierende starre Zeit- und Arbeitsstruktur lebt die Gesellschaft aber quasi zweigeteilt, indem die einen für eine relativ kurze Zeit ihres Lebens uneingeschränkt erwerbstätig sein sollen, während die anderen, die sich eine bestimmte Zeit der Kindererziehung widmen wollen, wiederum im Berufsleben benachteiligt sind.

Um nun diese gewonnenen Jahre sinnvoll nutzen zu können, plädiert Bertram für die Entwicklung von Lebensverlaufsmodellen, in denen sich Lebensphasen der Ausbildung, der Berufstätigkeit, der Kindererziehung, der Weiterbildung, des gesellschaftlichen Engagements, der Übernahme öffentlicher Aufgaben und schließlich der Solidarität im Alter beziehungsweise der Rente abwechseln und damit zu einem insgesamt erfüllten Leben beitragen können. Durch eine auf diese Weise bessere zeitliche Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit würde sich auch die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht mehr in dieser Schärfe stellen wie heute. In praktischer Hinsicht würden der Neuorganisation von Lebensläufen etwa Zeitkonten oder Anrechnungsmodelle dienen.

Es versteht sich, daß eine derartige Destandardisierung von Lebensverläufen, die nicht nur den Wünschen vieler Frauen und Männer bereits heute entspricht, sondern auch angesichts des raschen technologischen Wandels und dem Abschied von der klassischen eingleisigen Berufskarriere eine quasi natürliche Entwicklung darstellt, auch individuell geplant werden können muß.

Im Interesse dieser im Zeitalter der Individualisierung notwendigen Neuordnung der klassischen Dreiteilung des Lebensverlaufs müßte es allerdings auch zu einer entsprechenden Änderung der Ausbildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kommen. Da moderne Dienstleistungsgesellschaften keinesfalls auf (qualifizierte ) Frauen im erwerbsfähigen Alter verzichten können, gehört dabei die Integration der Lebensbereiche Familie und Beruf zu den großen Zukunftsaufgaben. Eine wesentliche Voraussetzung dafür wäre für berufstätige Mütter etwa das Abgehen von der Vorstellung, daß nur eine kontinuierliche Berufskarriere eine erfolgreiche sein könne sowie auch das Abgehen vom Senioritätsprinzip bei Beförderung und Entlohnung.

Wie sich zeigt, wird die Familie auch den Trend zur Individualisierung überstehen. Aber dafür ist es notwendig, jungen Leuten Wege aufzuzeigen, wie sich ihre höchstpersönlichen Lebensentwürfe mit einem Leben mit Kindern vereinbaren lassen. Für die Akzeptanz der Lebensform Familie und damit die Zukunft der Familie wäre es jedenfalls gar nicht gut, ja sogar gefährlich, die Grundwerte der Moderne, Freiheit und Selbstbestimmung, für unvereinbar mit einem familiären oder gemeinschaftlichen Lebensstil anzusehen und dagegen an "altmodische" Familientugenden zu appellieren oder die Berufstätigkeit von Frauen zu hinterfragen. Denn eine solche Argumentation, die Eltern ihr tägliches Bemühen, Familie unter den Umständen der Moderne zu leben, abspricht, führt nur in eine Sackgasse und wäre dann wirklich das Ende jedes familiären Zusammenhalts. Vielmehr muß es darum gehen, durch ein mutiges In-unsere-Zeit-Setzen der Lebensform Familie auch bei Skeptikern und passionierten Individualisten das Zusammenleben mit Kindern denkmöglicher und so vielleicht auch spannender erscheinen lassen.

Der Autor ist stv. Abteilungsleiter im Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie.

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