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Heimliche Verführer der Familie

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Am Ende des zweiten Weltkrieges schien die Familie durch die schweren Erschütterungen viel von ihrer Bedeutung verloren zu haben. Manche Soziologen und Politiker hatten geradezu das Ende von Ehe und Familie als bestimmende Ordnungsmacht der Gesellschaft vorausgesagt. Vor allem die abnehmende Erziehungsfähigkeit der Familie galt als Zeichen einer Entwicklung, die weder aufzuhalten noch gar etwa rückgängig zu machen sei. Sehr bald zeigte sich jedoch, daß das Elternhaus nach wie vor die bestimmende Grundlage der Jugenderziehung geblieben war.

Dabei ist es eine unumstößliche Tatsache, daß die fortschreitende Differenzierung der Industriegesellschaft der Familie zahlreiche Funktionen zwangsläufig abnehmen mußte, insbesondere auch die schulische und die Berufsausbildung. Dieser Prozeß ist genau so unaufhaltsam, wie er andererseits keinen Angriff auf die zeitlosen Kernfunktionen der Familie bedeutet. Durch die Betreuung der Kinder und Jugendlichen in Familienersatzeinrichtungen, durch den verstärkten Einfluß des Lebensraumes der Jugendlichen zwischen Elternhaus und Schule sowie den der Massenmedien wird jedoch der entscheidende Primärraum familiärer Jugenderziehung immer mehr eingeengt. Das Elternhaus steht teilweise in harter Konkurrenz mit den außerfamiliären Erziehungsmächten. Notwendige und nützliche Ergänzungen der familiären Menschenbildung vermischen sich heute mit überflüssigen, ja störenden Eingriffen, in das Erziehungsgeschehen des Elternhauses.

Die Positiva

Eine schwierige Frage in unseren Tagen ist deshalb diejenige nach dem Wert außerfamiliärer Kinderbetreuungseinrichtungen wie Kinderkrippe, Krabbelstube, Kindergarten, Tagesheimstätte, Internat, Jugendklub usw. Die Bewertung dieser Einrichtungen kann vom familiensoziologischen und sozialpädagogischen Standpunkt aus nicht einheitlich sein. Soweit Kleinstkinderbewahranstalten, Ganztagskindergärten, Tagesheimstätten usw. Hilfe in Not sind oder — vor allem die Halbtagskindergärten — die Familienerziehung unterstützen, ist ihre Bedeutung unbestritten. Man denke nur an die Kinder aus unvollständigen Familien (Witwen, ledige Mütter, verlassene Mütter). Man denke an die immer noch nicht wenigen übrigen Fälle, in denen eine Familienmutter aus zwingenden wirtschaftlichen Gründen einer Erwerbstätigkeit nachgehen muß. Man denke auch daran, daß eine Familienmutter mit zahlreichen Kindern ohne einen entsprechend modern und arbeitserleichternd eingerichteten Haushalt und ohne Hausgehilfin, die sie entweder nicht bekommen oder nicht bezahlen kann, oft nicht in der Lage ist, sämtliche Kinder in zufriedenstellender Weise selbst während des ganzen Tages zu betreuen. In solchen Fällen ist es zweifellos ein Segen, daß es die erwähnte Einrichtungen gibt, die in wohltuender Weise eine Hilfe für Kind und Familie bedeuten und deren Fehlen oft geradezu ein Unglück wäre.

Darüber hinaus kommt vor allem dem halbtägigen Kindergartenbesuch eine grundsätzlich positive Bedeutung als Ubungsfeld zum besseren Erlernen der Einordnung des Kindes in die größeren Gemeinschaften (vor allem in die der Klassen- und Schulgemeinschaft) zu. Aus entwicklungspsychologischen Gründen hat dazu jedoch das abgeschlossene dritte Lebensjahr zu gelten. Eine besondere Bedeutung hat der Kindergarten für Einzelkinder, da diese im breiten Durchschnitt, vor allem im großstädtischen Raum, nur in einem Kindergarten die so notwendige Geselligkeit und das Spiel mit ungefähr gleichaltrigen Kindern erleben und dabei die soziale Anpassung lernen können. Daß ein guter Kindergarten für Kinder aus asozialem, verwahrlostem Milieu einen erheblichen Nutzen bedeutet, ist selbstverständlich.

Die Kehrseite der Medaille

Die große Bedeutung der Klnder-betreuungseinrichtungen führte im Laufe der Jahrzehnte zu einem immer stärkeren Ausbau dieser Institutionen. Unterstützt und beschleunigt wurde dieser Prozeß durch die beiden Weltkriege. Das sprunghafte Anwachsen der Kinderbetreuungseinrichtungen war sowohl Folge als auch Ursache der um sich greifenden „Hausflucht“ vieler Frauen. Als positiver Katalisator dieser Entwicklung wirkten die den außerhäuslichen Erwerbsberuf auch der verheirateten Frau programmatisch fordernde Emanzipationsbewegung und die konsequent vorangetriebenen Bestrebungen des Sozialismus, die den systematischen Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen zur allseitigen Ermöglichung eines außerhäuslichen Erwerbsberufes auch der Familienmütter verfolgten.

Dadurch haben die diversen Kinderbetreuungseinrichtungen allmählich eine zwiespältige Rolle bekommen. Einerseits ist die positive Bedeutung ihrer Sozialfunktion (Familienersatz als Hilfe in Not) erhalten geblieben. Anderseits führte diese Entwicklung gleichzeitig zu einer Begünstigung der „Hausflucht“ vieler Familienmütter und damit zu einer folgenschweren Abnahme der familiären Erziehungsbereitschaft bzw. zur noch weitergehenden Minderung ihrer durch die Komplizierung der allgemeinen Lebensumstände ohnehin angeschlagenen Erziehungsfähigkeit. Die Kinderbetreuungseinrichtungen sind heute in breiten Bevölkerungsschichten nicht selten ein Anreiz für die unbegründete oder übermäßige Uberantwortung der elterlichen Pflege- und Erziehungspflicht an private und öffentliche Einrichtungen. In diesen Fällen verkehrt sich ihre segensreiche Wirkung ins Gegenteil. Als programmatisch oder aus Beauemlichkeit angestrebter prinzipieller bzw. faktischer Familienersatz sind diese Einrichtungen gleichzeitig Feinde der Familie geworden, lautlos, heimliche Verführer zu relativer Familien-losigkeit.

Die Einschrumpfung der Familie

Angesichts dieser Entwicklung ist es — im Einklang mit dem Urteil der einschlägigen Wissenschaften — eine vordringliche Aufgabe der Familienbewegung, auf die großen Gefahren hinzuweisen, die den Kindern, der Familie und dem Volk aus dem erzieherischen Aderlaß des Elternhauses durch unnötige oder übermäßige Inanspruchnahme der Kinderbetreuungseinrichtungen drohen. Die daraus resultierenden Schäden in der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes sind vielfach irreparabel und bewirken in krassen Fällen später nicht selten neurotische Fehlhaltungen, die bis in das persönliche Versagen in Beruf und Ehe fortwirken.

Die Familie als primäre Kulturstätte des Menschen erfordert die gemüthaften, harmonisierenden und beglückenden Kräfte einer ganzen mütterlichen Frau, was bei Vorhandensein erziehungsbedürftiger Kinder im breiten Regelfall (zahlreiche Ausnahmen seien gerne zugestanden) einen zweiten, ganztägigen und vor allem außerhäuslichen Beruf ausschließt.

Es ist von entscheidender Bedeutung, daß das gegenwärtige Übel relativer Familienlosigkeit vieler Kinder nicht an den Symptomen, sondern an der Ursache bekämpft wird. Dem Grundsatz nach ist es also nicht sinnvoll, die verminderte Erziehungsfähigkeit beziehungsweise Erziehungsbereitschaft der Eltern mit einer systematischen Begünstigung der Uberantwortung der Kindererziehung an die außerfamiliären Erziehungsinstanzen zu beantworten. Die richtige Lösung besteht vielmehr darin, den Eltern entsprechende Erziehungshilfen zu gewähren und an die unabtretbare Primärpflicht des Elternhauses hinsichtlich Betreuung und Erziehung der Kinder zu appellieren.

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