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Jugend unter dem Strafgesetz

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Erziehung, Milieu, Vererbung — drei Formkräfte Heranwachsender — werden zu entscheidenden Streitpunkten, wenn es im „akuten“ Fall darum geht, wem die Verantwortung für die Verfehlung eines Minderjährigen anzulasten ist. Bedauerlicherweise taucht diese Frage nach der entscheidenden Fehlerquelle im Werdegang eines jungen Menschen meist erst dann auf, wenn der Jugendrichter, der Psychologe, die Fürsorgerin, der Seelsorger in Funktion treten müssen. Vor der Straffälligkeit bietet das Gesetz oft keine .Handhabe“, um vorzubeugen: Einem Wiener Bekannten, der sich an die Fürsorge wendet, damit zwei Kinder dem unheilvollen Einfluß ihrer Eltern entzogen würden, erklärt man: „Es ist ja noch nichts geschehen!“ Der Vater, ein unverbesserlicher Quartalsäufer, befand sich zwar schon zweimal für einige Monate im Gefängnis, die haltlose Mutter ist unfähig, Kinder zu erziehen. So gehen der elfjährige Knabe und das achtjährige Mädchen' „unter die Leute“, essen sich gelegentlich in der Nachbarschaft satt, werden von Wirtsleuten ab und zu für kleine Dienste entlohnt. Eine Besserung dieser Verhältnisse ist nicht abzusehen. Aber: „Es ist ja noch nichts geschehen!* Auch in anderen Fällen, da Fürsorge eine Vorsorge, ein Bewahren vor dem Abgleiten sein sollte, werden hilfesuchende und hilfsbereite Erwachsene von Stelle zu Stelle geschickt, ohne daß etwas geschieht: entweder versagt das Gesetz oder reichen die Geldmittel nicht, fehlt es an Unterbringungsmöglichkeiten oder, zwischendurch, an der Einsicht der behördlich Beauftragten.

Österreichs Jugendgesetzgebung und Fürsorge genießen mit Recht ein hohes Ansehen. Die Praxis hat nach 1945 dennoch eine Reihe von Unzulänglichkeiten und Gesetzeslücken aufgedeckt, die nach Änderung verlangen. Es ist unter anderem eine begrüßenswerte Gepflogenheit, daß Jugendliche bis zur Gerichtsverhandlung gegen Gelöbnis tunlichst enthaftet werden und eine erste Übertretung oft nur ein mildes Urteil mit Bewährungsfrist bis zu drei Jahren nach sich zieht. Tatsache ist aber, daß Minderjährige »auf Bewährung“ mit ihrer Konduitenliste bei Bewerbungen um Lehr- und Arbeitsstellen, vor Einschreibung in eine Schule gegenüber Altersgenossen, die eine Strafe bereits „abgesessen“ haben, benachteiligt sind. Ferner wird abgeurteilten jungen Menschen auf Grund von Paragraphen und ohne individuelle Uberprüfung der Besuch höherer Schulen verwehrt. Geradezu stumpfsinnig aber mutet jener Paragraph 50 der bis heute geltenden JugendwohliainlsVerordnung vom 20. März 1940 an, wo es heißt: . ...Die. Fürsorgeerziehung darf nicht angeordnet werden, wenn sie offenbar keine Aussicht auf Erfolg bietet.“ Bekanntlich sind es ja gerade die zweifelhaften Fälle, die eine Fürsorgeerziehung erfordern. Nach vollendetem achtzehntem Lebensjahr bis zur Großjährigkeit gäbe es noch für manchen jungen Mann und für manches gefährdete Mädchen eine Besserungsmöglichkeit; doch hier klafft eine empfindliche Lücke im Gesetz. Dient es etwa der .Würde“ des erwachsenden Menschen, wenn ein junges Mädchen dieser Altersstufe, nur weil keine praktische Aufsichtsmöglichkeit und Betreuung mehr anwendbar sind, zur Straßendirne wird?

Fast die Hälfte der jugendlichen Kriminellen wird rückfällig und bildet zum Teil den Nachwuchs des Berufsverbrechertums. Während der Abbüßung der Strafen selbst ist für eine geregelte Lebensweise, für Arbeit oder berufliche Fortbildung der Häftlinge im allgemeinen gesorgt. Verpflegung und Behandlung werden ebenfalls als gut bezeichnet. Bleibt auch bezüglich der gruppenweisen und individuellen Erziehung während der Haftzeit oder in geschlossenen Anstalten manches zu wünschen übrig, so liegt das Problem dieser abwegigen Jugend keineswegs in einer Gefängnisreform, im Paragraphenmäßigen oder Organisatorischen: Vorbeugung, Verhinderung der Straffälligkeit und, nach verbüßter Strafzeit, die Rückkehr in einen geregelten Werktag — das sind jene Fragen, die den Staat und die Gesellschaft zu beschäftigen haben!

Bevor wir auf die „Nachbehandlung“ gestrauchelter Jugendlicher eingehen, müssen einige hintergründige und auslösende Ursachen für ihr Vergehen, für die destruktive Gesinnung im Jugendalter genannt werden. Wer oder was ist also an diesen Rechtsbrüchen der Heranwachsenden „schuld“?

Vor allem hüte man sich vor billigen Verallgemeinerungen und vorschneller Klassifizierung und Überbetonung der aus einem lebendigen Zusammenhang herausgelösten augenfälligen Ursachen! Es handelt sich doch jedesmal um die Gefährdung, um Zerstörungen der seelischen Provinz. Oft geben Erziehungsfehler den Ausschlag: sträfliche Vernachlässigung oder allzu große Strenge der Eltern. Häufig genug spielen vor allem die sozialen Mißstände eine entscheidende Rolle: der Sohn einer zehnköpfigen Familie, die in einem Raum zusammengepfercht lebt, verfällt auf den Metalldiebstahl, verliert seine Lehrstelle, wird aber trotzdem bald „nach Hause“ entlassen. Eine „Platte“ hatte ihn verführt; er hatte sich an sie angeschlossen, um nicht ständig in dem Wohnloch zu sitzen. Ohne Wechsel des Milieus darf man von diesem Minderjährigen nichts erwarten und eigentlich auch nichts verlangen.

Gleichzeitig aber geschieht es, daß Kinder aus gesunden, sozial gesicherten Verhältnissen das Gericht beschäftigen. Frühreif, der elterlichen Zucht allzu rasch entwachsen, .genießen“ sie das Leben sehr bald nach dem Vorbild der Erwachsenen, der Umgang mit gleichgesinnten Alters-gepossen beseitigt die Hemmungen, sie verwechseln Komplicentum mit Kameradschaft. Während „Durchschnittsfälle“ häufig auf soziale Mißstände, grobe Erziehungsfehler und ähnliches zurückgeführt werden können, fällt bei schweren Straftaten auf, daß sie anteilmäßig mehr auf das Konto von Psychopathen zu buchen sind. Vererbung und Veranlagung bedürfen dabei bloß irgendeines auslösenden Moments. Insgesamt aber zeigt mehrjährige Beobachtung, daß in den allermeisten Fällen tieferliegende, seelische Einflüsse an der jugendlichen Haltlosigkeit wesentlich Schuld tragen: die Kinder kennen kein glückliches Elternhaus, der Vater fiel im Kriege, die Eltern sind geschieden, das Vor-Leben, die sittlich-religiöse Erziehung fehlt.

Seit über zwei Jahren haben sich die Verhältnisse in der Strafrechtspflege Jugendlicher soweit normalisiert, daß Krieg und Nachkriegsverhältnisse als allgemeine Erklärung der Delikte nicht mehr hinreichen. Erschreckend jedoch wirkt sich häufig der gesamte „Lebensstil“ unserer Gegenwart auf das labile Seelenleben Heranwachsender aus: der Mangel tragfähiger Ideale, das Vorherrschen des Sexus, eine morbide Film-, Buch-, Plakat-und Unterhaltungs„kultur“. Neben einem propagierten, übersteigerten Lebensgenuß macht sich die Nichtachtung des menschlichen Lebens — des fremden wie des eigenen — bemerkbar. Immer wieder zeigen junge Menschen im Gefängnis Angst und Bangen vor ihrem Weg zurück in unsere Gesellschaft.

Die Grundforderungen der Prophylaxe und der „Nachbehandlung“ gefährdeter Jugendlicher decken sich weitgehend: ein ordentliches Zuhause oder individuelle Betreuung in einem Heim, passende Beruf serziehung und vor allem — Freizeitgestaltung unter unauffälliger Anleitung in einem Kreis anständiger junger Menschen. Um die Mädchen müßte sich die Fürsorge diesbezüglich besonders bemühen; sie sind schutzloser und gefährdeter als ihre männlichen Altersgenossen. Jede „Ersparnis“ an neuen, notwendigen Erziehungsanstalten, jede „eingesparte“ Unterbringung gefährdeter Kinder, jedes nichtgebaute Freizeitheim, der Verzicht auf individuelle Betreuung durch gutbezahlte, fähige Erzieher führen auf der anderen Seite zu enormen Ausgaben für Rechtsschutz und Rechtssicherheit unserer Gesellschaft, zu nicht wiedergutzumachenden anderweitigen Schäden. Mit diesem Hinweis wird zugleich eine häufig gestellte Frage beantwortet: Lohnt sich diese Mühe um defekte Jugendliche, nachdem es oft sogar für ordentliche, gesunde Jugendliche an Mitteln gebricht? Auch budgetär machte sich demnach diese Ausgabe an heranwachsenden, künftigen Staatsbürgern bezahlt.

Diese Antwort verweist zugleich auf die wertvolle Mitwirkung der kirchlichen Fürsorge und Jugendpflege, die heute von behördlichen Stellen anerkannt wird. Die Geduld mit dem „hoffnungslosen“ Fall ist christliche Geduld, die unbedingte Hilfsbereitschaft, auch wenn sich „offenbar keine Aussicht auf Erfolg bietet“, entspringt dem Ethos dienender Liebe. Das von all diesen jungen Menschen in guten Augenblicken ersehnte „neue Leben“ muß im Grunde geschenkt werden. Das spürt jeder, der an diesen hilfsbedürftigen, jungen Menschen fürsorgende, pflegerische Arbeit des Gärtners tut. Diese Arbeit am Menschen bleibt darum auch in erster und letzter Instanz ein Problem des Menschen, der Persönlichkeit.

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