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Die heikle Beziehung zum Du

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DA DIE URSACHEN einer ausbrechenden geistigen Erkrankung stets in persönlichen, individuellen faktoren stecken, kann weder die Behandlung noch die Nachbetreuung nach einem unpersönlichen Schema erfolgen. Also wurde es unerläßlich, ähnlich wie es für durch Krankheiten oder Unfälle Körperbehinderte, die ebenfalls einer Periode der Anpassung bedürfen, seit längerer Zeit eingeführt ist, ein Rehabilitationszentrum zu schaffen. Da bezüglich der Rehabilitation im allgemeinen und bezüglich jener der geistig Erkrankten im besonderen bisher eine lückenhafte zerrissene Gesetzgebung vorlag, die den Ergebnissen der modernen Forschung nicht Rechnung trug, konnte die entscheidende erste Initiative von den eigentlich zuständigen Behörden, da diese nicht über ausreichende statutenmäßige Handhaben verfügten, nicht erwartet werden.

SO GESCHAH ES, DASS AUSSERAMTLICHE Nebenwege beschritten wurden, indem bestehende Kontakte zwischen der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik unter der Leitung von Prof. Dr. Hoff, dem Direktor der Caritas Wien, Prälat Dr. Ungar, und Direktor Macho von der SOS-Gemeinschaft ausgebaut werden konnten. Sie führten vor zwei Jahren zur Gründung des ersten österreichischen Rehabilitationszentrums für psychisch Erkrankte in Maria-Lanzendorf bei Wien, also zu einer Pioniertat ersten Ranges. Glücklicherweise fand sich in den Brüdern Unserer Lieben Frau von Lourdes, die aus Holland kamen und sich auf die Betreuung Geisteskranker spezialisiert haben, ein Team sorgfältig ausgebildeter Fachleute, wie man es sich besser nicht wünschen kann.

Wer die weitläufigen, im Sommer in Grün gebetteten Anlagen (einstmals ein ländliches Grafenschlößchen) betritt, hat zunächst den Eindruck, sich in einem Studentenheim oder einer ähnlichen Institution zu befinden. Er findet Räume, die teils mit Stilmöbeln, teils mit modernem Mobiliar eingerichtet sind, wobei auch Kunstwerke und Produkte des Kunsthandwerks nicht fehlen, alles in allem eine behagliche Atmosphäre, die eher an die Wohnung eines Mäzens mit vielen Gästen als an ein Heim im Sinn der Sozialbetreuung und schon gar nicht an eine Anstalt zu Heilzwecken erinnert. Wer aus einer österreichischen Klinik, die, seien auch alle denkbaren neuzeitlichen Erkenntnisse der Innenausstattung der Räume verwirklicht, ihren Charakter als Hospital schon infolge ihrer Zweckarchitektur nicht abstreifen kann (hoffentlich wird bei Neubauten auch an etwas wie eine „therapeutische Architektur“ gedacht), nach Maria-Lanzendorf kommt, kann hier gleich beim Überschreiten der Schwelle wohlig gelöst aufatmen:

DIES ALLEIN SCHON, DIE FUNKTION privaten Wohnens, die sich auf den ersten Blick darbietet, ist ein entscheidender Faktor für den weiteren Weg des Rekonvaleszenten. Jeder Neuankömmling wird von den Brüdern, die einschließlich des Direktors und Leiters der Station, Bruder Ludolf, im allgemeinen kein geistliches Gewand, sondern Zivilkleidung tragen, um sich von ihren Schutzbefohlenen nicht zu unterscheiden, als Gast und Freund begrüßt und in diesem Geist durch Wochen und Monate betreut. Seine Wünsche, Anregungen und sämtlichen Lebensäußerungen werden ernst genommen und respektiert, er findet sich nicht einer Phalanx ihn bevormundender, autoritativ besserwissender Erzieher gegenüber, sondern sehr erfahrenen Männern, die ihm brüderlich offen begegnen, seine und Gemeinschaftsprobleme freimütig und ohne Heimlichtuerei privat oder in größerer Runde diskutieren. Sie wissen genau, daß fast jeder aus einer Nervenheilanstalt Eintreffende an Insuffizienzgefühlen leidet, die ein Gegenstück zur berüchtigten und auch deren Heilung erschwerenden „Krüppelpsychose“ vieler Körperbehinderter bildet. Ebensoweit wie von der Entfaltung unnützer Strenge ind sie aber auch von einer Haltung entfernt, die regressive Tendenzen unter ihren Schützlingen fördern könnte.

Was nun an gezielter therapeutischer Arbeit geschieht, unterteilt sich mehrfach. Bei der medizinischen Betreuung, die unter der Leitung von Oberarzt Dr. Berner steht, geht es um die Fortsetzung der in der Klinik geleisteten Psychotherapie und medikamentösen Behandlung, die in den Händen von Assistent Dr. Bruck, (beide von der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik Wien) liegt, und die parallel mit der sogenannten kreativen, das heißt schöpferischen Therapie geht. Bei dieser werden die einzelnen von einem der Brüder zum Zeichnen und Malen angeregt, bei einiger Eignung auch zu plastischen Arbeiten. Diese Tätigkeiten bereiten Freude und emotionale Erleichterung, es entstehen zahlreiche hübsche, auch für den Laien interessante Werke, von denen die geglücktesten als Raumschmuck verwendet werden. Dem Psychiater geben diese ohne Lenkung von außen spontan entstehenden Produkte in chiffrierter Form Auskunft über die innere Situation und manche Sonderproblematik ihres Erzeugers, die in der Folge berücksichtigt werden kann.

WICHTIG IST FERNER DIE Bewegungstherapie, da die Krankheit mehr oder minder deutliche Hemmungen der Motorik hinterläßt. Viel Sport und Ausgleichsgymnastik, vom Tischtennis bis zu Rasenspielen bieten die Möglichkeit zu ausreichendem Training, das zugleich in Training der Ich-, Du- und allgemeinen Gemeinschaftsbeziehungen bedeutet, tragen doch die meisten Sportarten Spielcharakter mit zwei oder mehr Beteiligten. In der schönen Jahreszeit wird übrigens die Jugend aus der Umgebung zur gemeinschaftlichen Sportausübung und zu Wettkämpfen eingeladen, und sie kommt, nicht zuletzt angelockt durch die schönen Anlagen, gern und in steigendem Maß. Dies bildet bereits einen Bestandteil der Milieutherapie, in deren Dienst gleichzeitig das Zentrum als Ganzes steht. Milieutherapie bedeutet, daß dem Betreuten eine Umwelt geboten wird, in der er sich sowohl geborgen als auch zur Kontaktaufnahme mit immer weiterreichenden Menschenkreisen angeregt fühlt.

Die Arbeitstherapie schließlich ist vcn ganz besonderer Bedeutung. Hier wird nicht einfach gebastelt, da das Basteln keinen realen Nutzzweck als Hintergrund besitzt, sondern es werden Gegenstände des täglichen Gebrauchs, Möbel, Türen, Fensterstöcke usw. hergestellt, die tatsächlich benötigt werden, und die dann jeder, der mitgearbeitet hat, in ihrer Funktion sieht und mitbenutzt. Einerseits wird darauf geachtet, daß der einzelne nicht überfordert wird, damit sein Mut vor unlösbaren Aufgaben nicht sinkt, anderseits ist jeder für seine Leistungen ernsthaft verantwortlich und wird nach dem schweren seelischen Tief seiner Krankheit darauf vorbereitet, wieder Verantwortung zu tragen und Ehrgeiz zu entfalten. Durch diese verschiedenen Therapieformen, durch das ermutigende und ermunternde Zusammenleben mit den Brüdern wie mit den Schicksalsgenossen, die mit den gleichen Problemen zu ringen haben, dazu in den Stand versetzt, verbringt ein Großteil der Betreuten das Wochenende bei der Familie oder bei den Eltern, und wer bereits dazu in der Lage ist, geht vom Zentrum aus auch schon einer Berufsarbeit nach, bis der Tag kommt, da er wieder selbständig im Leben stehen kann.

DIE ERFOLGE DIESES ERSTEN Rehabilitationszentrums werden von Prof. Hoff, der regelmäßig Besuche abstattet, und von der Fachwelt als so ausgezeichnet angesehen, daß zu hoffen ist, die zuständigen Stellen des Staates, der Länder, Gemeinden und der Krankenkassen mögen die Bedeutung der Einführung begreifen und kräftig ■ zur • Förderung desbestehenden und zur Neuerrichtung weiterer gleichgearteter Zentren beitragen. Maria-LanzenÜorf bietet mit seinen gegenwärtigen (jedoch ohne-weiters ausbaufähigen) Räumlichkeiten für rund 30 Genesende Raum — für ganz Österreich wären jedoch Einrichtungen für mindestens 500 Personen nötig!

Daß der Kampf bis zur Erreichung dieses Ziels sehr hart sein wird, liegt nach wie vor an der negativen Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber den Geisteskranken, die bewirkt, daß auch die gänzlich Genesenen, gelinde ausgedrückt, als Deklassierte gelten und ein vermindertes Sozialprestige genießen. Hier ist, das geht die Presse und übrigen Massenmedien unserer Zeit an, noch eine immense Aufklärungsarbeit zu leisten, von deren Erfolg es letztlich abhängt, ob die für einstige Begriffe unerhörten Leistungen der modernen Psychiatrie, die sicherlich noch weiteres Terrain erobern wird, und die die Bezeichnung „unheilbar“ nur mehr für einen geringen Prozentsatz von Ausnahmefällen gelten läßt, schließlich von jenem Enderfolg gekrönt wird, auf den es ankommt: daß der genesene, zeitweilig geistig erkrankt gewesene Mitmensch als ebenso gesund und vollwertig anerkannt wird wie jeder andere, körperlich erkrankt gewesene Zeitgenosse auch.

Gerade die Psychiatrie, Psychoanalyse und anthropologische Medizin und in ihrem Gefolge die Psychosomatik, haben Hinweise gefunden, wonach ein bedeutender Teil aller (auch körperlichen) Erkrankungen, die bis vor kurzem lediglich als unliebsame, manchmal zum Tode führende, jedenfalls aber sinnlose Be^ triebsunfälle der Maschine Mensch betrachtet wurden, in einem anderen Licht erscheint. Ist man hier auch erst auf der Spur neuer Einsichten und weit davon entfernt, zu einem endgültigen Fazit auch nur anzusetzen, so steht doch bereits fest, daß manchem Krankheitsgeschehen ein tieferer Sinn, und zwar ein Sinn zum Leben hin, innewohnt, als ihm äußerlich angemerkt werden kann. Die Zusammenhänge sind zumeist derartig verwickelt, daß dickleibige Bände nötig sind, den gegenwärtigen Stand der Forschung zu umreißen. Deshalb nur etliche Beispiele, die zum Denken anregen.

Die große Hysterie, früher ein weitverbreitetes Leiden, die zahlreiche Menschen, vornehmlich Frauen, für ihr Leben ins Unglück stürzte und deren Umgebung schwer belastete, konnte als im Leiblichen sich austobende Kompensation für unterdrückte Triebregungen im tabuierten Bereich der Erotik entlarvt werden. Sie ist, seit diesbezüglich lebensgerechtere Vorstellungen Raum gewonnen haben, weitaus seltener geworden, wobei allein die Tatsache, daß über die diesbezüglichen Probleme frei gesprochen werden kann, von Einfluß sein dürfte. Also hatte dieses böse Leiden, das in seinen Ausdrucksformen einen so starken Demonstrationscharakter trägt, daß es vielfach mit Simulantentum verwechselt werden konnte, unter anderem den tiefen Sinn, auf Fehlhaltungen des Befallenen wie seiner Sozialgemeinschaft hinzudeuten.

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