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Kain, wo ist dein Bruder?

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II. :

Umfang und Motiv der Selbstmorde in Wien war das Thema des letzten 1 Berichtes über die verdienstvolle 1 Untersuchung des Präsidenten des 1 Österreichischen Statistischen Zentral- i amtes, Dr. Hans Fuchs, über „Selbst- j mordhandlungen“ in Wien.

Natürlich befaßt sich die Statistik j auch mit der Person des Selbst- - mörders. Ähnlich dem gewissenhaften i Arzt, der sich erst genaue Kenntnis , der Krankheit beschaffen muß, um den i Patienten heilen zu können, muß der ] ernste Statistiker durch genaue Unter- ‘ suchungen erforschen, wo das Übel i sitzt, damit es wirksam bekämpft wer- ‘ den kann. Zugegeben, den bisherigen • Opfern kann damit nicht mehr ge- i holfen werden — wie alle jene, die in ] der Statistik eine unnötige Zeit- und i Geldverschwendung sehen, einwenden werden. Aber durch gewissenhafte Er- j forschung der bis jetzt verübten Selbst- i morde wird der Weg zu einer vor- beugenden Behandlung gewiesen, um die Häufigkeit dieses sinnlosen Ster- bens für die Zukunft eindämmen zu 1 können. Und wenn es nur ein einziges i Menschenleben wäre, das dadurch vor : Selbstzerstörung bewahrt bliebe, wäre der Beweis für das Sinnvolle solcher : Forschungen erbracht.

Die Selbstmordneigung wird vor allem durch das Geschlecht bestimmt: Der Mann neigt leichter dazu, die Flinte ins Korn zu werfen, als die Frau. Wenngleich die Zahl der weiblichen Selbstmörder sich immer mehr vergrößert, überwiegt noch immer bei weitem das männliche Element. Die Frau, als Lebengebärerin und Lebenerhalterin, scheint sich mehr als der Mann an das Dasein zu klammern. Beruf und Konfession

Über den Einfluß des B e r u f e s und der sozialen Stellung auf die Selbstmordneigung liegen nur sehr lückenhafte amtliche Aufzeichnungen vor. Feststeht jedenfalls, daß die ländliche Bevölkerung weniger zum Selbstmord neigt als die städtische.

Vor £ Ja un rtwendd bei def ehemaligen österreichischen k. u. k. Armee ‘beobachtet. Als man der Ursache nachging, stellte sich heraus, daß es das „schöne, ehrenvolle Begräbnis" war, das bei mehr als 400 Soldaten eine Psychose auslöste, die zum Selbstmord drängte, um dieser militärischen Ehren teilhaftig zu werden. Sobald hierauf die Verfügung getroffen wurde, daß Militärpersonen, die Selbstmord begehen, nur noch in aller Stille und Schlichtheit beigesetzt werden durften, war man mit einem Schlage dieser Seuche Herr geworden.

Wenn auch nicht zahlenmäßig zu belegen, bleibt die Tatsache unbestritten, daß manche Berufstätigkeit, besonders, wenn sie mit einer gewissen Eintönigkeit und Gleichförmigkeit verbunden ist, eine Voraussetzung zur Selbstmorddisposition schaffen kann. Daß man seinerzeit einmal glaubte, die selbstmordfördernde Tätigkeit des Schusterberufes allen Ernstes nach- weisen zu können, ist zwar kein Witz, war aber blanker Unsinn.

Es wird sehr oft die Ansicht vertreten, daß bestimmte Konfessionen sich hemmend auf die Selbstmordneigung auswirken. Tatsächlich ist es so, daß nahezu alle großen Weltreligionen den Selbstmord verdammen. Es ist nicht nachweisbar, zumindest nicht eindeutig, daß es auf eine bestimmte Religion selbst ankommt, vielmehr führen alle diese Überlegungen zu dem Schluß, es komme vor allem auf den Grad der Verbundenheit eines Menschen mit seinem Gott an und darauf, ob er sich auch in äußerster Bedrängnis den göttlichen Geboten unterwirft, bereit, auch die härtesten Schicksalsschläge als Prüfung anzunehmen, und ihn sein Glaube davor bewahrt, eine derart schwere Sünde zu begehen. Gewiß wird der Wille zur Selbsterhaltung durch eine tiefe Gläubigkeit wesentlich gestärkt werden.

Das Eheproblem

Die allgemeine Behauptung, das Eheleben bewirke eine verminderte Selbstmordneigung, hat viel für sich, jedoch trifft sie nur auf jene Ehen zu, in denen sich eine verbindende Atmosphäre gebildet hat. Die Statistik gibt wohl darüber Auskunft, daß vor der Jahrhundertwende die ledigen, in den Jahren 1950 bis 1959 aber die verheirateten Selbstmörder in der Mehr

zahl waren, jedoch sollten gerade hier die Vergleiche am besten unterbleiben. Es hat sich während der letzten hundert Jahre nicht nur die Stellung der Familie innerhalb der Gesellschaft, sondern auch die Familie selbst geändert. Es wäre deshalb müßig, hier Wert oder Unwert der Familie von gestern und heute gegeneinander abwägen zu wollen. Es gilt wohl für damals wie für die Gegenwart, daß ein Mensch, der sich in einer wohlgeordneten Familie geborgen weiß, weniger Neigung zum Selbstmord bekunden wird als einer, der zerrütteten Familienverhältnissen entstammt und vergebens in seiner nächsten Umgebung Halt suchen wird. Es kann nicht geleugnet werden, daß Ehe und Familie im Großstadtraum erhöhten Gefahren und Belastungen ausgesetzt sind, und nicht alle Ehen halten dagegen stand, wie die Wiener „Scheidungsfreudigkeit" beweist. Wir müssen aber nicht bis zum Äußersten gehen: es ergibt sich, selbst bei ansonsten ruhigem und relativ geordnetem Familienleben, in vielen Großstadtfamilien, bedingt durch die Berufstätigkeit der Ehepaare, sehr oft ein Mangel an „Nestwärme“, die Soziologen sprechen auch von einem „Herdverlust“. Mit anderen Worten, es kommt oft dazu, daß jedes Familienmitglied nur seinen Neigungen nachgeht, nur seine Freundschaften pflegt, die Kinder bleiben sich zwangsläufig tagsüber entweder selbst überlassen oder werden bestenfalls von Verwandten oder Bekannten betreut. Es tritt damit sehr oft eine Versachlichung der Gefühle und teilweise sogar eine gewisse Entfremdung der Familienmitglieder untereinander ein. All dies schafft natürlich für den einzelnen Menschen auch gewisse Voraussetzungen für eine eventuelle Selbstmordneigung. Nicht umsonst sprechen die Soziologen von einer erschreckend zunehmenden Vereinsamung des modernen Menschen, mit der die innere, seelische Vereinsamung

geJToEnt ist; gwde-das ,lßßp wohl schon ein jeder von uns selbst einmal erfahren, daß man sich in schweren Stünden kaum irgendwo anders verlassener und einfatner fühlen kann als gerade in der Großstadt.

„Wohlstandsselbstmord"

Die besondere Intensität der Selbst

mordhäufigkeit bleibt aber gegenwärtig nicht nur auf den Großstadtraum beschränkt, es ergeben sich vielmehr wellenartige Ausstrahlungen ins Land hinein, die sich mit zunehmender Entfernung vom Mittelpunkt immer mehr abschwächen. Es kommt, je nach der örtlichen Lage größerer Städte zueinander, aber auch oftmals zu einer Überschneidung oder zumindest Annäherung dieser Wellenbereiche. Diese Erscheinung wurde mit dem Bild einer ruhigen Wasserfläche

verglichen, auf der die Bewegung nach einem oder mehreren gleichzeitig hineingeworfenen Steinen sichtbar wird. Die Ursachen der höheren Selbstmordhäufigkeit im Großstadtraum selbst sind heute nahezu noch immer die gleichen wie vor■„,50;j Jajuep., vyenn- gleich in der Gegenwart noch’ verschiedene Faktoren huJ ptf etety.„d ? sich verstärKena äuswirken.’ ‘Als eine der hauptsächlichen Ursachen wird das schon zur Sucht gewordene Streben des Großstadtmenschen nach einem überhöhten Lebensstandard angeführt. Was frühere Generationen im Verlauf

eines arbeitsreichen Lebens oft nicht erwerben konnten, muß heute in wenigen Jahren erworben werden. Das vielfache Nichterreichenkönnen der angestrebten Ziele führt oft zu Spannungen, die Psychosen und damit eine Selbstmordneigung auslösen können. Sehr oft werden aber auch übereilte Käufe und ein Übermaß an Kreditschulden zum Verhängnis. Besonders während der letzten Jahre ging die Wirtschaft von einer Bedarfsdeckung zu einer „Bedarfsweckung“ über. Verlockende Angebote führten zu einer nahezu hektischen Jagd nach überhöhter Bedürfnisbefriedigung und Wohlstand im weitesten Sinne. So wie man heute bereits nicht mehr von einer „Notstands-“, sondern „Wohl

standskriminalität’ und einem „Wohlstandsalkoholismus“ spricht, zeichnet sich im großstädtischen Raum bereits das Problem einer „Wohlstandsselbstmordneigung " ab.

Tut etwasl

Es ist nun pjcht so. daß man der erschreckenden Selbstmordseüche bisher tatenlos zugesehen hätte. Seit knapp 14 Jahren ist dieJ Lebensmüden- fürsorge in unermüdlicher, pausenloser Arbeit am Werk, um helfend einzugreifen, und sie war bisher mit mehr als 18.000 Fällen befaßt. Allein im Verlauf des Arbeitsjahres 1958 59 gab

es mehr als 1500mal Alarm — aber in 347 Fällen kam bereits jede Hilfe zu spät. Es gelang jedoch, 1000 Menschenleben zu retten und mehr als 200 durch prophylaktische Behandlung von ihren Selbstmordabsichten abzubringen. Das Ärzte- und Schwesternteam der Lebensmüdenfürsorge der Caritas hat damit den Anruf „Alter alterius onera portate“ — „Einer trage die Lasten des anderen“ — gehört und in die Tat umgesetzt. Aber es ist nur ein verhältnismäßig kleiner Kreis von Menschen, die dem Gebot „Liebe deinen Nächsten" gefolgt sind, denn dieses Gebot gilt für jeden und wird nur zu oft heutzutage vergessen oder überhört, zum Teil aus Bequemlichkeit, aus Gedankenlosigkeit, ja — warum sollen wir es nicht auch ehrlich bekennen? — zum Teil aus einer gewissen Gefühlsroheit heraus. Die Mehrzahl von uns hat Zeiten durchgemacht, in denen das einzelne Menschenleben nicht viel galt, und manche scheinen diese Einstellung bis heute noch nicht ganz überwunden zu haben — mit einer einzigen Ausnahme: wenn es um ihr eigenes Leben geht. Aber wenn es ein anderer weggeworfen hat, rechtfertigt man sich nachher mit Redensarten, wie: „Das hab’ i c h nicht voraussehen können. Ich bin doch weder Arzt noch Psychiater." Und dessen bedürfte es nicht einmal, denn der Arzt oder Psychiater wird zumeist erst dann eingeschaltet, wenn es zumindest zu einem Selbstmord versuch gekommen ist. Etwas mehr Anteilnahme am Nächsten, etwas mehr Mitgefühl und Einfühlungsvermögen gegenüber dem Mitmenschen, mehr innere Bereitschaft, zu helfen, wenn es nötig ist, könnten schon sehr viel Unheil verhüten. Man weiß heute zum Beispiel, daß die Selbstmorde, wie fast alles Geschehen im menschlichen Leben, einem gewissen Rhythmus unterliegen, der eng an die Jahreszeiten geknüpft ist. Die Frühlingsmonate und der Sommerbeginn sind die gefährlichsten Zeiten für alle, die unter Depressionen leiden und rum Selbstmord neiget.

Wie schon erwähnt, geht es hier nicht um ein Spiel mit Zahlen, sondern um Menschenleben, die in Gefahr sind. .Pie Frage: ..„Kain, wo ist dein Brilder AbeJ7“ dürfen wir nicht nur alfc, im, engsten, Sinne gestellt auf- fassen. Sie ist nicht nur an den Mörder gerichtet, der ein anderes Leben gewaltsam auslöscht. Kain ist jeder, der es geschehen läßt und untätig zusieht, wie sich sein Bruder Abel selbst vernichtet.

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