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Ich war der Idealtyp Vollstreckung des

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Der „schöne Tod" : Ein Thema, über das sich wacker akademisch streiten läßt. Die folgenden Beiträge wenden sich engagiert gegen Euthanasie - aus der Sicht des behinderten Menschen.

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Der „schöne Tod" : Ein Thema, über das sich wacker akademisch streiten läßt. Die folgenden Beiträge wenden sich engagiert gegen Euthanasie - aus der Sicht des behinderten Menschen.

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19 44 betrat ein Angestellter der staatlichen Gesundheitsbehörde das Wohnzimmermeiner Eltern. Er wollte sie dazu überreden, mich zu einer Kur in ein Kinderheim zu schicken. Das Heim war - wie sich später herausstellte - ein Sammellager für unheilbar Kranke und das Ziel der Unternehmung lag in meiner Beseitigung im · Rahmen des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten.

Ich bin mit der Glasknochenkrankheit (Osteogenesis imperfecta) auf die Welt gekommen. Bereits

im Mutterleib zog ich mir drei Knochenbrüche zu. Als ich geboren wurde, gaben mir die Ärzte keinerlei Überlebenschance. Bis heute habe ich mehr als hundert Frakturen erlitten.

Nach damaligem Ermessen stand mir ein Leben in Schmerzen und Leid bevor. Die Krankheit war medizinisch nicht zu heilen, der Erhalt meines Lebens konnte nur zu einer Belastung meiner Angehörigen, der Gesellschaft und des Staates werden. Ich bildete folglich einen Idealfall für die Anwendung des sogenannten „Gnadentodes" der berühmt-berüchtigten Aktion T 4. Nur durch den fast übermenschlichen Einsatz meiner Mutter und die Tatsache, daß wir uns in aen letzten Monaten des Krieges befanden, wurde ich vor einem Schicksal verschont, das viele meiner Weggefährten ereilte ..

Unter.diesen Vorzeichen ist mein Kampf gegen das z???? verstehen, was sich heute unter dem Deckmantel des beschönigenden Ausdrucks „Sterbehilfe" in unserem Land, aber auch anderswo, wieder breitmacht.

In der Epoche des ersten Aufbaus nach1 9 45 blieben wir von Überlegungen zur Beseitigung „lebensunwerten" Lebens verschont. Sicher spielten hierbei die noch frischen Erinnerungen an die .Greueltaten des Dritten Reiches eine gewichtige Rolle. Aber wie sieht es heute · aus, kurz vor dem zweiten Aufbau?

Die heutige Diskussion um Sterbehilfe und Euthanasie ist deshalb so schwierig geworden, weil - anders als in vergangenen Jahrhunderten - der Eigennutz in s9lchen Gedanken hinter Begriffen wie „ S elbstbestimmungsrecht des Menschen" oder „gebotenes humanes Handeln" versteckt wird.

Auf zwei Eckdaten konzentrieren sich die modernen Überlegungen zum Einsatz lebensverkürzender Maßnahmen. Beide sind mit Namen prominenter Vorkämpfer verbunden. Für die Beseitigung angeblich nutzlosen, behinderten Lebens vor oder kurz nach der Geburt steht der australische EthikProfessor Peter Singer; für den „Erlösungstod" vor Beendigung des natürlichen Lebenslaufes die deutschen Heilsverkünder Hans-Henning Atrott und Julius HackethaL

Peter Singer kommt aus der Tierschutzbewegung, und nicht zuletzt auf diese???? Hintergrund entwickelt er seine Vorstellungen von einer menschlichen Personalität. Um die Grausamkeit anzuprangern, die oftmals der Mensch gegen Tiere entfaltet, stellt Singer die Priorität des Menschen gegenüber der übrigen Schöpfung in Frage.

Singer postuliert, daß es Tiere gibt, die „Person" sind, während umgekehrt Menschen e????istieren, die eine solche Qualität nicht aufwei-

sen. Säuglinge, aber auch schwerstbehinderte Erwachsene, die kein Bewußtsein von ihrer eigenen Vergangenheit oder Zukunft haben, stünden auf ein und derselben Stufe mit Tieren, wenn nicht sogar - in Einzelfällen - darunter.

Die Perversität Singerschen Denkens beruht gerade darin, daß er im Namen der geschundenen Kreatur das Tier gegen den Menschen ausspielt, ein Vorgang, der sich in ähnlicher Weise auch auf anderen Gebieten beobachten läßt.

Doch Singer bleibt nicht dabei stehen. In seinem Buch „Praktische • Ethik" zieht er Schlüsse für konkrete Handlungsanweisungen. Das sieht dannsoaus-ichzitiere: „Wenn ein Wesen unfähig ist, sich selbst als in der Zeit existierend zu begreifen, brauchen wir nicht auf die Möglichkeit Rücksicht zu nehmen, daß es wegen der Verkürzung seiner künftigen Existenz beunruhigt sein könnte."

Nachdem, wie wir gesehen haben, Singer die Tötung menschlichen Lebens nicht von vornherein ablehnt, ergibt sich die Frage, nach welchen Kriterien er vorgeht. Er bekennt sich zu einem praktischen Utilitarismus, der auf die Glücksmaximierung und Leidminimierung abzielt. Die Aufmerksamkeit, die man ihm nicht nur in der angelsächsischen Welt schenkt, beweisen, daß Singer keinesfalls ein ungefährlicher „Spintisierer" ist???? den man nicht ernst nehmen müßte.

Kommen wir nun zu einem etwa???? weniger spektakulären Zweig der Euthanasie, dem „Liegenlassen" von schwerstbehinderten Kindern in den ersten Tagen nach der Geburt. Zweifellos werden die betroffenen Ärzte vehement gegen die Verwendung des Begriffes „Euthanasie" in solchem Zusammenhang protestieren. Dennoch steht außer Zweifel, daß es sich hier zumindest uin passive Sterbehilfe handelt, wobei die Grenzen mitunter durchaus schwimmend erscheinen.

Keiner wird bestreiten, daß Ärzte

bei der Geburt von schwerst mißgebildeten Säuglingen unter extremen psychischen Druck geraten. Sollen sie alle medizinischen Wege beschreiten, die denkbar sind, um das Leben des schwerstgeschädigten Menschen zu erhalten, oder ist es für die Eltern, die Umwelt, ja vielleicht sogar für den Betroffenen selbst sinnvoller, auf einen baldigen Tod zu hoffen? Aus diesem Dilemma heraus entstanden die „Einbecker Empfehlungen", die als Richtlinien zu verstehen sind, wann ein Arzt nicht mehr alle Mittel einsetzen muß, um Leben zu erhalten.

Hier tauchen Begriffe wie „Schmerzen", „Kommunikationsunfähigkeit" , „Hirnschädigung" auf. Zwar wird keine aktive Sterbehilfe befürwortet - möglicher-

weise „noch" keine- doch beinhalten die Empfehlungen nur das Gebot einer „Grundversorgung" des menschlichen Lebens, sprich Nahrung, Wickeln, Schlaf. Konkret bedeutet dies, daß zum Beispiel bei Erkältungen keinerlei Antibiotika gegeben werden, und daß man bei Komplikationen auf sonst übliche Eingriffe verzichtet.

Da jedoch auch Defekte, die für sich allein genommen noch kein ·„Liegenlassen" rechtfertigen würden, mit anderen Defekten summiert werden können und dann einen „Euthanasiefall" ergeben, kann das „Vademecum" auch rasch zu einem Freibrief für Sterbehilfe werden.

Über den bewußten Entschluß unheilbar kranker oder alter Menschen, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, sind wohl nur wenige klärende Worte nötig. Ist es nicht tatsächlich die Krönung des Menschseins, seinem eigenen Le-

ben nach Belieben ein Ende setzen zu können, selbst bestimmen zu dürfen, wann und wie man aus der Welt gehen möchte?

Es gehört sicher zu den schwierigsten Fragen des menschlichen Lebens überhaupt, ob es etwas Ähnliches gibt. wie Selbstbestimmung. Sogar jene, die sich stolz Atheisten oder Materialisten nennen, können nicht ohne Zögern antworten, inwieweit wir selbst Herr in unserem eigenen Haus sind. Wer kennt nicht die Abhängigkeit menschlicher Stimmungen von körperlichen Zyklen, Medikamentengebrauch oderauchnur Erfolgsund Mißerfolgserlebnissen?

„Jeder ist seines Glückes Schmied" stimmt in dieser Hinsicht nur teilweise. Sehr häufig sind es andere, die am Glück oder Unglück ihrer Mitmenschen schmieden. Daß es darüber hinaus gewisse Anlagen gibt, die jemand zu depressiverem oder optimistischerem Handeln veranlassen, kann auch kaum bestritten werden.

Auch wenn ein Schwerkranker sein Leiden nicht mehr ertragen will, gibt es hierfür mehrere Ursachen. Die Objektivität der Schwere des Schicksals -sofern es hier überhaupt eine Objektivität geben kann - ist nur eine davon.

Gerade kranke und behinderte Menschen reagieren mit geschärfter Sensibilität auf das Klima, das ihnen von der Umwelt entgegengebracht wird. Wird die Belastung spürbar gemacht, die ein pflegerischer Aufwand kostet, so verdoppelt sich die Belastung für den auf Hilfe Angewiesenen.

Die Literatur kennt nur einen, der es verstand, sich selbst aus ·dem Sumpf zu ziehen: Münchhausen. Krankheit, eintretende Behinderung, nahendes Sterben sind solcher Morast. Wenn der darin Befangene den Wunsch äußert, ein Ende zu machen, das langsame Versinken durch einen raschen Stoß abzukürzen, so wird für dieses Ansinnen schnell der Begriff der Selbstbestimmung herbeizitiert.

Sel tsamerweise wird dieser Wunsch jedoch nur respektiert, wenn seine Grundvoraussetzung mit dem übereinstimmt, wa???? der μneigennützige „Helfer" selbst an Vorstellung????n von „lebenswertem" und „lebensunwertem" Leben hat. Driften die Auffassungen auseinander, zum Beispiel im Fall von Drogensüchtigen oder depressiv Veranlagten, wird das Recht auf Vollzug der Selbstbestimmung sehr wohl eingeschränkt.

Keiner würde jedoch zugeben, daß hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Meistens hört man, der Todeswunsch eines Gesunden sei in der Regel eine vorübergehende

Laune. Man müsse den potentiellen Selbstmörder vor sich selber bewahren. Wer garantiert, daß der Todeswunsch eines Schwerstbehinderten nicht auch nur vorübergehender Natur ist? Weder die Unmöglichkeit der Wiederherstellung körperlicher Unversehrtheit noch die oft jahrelange Wiederholung desselben Wunsches sagt etwas aus über die Endgültigkeit der geäußerten Einstellung.

Kann jemals ausgeschlossen werden, daß ein Mensch durch das Leiden nach und nach einen tieferen Sinn in eben diesem Schicksal entdeckt und schließlich doch nocli zu ihm „ja" sagt'? Ist nicht davon auszugehen, daß vielleicht unter anderen Lebensbedingungen (familiärer ZuwencJ.ung, liebevoller Pflege, Verbesserung der Schmerzbekämpfung„.) der zweifellos ursprünglich ernstgemeinte Wunsch letztlich gegenstandslos wird?

Wünsche orientieren sich an der Umwelt, und so, wie die Umwelt veränderbar ist, so sind es auch die Wünsche. Der Begriff „Selbstbestimmung" ist zu einer Waffe in der

Hand eines Hackethal oder Atrott geworden, ohne daß diese sich die geringste Mühe gäben, das diffizile Wechselspiel von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung zu untersuchen.

Für mich und für andere, die ein Leben lang „an den Rollstuhl gefesselt" sind, wie es selbst in seriöseren Publikationen so schön heißt, bedeutet die Willfährigkeit, mit der manche „Helfer" dem Todeswunsch unheilbar Kranker entgegenkommen, eine Übertragung eigener Lebensvorstellungen auf den Patienten. Allein der soeben gebrauchte Ausdruck „an den Rollstuhl gefesselt" mag hierfür . ein Beispiel abgeben. Keiner -

Keiner - zumindest, wenn er von Geburt an auf den Rollstuhl angewiesen ist - wird auf den Gedanken einer „Fesselung" kommen. Für die meisten von uns bedeutet der Rollstuhl vielmehr Geschenk der Beweglichkeit. Anders sieht es zugegebenermaßen zum Teil bei Menschen aus, die erst später den Rollstuhl benötigen. Sie können und wollen sich nicht von früheren Vorstellungen der unbeschränkten Mobilität lösen. Sie haben ihr ehemaliges Leben so verinnerlicht, daß sie nur schwer neue Werte in einer anderen Daseinsentfaltung finden können.

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