Humane Gesellschaft: Sterben empfinden

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Die Flucht vor dem Leben macht im Tod nicht frei. Die moralische Aufgabe einer humanen Gesellschaft ist es deshalb, ein unerträglich empfundenes Dasein erträglich zu machen.

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Die Flucht vor dem Leben macht im Tod nicht frei. Die moralische Aufgabe einer humanen Gesellschaft ist es deshalb, ein unerträglich empfundenes Dasein erträglich zu machen.

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Laut Statistik wünschen sich 80 Prozent unter uns einen raschen und plötzlichen Tod, aber 95 Prozent versterben nach längeren Krankheiten. Das macht Angst, auch weil das langsame Sterben nach einem immer ausdauernderen guten Leben umso schrecklicher zuschlägt. Dazu trägt bei, dass wir es im Mimikry von Jugendlichkeit so lange wie möglich verdrängen. Mir fällt dabei die furchtbare Erzählung Thomas Manns von Konsulin Bethsy Buddenbrook ein, die in ihrer Lungenentzündung über Tage erstickt. Thomas Mann bezeichnet es als keinen Kampf mit dem Tod, sondern als ein Ringen mit dem Leben um den Tod und lässt die Patientin ihre Ärzte um ein Mittel hierzu anflehen. Maliziös ironisch hat der Autor die Konsulin zuvor als ausdauernd praktizierende Christin beschrieben und merkt an, keine seelische Vorarbeit habe das Zerstörungswerk der Krankheit erleichtert.

Der Vorwurf fehlender Seelenarbeit trifft auch heute den wunden Punkt. Die österreichischen Bischöfe verweisen in ihren Leitlinien für Gesundheitsfürsorge auf Gott als alleinigen Herrn über Leben und Tod. Mit diesem ethischen Prinzip, begründet durch den göttlichen Charakter menschlichen Lebens, stand das Christentum Pate für die modernen Menschenrechte. Umschlossen von einer Art sakralem Pomerium wird der Mensch der Instrumentalisierung entzogen. Versteht man den Satz jedoch beschreibend, wird er zunehmend prekär. Der Tod trifft uns heute selten als blitzartiger Sensenhieb, aber erfasst uns oft als langsam, über Jahre moderierter Prozess sich summierender Morbidität bis ans Ende, gesteuert durch Medizinkunst, die Erfolge erringt, aber nicht heilt.

Abrüstung des Strafrechts gefordert

Verfahren, die zur Akutbehandlung abgrenzbarer Krankheiten entwickelt wurden, werden Teil geriatrischer Therapie- und Pflegepraxis multimorbider Patienten. Der Ertrag ist zweifelhaft, etwa bei gefährlichen Operationen mit langen Regenerationsprozessen, die den Gesamtzustand wenig verbessern. Der Tod tritt zu oft nach letzten Verschleppungen aus einem vertrauten Lebens- und Pflegeumfeld in die Maschinenwelt der Intensivstationen ein. Am Ende sehen die nächsten Angehörigen ihre Liebsten in Totenkammern mit einem Ambiente, als wollte man diese entsorgen.

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