Assistierter Suizid  - ©  Foto: iStock/KatarzynaBialasiewicz (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Kein Druck zum assistierten Suizid!

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Welche politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind nach der Aufhebung des Verbots von Suizidbeihilfe durch den Verfassungsgerichtshof notwendig? Eine Stellungnahme von katholisch-theologischen Ethiker(innen) - zusammengeschlossen in der "Arbeitsgemeinschaft für Moraltheologie Österreich".

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Welche politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind nach der Aufhebung des Verbots von Suizidbeihilfe durch den Verfassungsgerichtshof notwendig? Eine Stellungnahme von katholisch-theologischen Ethiker(innen) - zusammengeschlossen in der "Arbeitsgemeinschaft für Moraltheologie Österreich".

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Das Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom 11. Dezember 2020 hat für den Umgang mit der Beihilfe zum Suizid neue Rahmenbedingungen geschaffen. Die gesamte Gesellschaft ist herausgefordert, über dieses Thema nachzudenken. Diskussionsbedarf gibt es angesichts vieler neuer Fragen, die auf Gesellschaft, Gesundheitssystem und Kirche(n) zukommen. Als katholisch-theologische Ethiker(innen) in Österreich möchten wir zur Diskussion um die zukünftige Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen konstruktiv beitragen.

1. Das Erkenntnis

Mit dem Urteil wurde das bisherige Verbot der Beihilfe zum Suizid (Paragraph 78b Strafgesetzbuch) ersatzlos aufgehoben. Nicht aufgehoben wurden, obwohl dies von den Klägern gefordert worden war, das Verbot der „Tötung auf Verlangen“ (Paragraph 77 StGB) und das Verbot der „Verleitung“ zum Suizid (Paragraph 78a StGB). Eigens betont wurde auch, dass nur ein ausnahmsloses Verbot der Verfassung widerspreche (Randzahl 104), was dazu herausfordert, über legitime und not­wendige Grenzen der Beihilfe zu reflektieren.

Für die Argumentation des Erkenntnisses ist das Recht auf Selbstbestimmung zentral, welches aus Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention abgeleitet wird („Recht auf Achtung des Privat- und Familien­lebens“). Es beinhalte nicht nur das Recht auf Gestaltung des Lebens, sondern auch das Recht, Art und Zeitpunkt des Todes frei zu bestimmen (Rz 70). Damit dieses Recht im Alltag umsetzbar ist, gerade auch in der Situation schwerer Krankheit, müsse es das Recht mit umfassen, dabei Hilfe in Anspruch zu nehmen (Rz 74).

Das Recht auf Beihilfe zum Suizid ist, so wird mehrfach betont, nur gegeben, wenn eine freie und selbstbestimmte Entscheidung vorliegt (u.a. Rz 85). Von hier her habe der Staat das Recht und die Pflicht, vulnerable Gruppen davor zu schützen, dass diese Freiheit bedroht ist (Rz 99-102). Auch jene, die helfen, müssten sich sicher sein können, dass wirklich eine freie Entscheidung vorliege (Rz 85). Deshalb müsse auch die „Verleitung zum Suizid“ strafbar bleiben, weil hier sogar nachweislich ein Einfluss von außen auf die Person ausgeübt wird.

Unter dieser Voraussetzung sieht das Gericht keinen Konflikt zwischen dem Lebensschutz als staatlicher Aufgabe (Art 2 EMRK) und einer Freigabe der Beihilfe, weil das Leben nicht gegen den freien Willen der Betroffenen selbst zu schützen ist (Rz 84).

2. Kritische Rückfragen

Auch wenn das Urteil einer bestimmten Logik folgt, sind gerade aus ethischer Sicht Rückfragen nötig, die für die weitere Auseinandersetzung um die praktische Ausgestaltung einer Beihilfe zum Suizid wichtig sind.

Kritisch zu beurteilen ist hier erstens ein drohender Übergang von einem Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben als Abwehrrecht (der Staat darf sich in diese Entscheidung nicht paternalistisch einmischen und sie verhindern) zu einem entsprechenden Anspruchsrecht (es gibt ein Recht auf Beihilfe durch Dritte). Das Erkenntnis formuliert zwar einen solchen Anspruch auf Suizidhilfe nicht direkt. Es wird in diesem Zusammenhang lediglich von einem „dazu bereiten“ Dritten gesprochen (Rz 74). Aber der Grundsatz, dass Verfassungsrechte nicht „theoretisch oder gar illusorisch“ bleiben dürfen (Rz 68), könnte bedeuten, dass der Staat gefordert ist, Hilfe verfügbar zu machen, wenn es im nahen Umfeld keine dazu bereiten Dritten gibt.

Kritisch ist zweitens auf eine Verwischung des Unterschieds von „Sterbenlassen“ und „(Selbst-)Töten“ hinzuweisen, die in der Urteilsbegründung auftaucht. Lebensrettende Behandlungen in bestimmten Situationen abzulehnen und sich mit oder ohne Beihilfe anderer zu töten, wird unterschiedslos als Ausdruck des grundsätzlichen Rechts gesehen, über den eigenen Tod zu bestimmen (Rz 92). Dabei werden wichtige Unterschiede, wie z.B. jener zwischen Unterlassen und Tun, sowie die Tatsache, dass im ersten Fall eine lebensbedrohliche Krankheit vorliegen muss, verwischt.

Eine dritte kritische Rückfrage bezieht sich auf die Feststellung, dass es in dieser Frage zu keinem Widerspruch zwischen der staatlichen Pflicht, Leben zu schützen und dem Recht auf Selbstbestimmung komme. Denn es gehe um ein Recht auf Leben, das zwar gegenüber Dritten, nicht aber gegen die freie Entscheidung des Betroffenen selbst zu schützen sei. So richtig der Hinweis im Prinzip auch sein mag, der Verfassungsgerichtshof unterschätzt hier die Schwierigkeiten, im Alltag festzustellen, wann wirklich eine freie Entscheidung vorliegt. Offen bleibt auch, wie und ob überhaupt man diese Freiheit angesichts der vielfältigen gesellschaftlichen Einflüsse, die auf das Individuum wirken, tatsächlich schützen und sicherstellen kann.

In diesem Zusammenhang fällt eine mangelnde Reflexion darauf auf, ein wie vielfältiges und komplexes Phänomen Suizide darstellen. Suizide können eine punktuelle Kurzschluss­handlung, eine Reaktion auf zunehmend prekäre Lebensumstände, Endpunkt einer krankhaften psychischen Entwicklung sein, sie sind aber auch in unterschiedlichem Maß Freiheitstat. Das Urteil verteidigt die Möglichkeit des Suizids als Tat der Freiheit und fordert entsprechenden Respekt. Dies darf aber nicht dazu führen, dass entsprechende Ent­scheidungen künftig mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit akzeptiert werden, die der tatsächlichen Komplexität des Phänomens nicht gerecht wird.

3. Weiterführende Überlegungen

Aus einer ethischen Perspektive gesehen sollte das Urteil nicht den Eindruck vermitteln, dass der Wert des menschlichen Lebens allein von der freien Selbstbestimmung und Sinngebung des einzelnen abhängt. Leben hat als fundamentales Schutzgut auch einen intrinsischen Wert und einen Wert, der sich aus der Einbindung in die soziale Welt ergibt. Bei den Anstrengungen in der Suizidprävention geht es nicht nur darum, inhumane Formen des Suizids zu verhindern und die Folgen für andere gering zu halten, sondern auch darum, Suizide insgesamt zu verhindern. Leben und Lebenswille sind immer auch Voraus­setzungen für Freiheit und Selbstbestimmung, die von der Gesellschaft vorab gesichert werden müssen.

Die soziale Dimension der menschlichen Existenz bringt es mit sich, dass wir unser Leben schon immer Mühen und Anstrengungen anderer verdanken und bleibend in wechsel­seitigen Beziehungen und Abhängigkeiten stehen. Daraus entspringt eine ethische Verant­wortlichkeit, die über die rein individuelle Logik freier Selbstbestimmung hinausgeht.

Eine große Sorge betrifft mögliche zukünftige Ausweitungen der erfolgten Liberalisierung. Folgt man dem Verfassungsgerichtshof, dürfen wir Wünschen nach Suizidbeihilfe nur dann entgegentreten, wenn Mängel in der freien Willensbildung vorliegen. Dies würde bedeuten, dass es nicht möglich ist, die Suizidhilfe an das Vorliegen bestimmter Krank­heiten oder Leidenszustände zu binden, auch nicht an Situationen des Lebensendes. Auch eine erst für die Zukunft absehbare Krankheit, wie eine drohende Demenz, könnte ein legitimer Grund sein.

Vielfach belegt ist die Tatsache, dass alte und kranke Menschen mit Pflegebedarf dazu neigen, sich als Last für andere zu empfinden. Die Befürchtung, dass sie mehr und mehr unter Druck geraten werden, vorzeitig ihr Leben beenden zu wollen, ist realistisch. In diesem Zusammenhang kann direkten und massiven Formen der Druckausübung auf Basis des Verbots einer Verleitung zum Suizid sicher entgegengearbeitet werden. Schwieriger bis unmöglich ist dies, wenn ein diffuser sozialer Erwartungsdruck sich in vordergründig freie, ja altruistisch erscheinende Entscheidungen umsetzt, das Leben zu beenden. Um solche Entwicklungen zu verhindern, muss die Sicherstellung der Freiheit zum Suizid gesellschaftlich Hand in Hand mit Bemühungen um konkrete Solidarität gehen. Menschen sollen sich nicht das Leben nehmen müssen, um sich oder andere vor Armut zu schützen.

Als Gesellschaft müssen wir sicherstellen, dass auf vulnerable Menschen kein Druck ausgeübt wird, assistierten Suizid zu verlangen. Prekäre soziale Verhältnisse, Erwartungen des Umfelds und versteckte Anreize spielen dabei eine Rolle. Der Einfluss finanzieller Interessen auf entsprechende Entscheidungen muss verhindert werden. Palliativ­medizinische Versorgung muss verfügbar sein. Die rechtlichen Vorkehrungen, die nun geschaffen werden, müssen daraufhin geprüft werden, ob sie all dies im Rahmen des gesetzlich Leistbaren auch wirklich verhindern.

Daneben wird es wichtig sein, sich konkreten Menschen, die sich mit Gedanken von Suizid beschäftigen oder um Hilfe dabei bitten, offen und ohne Vorbehalte zuzuwenden. In Gespräch und Begleitung gilt es dabei, den Wert des Lebens präsent zu halten, die Betreffenden vor Druck zu schützen, gleichzeitig aber auch ihr Gewissen zu respektieren.

Arbeitsgemeinschaft für Moraltheologie Österreich:

Univ.-Prof. DDr. Stephan P. Leher, Innsbruck

Prof. Dr. Martin M. Lintner OSM, Brixen

Univ.-Prof. Dr. Sigrid Müller, Wien

Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger, Linz

Univ.-Prof. i.R. DDr. Walter Schaupp, Graz

Em. Univ.-Prof. Dr. Günter Virt, Wien

Univ.-Prof. Dr. Angelika Walser, Salzburg

Em. Univ.-Prof. Dr. Werner Wolbert, Salzburg

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