Ulrich Körtner: Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit

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Protestantische Kirchen veröffentlichen europäische Orientierungshilfe zu ethischen Fragen am Lebensende. Diese bildet einen der Bausteine einer gesamteuropäischen protestantischen Soziallehre.

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Protestantische Kirchen veröffentlichen europäische Orientierungshilfe zu ethischen Fragen am Lebensende. Diese bildet einen der Bausteine einer gesamteuropäischen protestantischen Soziallehre.

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Die Diskussion darüber, was menschenwürdiges Sterben bedeutet, wird auch auf gesamteuropäischer Ebene geführt. In den Benelux-Staaten ist die Tötung auf Verlangen ebenso wie die Suizidbeihilfe unter bestimmten Voraussetzungen straffrei, in der Schweiz bieten Organisationen wie EXIT und Dignitas ganz legal Suizidbeihilfe an.

Nun hat die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) eine europäische Orientierungshilfe zu ethischen Fragen am Lebensende veröffentlicht. Die GEKE bemüht sich, auch auf ethischem Gebiet dem Protestantismus in Europa eine Stimme zu geben. Es entsteht so etwas wie eine gesamteuropäische protestantische Soziallehre. Die jüngste Studie ist dabei ein wichtiger Baustein.

Recht auf Leben ist unveräußerlich

Das durch medizinische Interventionen begleitete Sterben ist heute in Europa der Regelfall. Daher wäre es völlig verfehlt, in den Debatten über Sterbehilfe und Euthanasie nur Indizien eines Verfalls kultureller Standards und moralischer Werte erblicken zu wollen. Es ist vielmehr zu prüfen, wie weit die Anwendung des heutigen Potenzials medizinischer Möglichkeiten in bestimmten Situationen überhaupt sinnvoll ist, und wo die humanen Grenzen der modernen Medizin liegen.

Widersprochen werden muss aber der Ansicht, die Fortschritte der Medizin, insbesondere der Intensivmedizin, machten das Problem der Euthanasie besonders drängend. Etliche Hauptargumente ihrer Befürworter sind seit der Antike hinlänglich bekannt und resultieren nicht aus neuen medizinisch-technischen Entwicklungen, sondern aus einem der christlichen Anthropologie widersprechenden Menschenbild.

Allerdings führen steigende Lebenserwartung und medizinischer Fortschritt zu neuen Erscheinungsformen des Sterbens, die auch ethisch vor neue Probleme stellen. Die Zahl der Hochbetagten nimmt zu. Dem Tod geht oftmals eine längere Phase der Multimorbidität und schwerer Pflegebedürftigkeit voraus. Mit der höheren Lebensdauer steigt die Zahl der Menschen, die an einer fortschreitenden Demenzerkrankung leiden. Dabei schiebt sich zwischen die Lebensabschnitte von weitgehender körperlicher und geistiger Gesundheit und die Sterbephase eine eigene Lebensphase, welche grundlegende Fragen nach unserer Identität im Leben und im Sterben aufwirft.

Wie die GEKE im Konsens mit anderen Kirchen erklärt, ist und bleibt das Recht auf Leben ein unveräußerliches Menschenrecht. Nach christlichem Verständnis resultiert es aus der unteilbaren Würde und Gottebenbildlichkeit des Menschen. Freilich bedeutet das Recht auf Leben keine Pflicht zum Leben. Die Bejahung des Lebens als gute Gabe Gottes rechtfertigt es nicht, Menschen gegen ihren erklärten Willen medizinisch zu behandeln oder zum Weiterleben zu zwingen, auch wenn alles dafür getan werden soll, ihren Lebenswillen zu stärken.

Weil der Tod zum Leben gehört, impliziert das Recht auf Leben auch das Recht zu sterben. Die Frage lautet aber, ob das Recht auf den eigenen Tod mit dem Recht gleichzusetzen ist, sich auf eigenen Wunsch töten zu lassen. Christlich formuliert geht es darum, ob ich selbst der Herr über mein Leben und Sterben bin, oder ob das Leben und der Leib eine Leihgabe Gottes sind, der Rechenschaft von uns fordert, wie wir damit umgehen. Die Orientierungshilfe der GEKE vertritt die Auffassung, dass sich ein Recht auf Suizid und Suizidbeihilfe ebenso wenig wie ein Recht auf Tötung auf Verlangen christlich rechtfertigen lässt. Gleichwohl erkennt sie die Aufgabe, suizidwillige Menschen und ihre Angehörigen selbst dann nicht seelsorgerlich allein zu lassen, wenn diese sich zu Handlungen entscheiden, welche den von den Kirchen der GEKE vertretenen Positionen abweichen.

In ökumenischer Übereinstimmung unterstützen die evangelischen Kirchen den Ausbau von Palliativmedizin und -pflege und setzen sich für eine flächendeckende Versorgung damit ein. Besondere Bedeutung kommt dabei aus Sicht der Kirchen der Seelsorge und der spirituellen Begleitung der Kranken, der Sterbenden, ihrer Angehörigen, aber auch von Ärzten und Pflegekräften zu.

Ethisch verantwortetes Lassen

Die Euthanasiedebatte wie die Entwicklungen im Bereich der Reproduktionsmedizin fordern dazu heraus, neu darüber nachzudenken, was wir für zumutbares und unzumutbares Leiden halten. Die Diskussion über die unterschiedlichen Formen der Sterbehilfe zeigen außerdem, wie notwendig es ist, sich neu zu Bewusstsein zu bringen, dass nicht jedes ethisch verantwortete Lassen gleichbedeutend mit einem Unterlassen ist.

Auf dem Gebiet von Patientenrechten am Lebensende, von Sterbehilfe und Sterbebegleitung ist europaweit einiges in Bewegung. Länder wie Österreich oder Deutschland haben erst vor wenigen Jahren Regelungen zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen verabschiedet. Andererseits ist die Diskussion über die ethische Zulässigkeit der Mitwirkung von Ärzten am Suizid auch in Deutschland neu in Bewegung geraten. Die Kirchen wollen sich an dieser Grundsatzdebatte kompetent beteiligen. Mit der Orientierungshilfe der GEKE ist freilich kein Endpunkt der Diskussion erreicht, sondern eine neue Gesprächsrunde eröffnet.

Der Autor ist Vorstand des Inst. für Ethik u. Recht in der Medizin.

Sollten Sie sich in einer ausweglosen Situation sehen, finden Sie Hilfe unter www.suizid-praevention.at sowie rund um die Uhr bei der Telefonseelsorge unter der Nummer 142.

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