Maria Katharina Moser: Spielraum für das Gewissen

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Nach dem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur Suizid-Beihilfe braucht es in Österreich eine offene Debatte über rechtliche Regelungen, die dem Gewissen Spielraum lassen und für dramatische Ausnahmefälle Möglichkeiten der Straffreiheit vorsehen. Ein Gastkommentar.

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Nach dem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur Suizid-Beihilfe braucht es in Österreich eine offene Debatte über rechtliche Regelungen, die dem Gewissen Spielraum lassen und für dramatische Ausnahmefälle Möglichkeiten der Straffreiheit vorsehen. Ein Gastkommentar.

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„Bloß nicht pflegebedürftig und auf andere angewiesen sein“, höre ich oft. „Ich will niemandem zu Last fallen.“ Derartige Aussagen klingen mir im Ohr, wenn ich in Debatten um Sterbehilfe hineinhöre. Zur Angst vor unerträglichem Leid am Ende des Lebens gesellt sich die Angst vor der Abhängigkeit. Und diese Angst kulminiert im Ruf nach selbstbestimmtem Sterben.

Das selbstbestimmte Sterben sei durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht mit umfasst – so begründen die deutschen Verfassungsrichter ihr Urteil von Ende Februar, mit dem sie das 2015 in Deutschland eingeführte Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe aufgehoben haben. Worum genau geht es? Gegenstand des Urteils ist die Beihilfe zur Selbsttötung. Anders als bei der Tötung auf Verlangen, bei der Dritte todbringende Mittel verabreichen, setzt bei der Beihilfe zur Selbsttötung der Sterbewillige selbst die Handlung, die zum Tod führt. Und anders als bei der indirekten Sterbehilfe, die in der Gabe von Schmerzmitteln unter einer Inkaufnahme etwaiger lebensverkürzender Wirkung besteht und die Teil palliativer Versorgung ist, geht es bei der Beihilfe zur Selbsttötung nicht um eine medizinisch angezeigte Therapie.

Beihilfe zur Selbsttötung ist in Deutschland – anders als in Österreich – straffrei. 2015 wurde diese grundsätzliche Straffreiheit durch ein Verbot der „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ eingeschränkt. Damit sollte organisierter Sterbehilfe, wie sie etwa die Vereine Dignitas und Exit in der Schweiz anbieten, ein Riegel vorgeschoben werden – Nahestehende, die beim Suizid unterstützen, blieben weiterhin straffrei. Nun bedeutet „geschäftsmäßig“ im juristischen Sinne nicht gewerblich oder bezahlt, sondern auf Wiederholung angelegt. Das führte zu Verunsicherung, nicht zuletzt bei Ärzten und Ärztinnen. Ist der Straftatbestand der geschäftsmäßigen Förderung des Suizids erfüllt, wenn ein Arzt mehr als einmal Beihilfe zu Selbsttötung leistet? Andere fürchteten Rechtsunsicherheit, wenn sie Opiate zur Schmerzlinderung mit nach Hause geben. Diese Rechtsunsicherheit ist durch die Aufhebung des Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung beseitigt.

Suizibeihilfe: vom Abwehr- zum Anspruchsrecht

Aber: Es entstehen neue grundlegende Problemlagen. Das deutsche Verfassungsgericht hat, indem es einen generellen Rechtsanspruch auf Suizidbeihilfe postuliert, einen Paradigmenwechsel eingeleitet, wie Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrats und evangelischer Theologe, im Interview mit der Süddeutschen Zeitung erläutert. Er fände es richtig, so Dabrock, „dass das Recht auf assistierten Suizid bislang ein Abwehrrecht war, ein Schutz vor unerträglicher Qual am Lebensende. Das Verfassungsgericht aber macht daraus ein Anspruchsrecht auf Verwirklichung.“ Es stellt sich also die Frage, ob diesem Anspruchsrecht des Einzelnen staatlicherseits eine Verpflichtung korrespondiert, Mittel zum Suizid zur Verfügung zu stellen. Hier wird nun wieder der Gesetzgeber gefragt sein. Die Sterbehilfe-Debatte in Deutschland ist also keineswegs beendet.

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