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Betonung liegt auf Erlangen

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Über die liberale Praxis der Sterbehilfe in den Niederlanden gibt es viele Mythen. Welche Erfahrungen hat man nun tatsächlich damit gemacht.

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Über die liberale Praxis der Sterbehilfe in den Niederlanden gibt es viele Mythen. Welche Erfahrungen hat man nun tatsächlich damit gemacht.

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Euthanasie als letzter Akt persönlicher Lebenskultur rückt nicht zuletzt angesichts der Möglichkeiten der modernen Intensivmedizin immer mehr in den Blickpunkt medizinethischer und medizin-rechtlicher Fragestellungen. Die immer wieder aufflammende Diskussion um die Würde des gewünschten Todes wird jedoch in Österreich und in Deutschland durch ein historisch verständliches Tabu erschwert, diente doch das Wort „Euthanasie“ im Dritten Reich als Bezeichnung für die Massenvernichtungsprogramme der Na-’ tionalsozialisten.

Ein Blick auf die holländische Praxis - die Niederlande ist das einzige Land der Welt, in dem Euthanasie unter bestimmten Bedingungen strafrechtlich toleriert wird - kann helfen, dieses historisch begründete 1 abu zu überwinden und in eine sachgerechte Diskussion über Euthanasie jenseits vorschneller Effekthascherei einzutreten. Anders als in England oder den Vereinigten Staaten, wo die ersten Euthanasie- Gesellschaften bereits Mitte der dreißiger Jahre gegründet wurden, wird die Debatte über Euthanasie in den Niederlanden erst seit etwa zwanzig Jahren geführt.

Aufsehen erregte 1973 der Fall einer Ärztin, die ihrer 78jährigen Mutter auf deren ausdrücklichen und wiederholten Wunsch hin in einer Euthanasie-Situation zu einem sanften Tod verhalf. Das Strafverfahren gegen diese Ärztin wurde bedingt ausgesetzt. Ausschlaggebend für die Entscheidung des Gerichts war die Tatsache, daß die Tötung auf Verlangen der Patientin erfolgte.

MIT AUSDRÜCKLICHEM WILLEN

Die Formulierung „auf Verlangen“ spielt seither eine wesentliche Rolle. Euthanasie ist nach holländischem Verständnis ein „absichtliches lebensbeendendes Handeln durch eine andere als die betroffene Person, auf deren ausdrückliches Verlangen hin“ (Definition der Staatskommission Euthanasie 1985). Dieser Definition entsprechend, fallen weder das Einstellen einer Behandlung in einer medizinisch aussichtslosen Situation noch die vom Arzt bewußt in Kauf genommene lebensverkürzen- de Wirkung schmerzstillender Medikamente unter den Begriff „Euthanasie“. Auch die Tötung ohne Verlangen des Patienten ist keine Euthanasie. Eine solche Handlung bedeutet nach niederländischem Recht Mord oder zumindest Totschlag. Anfang der achtziger Jahre wurde

eine Staatskommission beauftragt, einen Vorschlag für eine mögliche Gesetzesänderung zu erarbeiten. Diese veröffentlichte 1985 einen Bericht, in dem sie vorschlug, Euthanasie im Sinne einer „Tötung auf Verlangen“ aus dem Strafgesetzbuch zu streichen und sie als eine ärztliche Praxis anzusehen, die unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt ist. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung kam es aber bis heute nicht zu einer entsprechenden Gesetzesänderung.

Euthanasie ist demnach in den Niederlanden wie in allen anderen westlichen Ländern gesetzlich verboten, doch kann ein Arzt, der in einer Notlage keinen anderen Ausweg als Euthanasie sieht, mit Straffreiheit rechnen, wenn er sich an bestimmte Regeln der Sorgfalt hält. Diese Sorgfaltsbestimmungen sind: 1. Freiwilligkeit, 2. ein wohlüberlegtes Verlangen, 3. ein anhaltendes Verlangen nach dem Tode, 4. unerträgliches Leiden und 5. kollegiale Beratung. Die Einhaltung dieser Bestimmungen muß vom Arzt gewissenhaft protokolliert werden und wird sowohl vom amtlichen Leichenbeschauer als auch von der Staatsanwaltschaft überprüft.

ZERFALL DER PERSON

In einem Urteil vom obersten niederländischen Gericht aus dem Jahre 1984 wurden dem Arzt weiters zwei Kriterien an die Hand gegeben, mit deren Hilfe er sich vergewissern kann, ob ihn die Notlage, in der er sich als Folge des Verlangens seines Patienten befindet, gänzlich vor Verfolgung bewahrt. Das erste Kriterium ist der drohende Zerfall der Person (niederländisch „ontluistering“), das zweite besteht aus einem ernstzunehmenden Risiko, daß der Patient bald nicht mehr in Würde sterben können wird.

Der liberalen Praxis in Holland ist es auch zuzuschreiben, daß der Schleier über das tatsächliche Ausmaß von Euthanasie gelüftet werden konnte. Der holländische Arzt und Philosoph Gerrit K. Kimsma präsentierte im Herbst vergangenen Jahres auf einem postgradualen Lehrgang an der Landesakademie in Krems die Ergebnisse der beiden jüngsten Untersuchungen. Diesen Untersuchungen zufolge gibt es in Holland jährlich etwa 2.000 Fälle von Tötung auf Verlangen, das sind zwei Prozent der Sterbefalle. Diese Zahlen widerlegen den Einwand vieler Euthanasie-Gegner, die Zulassung der Euthanasie würde zu einer Flut von Euthanasie-Handlungen (oder zu noch Schlimmerem) führen. Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis dieser beiden Untersuchungen ist,

daß mehr als die Hälfte aller Euthanasie-Handlungen von Hausärzten zu Hause beim Patienten vorgenommen werden, während nur 30 Fälle in Pflegeanstalten stattgefunden haben. Dazu ist anzumerken, daß Holland ein sehr dichtes Netz hausärztlicher Versorgung besitzt. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer ganztägigen Heimkranken- pflege, sodaß eine fachgerechte Versorgung sterbender Menschen auch im eigenen Heim gewährleistet ist.

Doch empirische Fakten allein sind nicht geeignet, moralische Bedenken aus der Welt zu schaffen. Von Euthanasie-Gegnern werden zumeist zwei sehr schwerwiegende Einwände gegen die Euthanasie erhoben. Der erste Einwand ist kategorischer Natur: die letzte Entscheidung über Leben und Tod stehe nicht dem Menschen, sondern Gott alleine zu. Dieses Argument führt sich jedoch selbst ad absurdum, wenn etwa im Fall einer militärischen Selbstverteidigung eine Ausnahme von der Regel gestattet wird. Denn warum sollte das Töten im Krieg moralisch gerechtfertigter sein als das Töten auf Verlangen, zumal im Falle der Euthanasie keine Verletzung des Rechts auf Leben vorliegt, da die Tötung auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten hin erfolgt.

SCHWERWIEGENDER EINWAND

Ein zweiter Einwand gegen Euthanasie ist praktischer Art: der Wunsch nach Euthanasie stelle sich nur in einer bestimmten physischen, psychischen, sozialen und/oder spirituellen

Notsituation und würde nach Überwindung dieser Situation wieder verschwinden. Dies wird in sehr vielen Fällen tatsächlich der Fall sein, doch handelt es sich dabei nicht um ein Argument gegen Euthanasie, sondern gegen eine vorschnelle Anwendung der Euthanasie.

Denn es ist auch unter Befürwortern keine Frage, daß man zuerst versuchen sollte, durch entsprechende medizinische, psychologische, soziale und spirituelle Betreuung dem Leben wieder jene Würde zurück zu geben, die derjenige, der um Euthanasie bittet, in seinem Leben vermißt. Sollte sich der Wunsch nach Euthanasie danach nicht mehr stellen, erübrigt sich jede weitere Diskussion über dieses Thema.

Abschließend sei darauf hingewiesen, daß es in der Frage der Euthanasie um ein Grundrecht des Menschen geht: um das Recht, über sein Leben und seinen Tod selbst zu bestimmen. Niemand darf gegen seinen Willen gezwungen werden zu sterben. Es darf aber auch niemand gezwungen werden, gegen seinen Willen am Leben zu bleiben. Der Mißbrauch von Euthanasie ist nie auszuschließen. Die Praxis in Holland zeigt jedoch, daß die Gefahr eines solchen Mißbrauches bei einer gesetzlich und moralisch geregelten Zulassung der Euthanasie im Sinne einer „Tötung auf Verlangen“ nicht größer ist, als bei einem völligen Verbot.

Dr. Alfred Simon

ist Mitarbeiter am Zentrum für Ethik und Medizin an der Wissenschaftlichen Landesakademie für Niederösterreich in Krems

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