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Tödliche und fatale Logik

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Das niederländische Parlament berät einen Gesetzesantrag, demzufolge ärztliche Sterbehilfe in Zukunft straflos sein soll. Kein Aufschrei geht durch die Medien. Vielmehr wird mit der Annahme des Antrags gerechnet. Kein Wunder: Seit der Legalisierung der Abtreibung hat sich unsere Wertordnung verändert.

Beispiele gefällig? Der deutsche Bundesgerichtshof verurteilte etwa einen Arzt zur Zahlung von Unterhaltskosten für ein mongo-loides Kind. Er hatte von einer Fruchtwasseruntersuchung (zur Erkennung von Erbschäden bei

Ungeborenen) bei einer 39j ährigen Patientin abgesehen. Die Behinderung wurde nicht erkannt, das Kind nicht abgetrieben, sondern geboren.

Dieses Urteil geht offenbar davon aus, daß Erbschädigung eine

— dank der Abtreibung - vermeidbare Panne sei. Indirekt wird Eltern ein Recht auf nicht erbgeschädigte Kinder zugesprochen.

Noch drastischer ein zweiter Fall: Ein deutscher Arzt begeht bei einer Abtreibung einen „Kunstfehler“; das Kind bleibt unversehrt. Als man das „Malheur“ entdeckt, ist es für eine Abtreibung zu spät. Nach der Geburt klagt die Mutter auf Schadenersatz. Der Bundesgerichtshof gibt der Klage gegen den Arzt statt.

Hier wird die Sache noch gruseliger: Ein gesundes Kind wird als Schädigung gedeutet. Der Arzt kommt für den „Schaden“ auf, den er durch Verabsäumung der wirksamen Tötung hervorgerufen hat. Wo früher das Recht das Leben des Kindes von der Empfängnis an schützte, räumt jetzt die Rechtsprechung ein Recht auf Tötung ein. Aus einem Strafausschließungsgrund ist ein Anspruch auf Abtreibung geworden: Daher können Deutsche auf Krankenschein abtreiben und Beihilfen bei „Notlagenindikationen“ beziehen.

Die Forderung, Abtreibung aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren, wird auch hierzulande regelmäßig erhoben. Selbst bei Gewerkschaftsveranstaltungen bekommt man zu hören, „Schwangerschaftsabbruch und Verhütung dürften kein Geldproblem sein“.

In den USA ist man — wie üblich

— einen Schritt weiter. Zwar scheiterte in Maryland der Versuch, die „postnatale Abtreibung“ einzuführen. Allein der Umstand aber, daß ein Gesetz zur Debatte stand, das Tötung während der Geburt vorsah, ist bezeichnend.

Noch tragischer aber ist der Fall „Baby Doe“: Ein Richter in Bloo-mington entschied, das Baby sei dem Hungertod preiszugeben, weil es mongoloid war und an einem Verschluß der Speiseröhre

litt (der allerdings durch eine Routineoperation hätte behoben werden können). Das Oberste Gericht von Indiana bestätigte das Todesurteil. Damit sanktioniert ein Gericht, was in England und in den USA in Spitälern geübte Praxis ist: Behinderte Kinder werden zu Tode „gepflegt“.

So fließend sind doch die Grenzen zwischen Abtreibung und Euthanasie! Kein Wunder, werden doch in beiden Fällen Menschen getötet, denen Dritte das Lebensrecht absprechen. Da nimmt es auch nicht Wunder, wenn Richard Lamm, Gouverneur von Colorado, bei einer Tagung festgestellt hat: Alte Menschen hätten „eine Pflicht zum Sterben“ und sollten „Platz machen“, statt künstlich ihr Leben zu verlängern.

Sobald die Grenze des unbedingten Lebensschutzes überschritten ist, entwickelt sich eine fatale Logik. Sie wird Folgen haben — nicht nur im Ausland.

Deutlich wird das bei der künstlichen Befruchtung: Hier werden Menschen in der ersten Lebensphase wie Objekte behandelt. So sagte etwa Justizminister Harald Ofner: „Wenn ich mich auf den Standpunkt stelle, daß das befruchtete Ei in der Retorte bereits Leben ist, dann entziehe ich ja der derzeit geltenden Abtreibungsregel zumindest einen Teil des Bodens ... Im Vordergrund muß stehen, daß es sich nicht um menschliches Leben handelt...“ (FURCHE 14/1985).

Wieder die fatale Todeslogik: Es kann nicht Leben sein, weil es nicht so sein darf.

Kein Wunder, daß ein „wissenschaftliches Komitee“ in Dänemark Versuche mit Embryos erlaubte — auch dann, wenn sie nur für wissenschaftliche Zwecke „hergestellt“ werden, daß von „baby-engineering“ im Zusammenhang mit künstlicher Befruchtung gesprochen wird.

Wohin uns die nächsten Schritte führen, sieht man in Holland, deutete Wolfgang Zeidler, deutscher Verfassungsgerichtshof-präsident an, als er kürzlich feststellte: Das Verbot der Tötung auf Verlangen sei „eine Insel der Inhumanität“, an der die Kirche Schuld trage. Also weg mit der Regelung.

Wann werden wir endlich begreifen, daß wir von diesen Todespfaden abkehren müssen? Jetzt, denn es wird laufend ärger. Tötung auf Verlangen klingt so harmlos. Wer an die „Freiwilligkeit“ denkt, mit der heute viele Frauen abtreiben, kann sich lebhaft ausmalen, wie freiwillig viele Menschen auf Verlangen sterben werden.

40 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft (auf die wir zurecht voll Scham und Abscheu zurückblicken) entwickelt sich auf subtile Art ein neues Todesregime. Umkehr ist überfällig.

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