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Ein Menschenrecht auf Abtreibung?

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Befragungen zeigen: Das Unrechtsbewußtsein in Sachen Abtreibung ist fast ganz verlorengegangen -und zwar in nahezu allen Industrieländern.

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Befragungen zeigen: Das Unrechtsbewußtsein in Sachen Abtreibung ist fast ganz verlorengegangen -und zwar in nahezu allen Industrieländern.

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Heute geht es nicht mehr darum, in äußersten Notsituationen Gnade vor Recht ergehen zu lassen, verzweifelte, vergewaltigte, im Stich gelassene Frauen zu all ihrer sonstigen Not auch noch zu be-' strafen. Nein, wir sind längst soweit, daß Abtreibung zur Errungenschaft, zum rechtlich abgesicherten Anspruch geworden ist.

Einige Meldungen, die mir in letzter Zeit über den Weg gelaufen sind, illustrieren, wie weit die totale Umkehrung der Werte gediehen ist: ■ Aufgrund einer oberstgerichtlichen Entscheidung in den USA darf niemand sich Äbtreibungskliniken auf mehr als 100 Meter nähern, wenn er sich in irgendeiner Weise gegen Abtreibungen äußert. Damit bestätigt das Oberste US-Gericht ein Gesetz, das der Kongreß im Juni 1994 beschlossen hat. Es sieht beachtliche Strafen vor: bei erstmaliger Übertretung Gefängnis bis zu einem Jahr, im Wiederholungsfall bis zu drei Jahren.

Und wofür? Nicht etwa für die abzulehnende Gewaltanwendung gegen Personen (die es in den USA leider - sogar bis zum Mord - gegeben hat) oder die Behinderung des Funktionierens von Abtreibungskliniken. Vielmehr, werde» „ab.jjiVersuche”. * sich m die Angelegenheiten von „Personen einzumischen”, die „Dienstleistungen reproduktiver Gesundheit in Anspruch nehmen oder erbringen”, schwer bestraft.

Damit wird jede auch noch so friedliche Kundgebung vor Abtreibungskliniken verboten. In der Kongreßdebatte war die Bede davon, man dürfe Frauen auf dem Weg zur Abtreibungsklinik nicht psychologisch und emotional durch Mitteilungen verletzen.

Kurzum: Was hier rechtlich festgeschrieben wird, ist atemberaubend. Zur Absicherung des Tötungs-rechtes an Ungeborenen wird das Recht auf Redefreiheit - immerhin ein fundamentales Recht in jeder Demokratie - eingeschränkt.

Vor US-Abtreibungskliniken wird verboten, was man aus anderen Gründen jederzeit tun könnte: Greenpeace dürfte vor denselben Kliniken öffentlich protestieren, wenn dort Umweltstandards verletzt würden. Ja, noch grotesker: Abtreibungsbefürworter dürften Frauen, die ohne abgetrieben zu haben die Klinik verlassen sollten, sehr wohl an Ort und Stellen umzustimmen versuchen. Denn nur wer jemanden davon abhalten will, die Dienste der Klinik in Anspruch zu nehmen, macht sich strafbar.

■ Zwar nicht für Demonstrationen außerhalb, wohl aber für die Behinderung des Betriebes von Abtreibungskliniken sieht auch ein Gesetz in Frankreich, die „loi Neiertz” strenge Strafen vor: von zwei Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis und Geldstrafen bis zu 60.000 Schilling. Würde man bei Arbeitskämpfen ähnliche Maßstäbe anwenden, würde sich das Streikrecht aufhören.

■ Aus England wiederum kommt d^e Meldung, daß die Zahl der Abtreibungen, die vom staatlichen Gesundheitswesen finanziert wurden, 1994 einen Höchststand erreicht hat, nämlich knapp 80.000: neunmal mehr als 1989. Auch hier erkennt man: Abtreibung ist zur Dienstleistung des „Gesundheits”-Systems geworden.

■ Aus Kanada kommt die Meldung, daß die Abtreibungszahlen 1992 um 5,7 Prozent gestiegen sind: Jede vierte Schwangerschaft endet also mit der Tötung des Ungeborenen. Damit sind die Behauptungen ad absurdum geführt, die Propagierung von Verhütungsmitteln würde Abtreibungen unnötig machen. Wer kann denn heute, da uns die Kondomwerbung von den Plakatwänden entgegenlacht, Pillen und Kondome gratis in Schulen verteilt werden und der Sexualkundeunterricht gepusht wird, dem Wissen über Verhütung überhaupt entkommen? Daß Verhütung Abtreibungen nicht verhindert, belegen sogar Statistiken:

■ In den Vereinigten Staaten gaben 43 Prozent der Frauen, die abtreiben ließen, an, sie wären schwanger geworden, obwohl sie verhütet hätten. Das sind rund 640.000 Abtreibungen, die sich als Beparaturen von Verhütungspannen darstellen.

Damit sind wir beim Kern der Problematik: Das heute vorherrschende Dogma der totalen Nachwuchsplanung macht die Abtreibung als Fangnetz für das Versagen der Verhütung (die eben nie hundertprozentig sein kann) erforderlich. Dieser absolute Wille, allein über die Fortpflanzung zu verfügen, hat die Abtreibung zum unbedingten Recht der Frau hochstilisiert.

■ Das kann soweit gehen, daß ihr ein quasi religiöser Stellenwert eingeräumt wird. Vom „Sakrament der Abtreibung” spricht die Feministin Ginette Paris. Mutterschaft bringe Verantwortung mit sich, meint sie. Und: „Es sei (wenn es überhaupt einen heidnischen Begriff von Sünde geben sollte) eine Sünde, nicht abzutreiben, wenn man das Kind nicht will.” („Signs”. Winter 1994)

Welche Verkehrung der Begriffe! Diese Position mag übertrieben sein, kennzeichnet aber den Kern des Problems: Die Abtreibung, die uns als Akt der Barmherzigkeit unterjubelt worden ist, hat sich zur Errungenschaft des gesellschaftlichen Fortschritts gemausert.

Daher auch die Verdrängung ihrer negativen Folgen. Längst weiß man von den psychischen Traumata, unter denen sehr viele Frauen nach einer Abtreibung leiden: Depressionen, Ängste, Schuldgefühle, die bis zu Selbstmordgedanken führen. Wo liest man etwas von diesem „Post-abortion-Syndrom” außer in Kreisen der Lebensrechtler? Wohl überschlagen sich die Medien mit Berichten über vielfältigste Bedrohungen, die uns in den grellsten Farben gemalt werden. Aber diese Massengefährdung wird ausgeblendet.

Ob es den Ergebnissen einer Untersuchung amerikanischer Krebsforscher besser gehen wird? Sie fanden vor kurzem heraus, daß eine Abtreibung das Brustkrebsrisiko um durchschnittlich 50 Prozent erhöht. Bei Mädchen unter 18 Jahren liege der entsprechende Wert sogar bei 800 Prozent! („Journal of the National Cancer Institute” zitiert in „Quoti-dien du Medecin” vom 8. November 1994)

Abtreibung zerstört eben Leben, nicht nur das der ungeborenen Kinder, sondern aller daran Beteiligter. Der Papst spricht zurecht von einer Todeskultur. Darum dürfen wir uns nicht häuslich in einer Welt einrichten, in der Jahr für Jahr 50 bis 60 Millionen Abtreibungen stattfinden. Wer sich mit dem Becht auf Abtreibung abfindet, muß sich auch darauf einstellen, daß dieselbe Nützlichkeitsrechnung, die das Leben des ungeborenen Kindes vorzeitig beendet, in absehbarer Zeit auch den Wert des Lebens am Lebensabend bestimmen wird. Das Beispiel Holland und die Euthanasie-Empfehlung des Europaparlaments zeigen, daß dies nicht Schwarzmalerei eines Pessimisten ist.

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