7210792-1992_29_11.jpg
Digital In Arbeit

Stehen wir mitten in einem Kulturkampf?

19451960198020002020

Deutschland hat ein neues Abtreibungsgesetz: die Fristenregelung. Die Auseinandersetzung darüber war heftig. Bis zuletzt. In der Diskussion fiel mehrfach das Wort „Kulturkampf (siehe Kasten). Gibt es heute eine Neuauflage dieser Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat?

19451960198020002020

Deutschland hat ein neues Abtreibungsgesetz: die Fristenregelung. Die Auseinandersetzung darüber war heftig. Bis zuletzt. In der Diskussion fiel mehrfach das Wort „Kulturkampf (siehe Kasten). Gibt es heute eine Neuauflage dieser Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat?

Werbung
Werbung
Werbung

Erstaunlich emotional, bemerkenswert polemisch, vor allem aber: enorm feindselig sind diese Aussagen Augsteins. Wo bleibt da die Toleranz für den Andersdenkenden, auf die sich gerade die Liberalen so viel zu Gute halten pflegen? Wo bleibt das Recht auf Kritik, das dieselben Liberalen mit größter Selbstverständlichkeit in Anspruch nehmen, wenn es darum geht, Entscheidungen des römischen Lehramtes in Frage zu stellen?

Und: Es ist normale demokratische Praxis, ein Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Das sollte Anliegen jedes Demokraten sein. Wozu haben wir denn Verfassungen?

Und noch etwas: Bei den Entscheidungen des Verfassungsgerichts geht es nicht primär um Sachverstand in einer Materie, nicht um das Gewissen, sondern um die Klärung einer Rechtsfrage. Sie lautet im konkreten Fall: Ist Mord an ungeborenen Kindern kompatibel mit dem Auftrag an den Gesetzgeber, menschliches Leben unbedingt zu schützen?

Zwiespältige Liberale

Die Unsachlichkeit und die Empfindlichkeit, mit der Vertreter liberaler Positionen heute in sensiblen Fragen reagieren, entlarvt die Zwiespältigkeit ihrer Liberalität. Warum nicht in aller Ruhe das Urteil der Richter abwarten? Und wenn es nicht den Wünschen entsprechend ausfällt, bleibt ja immer noch der Weg einer Verfassungsänderung. Das wäre doch ein Spiel mit offenen Karten.

Aber offensichtlich ist Unsachlichkeit ein Merkmal, des „Kulturkampfes". Verständlich sind die Emotionen ja auch. Es gehtja um wesentliche Fragen, um Gut und Böse, Unrecht und Schuld. Da darf man schon leidenschaftlich werden. Aber sind es nicht gerade die Liberalisierer, die sich gern auf die Rationalität ihrer Argumente berufen? Was sollen dann diese persönlichen Diffamierungen?

Augstein hat in einem sicher recht: Nicht mehr das christliche Menschenbild prägt den Lebensentwurf des heutigen Menschen. Von fast allen weltlichen Kanzeln wird ja das Menschenbild vom Lebensglück durch Lustmaximierung propagiert.

So ließ sich Gerti Senger vor zwei Wochen in der Sonntags-„Krone" über den oralen Geschlechtsverkehr aus. Das hat mit vernünftiger Aufklärung wirklich nichts mehr zu tun. Und es geschieht vor großem Auditorium: Millionen lesen das. Zigtausend Kinder werden da in ihren Vorstellungen geprägt. Ähnliches beim ORF - immerhin eine staatliche Rundfunkanstalt mit Bildungsauftrag: In der Sendung „Freizeichen" Anfang Juli in 03 (zwischen 14 und 15 Uhr) wurden die Hörer eingeladen, ihre Erfahrungen zum Thema „Wo treiben Sie es am liebsten außerhalb des ehelichen Schlafzimmers?" zum Besten zu geben. Und sie machten großzügig Gebrauch von der Möglichkeit zu berichten, wie man es im Lift oder in der U-Bahn treiben kann.

Dazu paßt, daß der ÖAMTC in den letzten Monaten Sex-Video-Inserate bringt („30 Videos nur 200,-auf einer Cassette" - wenn das kein Schlager ist!), daß die „Wienerin" (April 92) über eine große Errungenschaft, Pornos von Frauen für Frauen, berichtet. Die praktizierende Sadomasochistin Krista Bernstein im Originalton: „Die Frauen, mit denen ich arbeite, sind auch privat meine Sexualpartnerinnen. Sie fühlen sich wohl vor der Kamera, können aus sich herausgehen, ihre Lust ist authentisch. Wir kommen richtig in Fahrt bei so einer Session."

Damit sind wir auch schon bei den gezielten Bemühungen, gleichgeschlechtliche Beziehungen salonfähig zu machen. Kürzlich landete die O-Nummer einer Grazer „Schwul-les-bischen Aktion" auf meinem Schreibtisch. Darin wird unter anderem von einer erfolgreichen Aktion „Infostand in der Grazer Innenstadt" berichtet. Aber nicht nur Schwule werben für ihre Anliegen, auch unser studentischer Nachwuchs macht sich dafür stark: Die heutige Psychologie sei sich ja schon weitgehend einig darin, daß wir alle mehr oder weniger stark bisexuell seien, kann man in „rotpress" 4/92 lesen. Es ist das Organ der sozialistischen Studenten, das als Titelbild übrigens das „rote Kondom" gewählt hat, Ersatz für die rote Fahne. Aber auch „Express", Organ der Hochschülerschaft beklagte vor kurzem, daß „Jugendliche, die Erfüllung ihrer emotionalen Bedürfnisse-bei Partnern des gleichen Geschlechts finden" in Österreich kriminalisiert würden oder ihnen von „Rechts wegen verordnet (würde) mit Frauen zu verkehren oder eben enthaltsam zu leben..."

All das ist angewandte Gesellschaftspolitik. Die Frage der Abtreibung ist nur eine von mehreren Fronten, an denen ein neues Menschenbild in derOffensive ist. Vorjahren im engen Kreis der Sozialwissenschaften entworfen, hat das Modell jetzt Breitenwirkung erlangt. Der Kampf um die Frage: Welcher Lebensentwurf soll unsere Gesellschaft prägen?, ist seit langem im Gange. Daß es derzeit keine Mehrheiten für das christliche Leitbild gibt, ist ein Faktum. Man muß es zur Kenntnis nehmen. Meinungsumfragen in fast allen westeuropäischen Ländern bestätigen das.

Glaube als Randerscheinung

„Was ist für ihr Leben wichtig?", wurden 1982 die Engländer gefragt. Das Ergebnis: Religion landete unter 23 Möglichkeiten an 22. Stelle hinter Hobbies, Aussehen oder Urlaub. Und die Deutschen reihten die Kirche -bezüglich Bedeutung für ihr persönliches Leben - an 17. Stelle unter 22 Begriffen (hinter Freizeit oder Wohngegend). In Österreich, Frankreich und Italien landete Religion unter sieben Möglichkeiten bei einer ähnlichen Befragung auf Rang sechs.

Und eine Befragung über Werthaltungen in Westeuropa (1981) ergab, daß die Europäer alles, was mit Verletzung des Eigentums zu tun hat („Ausborgen" eines Autos, Behinderung bei freier Arbeitsausübung, Hehlerei, Fahrerflucht bei Parkschäden...), sehr streng verurteilen. Was aber die Person anbelangt, sind sie recht liberal: Homosexualität, Euthanasie, Abtreibung - da findet man nichts dabei.

Was das für Christen bedeutet? Meiner Überzeugung nach heißt das Vorrang für das persönliche Gespräch, um die Botschaft Christi insgesamt glaubwürdig zu machen. Erst dann werden Einzelfragen verständlich. Das sei nicht als Resignation aufgefaßt. Im Gegenteil. Es bleibt wichtig, daß die Kirche klar Position bezieht. Christen sollten aber nicht beleidigt sein, wenn trotzdem anders entschieden wird. Sie sind dafür verantwortlich, daß die ihnen von Jesus Christus anvertraute Wahrheit über den Menschen weitergesagt wird. Ob man diese auch annimmt, liegt außerhalb ihres Einflusses.

Von jenen, die diese Positionen ablehnen, sollte man erwarten, daß sie sich nicht selbst durch allzu großzügige Verteilung des Etiketts Fundamentalist die Möglichkeit nehmen, von ernstzunehmenden Gegner etwas zu lernen. Das wäre ja der Vorteil der Demokratie, daß sie jedem ermöglicht zu einem gemeinsamen Lernprozeß beizutragen.

Ein zerstörerisches Konzept

Denn eines können gerade die Christen ins Treffen führen: Die Erfahrungen der Gegenwart zeigen ja nur allzu deutlich, wie katastrophal die heute gepredigte kurzfristige Nutzenmaximierung ist. Denn dieselbe Haltung, die im Umgang mit dem Menschen propagiert wird (nütze deinen Nächsten, solange es dir Spaß macht), erweist sich im Umgang mit der Umwelt (konsumiere heute so viel wie möglich) schon längst als Untergangsrezept.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung