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Zwischenbilanz der Sexwelle

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Als man vor einem Jahr Bilanz zog: „Was ist von den Studentenunruhen des Jahres 1968 eigentlich nach zehn Jahren geblieben?“, da waren viele Stimmen zu hören, die feststellten, daß eigentlich alles im Sand verlaufen sei. Es gab keine spektakulären politischen Veränderungen, keine Revolutionen, ja selbst das Zeitalter der kritischen Studenten scheint abgeschlossen. Dennoch ist unsere geistige Landschaft stark verändert.

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Als man vor einem Jahr Bilanz zog: „Was ist von den Studentenunruhen des Jahres 1968 eigentlich nach zehn Jahren geblieben?“, da waren viele Stimmen zu hören, die feststellten, daß eigentlich alles im Sand verlaufen sei. Es gab keine spektakulären politischen Veränderungen, keine Revolutionen, ja selbst das Zeitalter der kritischen Studenten scheint abgeschlossen. Dennoch ist unsere geistige Landschaft stark verändert.

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Vordergründig mag vieles beim Alten geblieben sein. In mancher Beziehung hat sich aber unter der Oberfläche ein tiefgehender Wandel vollzogen, dessen Bedeutung wir heute vielleicht in seiner Tragweite noch gar nicht abschätzen können. Besonders deutlich wird die Veränderung in der unterschiedlichen Einstellung, die wir heute in Fragen der Sexualität haben im Vergleich zu unserer Art zu denken und zu werten in den sechziger Jahren.

Am deutlichsten ausgeprägt ist die veränderte Einstellung bei den jungen Menschen. Dies geht unter anderem eindeutig aus einer Untersuchung des Aliensbacher Instituts für Meinungsforschung in der BRD hervor. Auf die Frage: „Ich finde nichts dabei, wenn ein Mädchen und ein junger Mann Zusammenleben, ohne verheiratet zu sein“, antworteten 1967 48% der Männer unter 30 Jahren, daß sie nichts dabei fänden. Dieselbe Antwort gaben hingegen nur 24% der befragten Frauen unter 30 Jahren.

Nur sechs Jahre später, also 1973, hatte sich das Bild bereits total gewandelt: Zu diesem Zeitpunkt befürworteten bereits 87% der Männer und 92% der Frauen der Altersklasse unter 30 das Zusammenleben Unverheirateter. Hier hat in kurzer Zeit eine echte Revolution stattgefunden!

Diese Beobachtung aus Deutschland kann ergänzt werden durch Erfahrungen aus anderen Ländern. Untersuchungen in den Vereinigten Staaten zeigen, daß im Jahr 1973 rund 80% der befragten Studenten bereit gewesen wären, bei passender Gelegenheit mit einer Person des anderen Geschlechts zusammenzuziehen.

Obwohl solche Partnerschaften meistens im Stil einer Ehe auf Probe geführt werden, stellt sich jedoch heraus, daß sie im allgemeinen nicht von Dauer sind: In zwei Drittel der Fälle dauern solche Partnerschaften nicht länger als zwei Jahre.

Aber selbst in der als prüde und besonders seriös verschrieenen Schweiz dürften sich die Zeiten geändert haben. Denn auch hier zeigen Meinungsumfragen, daß das Konkubinat salonfähig, geworden ist: 69% aller Schweizer billigen diese Form des Zusammenlebens von Mann und Frau. Unter den jungen Leuten findet man ähnliche Prozentsätze wie in der Bundesrepublik: 85% der jungen Schweizer bejahen das Konkubinat.

Nun gilt es zweifellos nicht, weinerlich diesen Zustand zu beklagen und mit verklärten Blick in die ach so gute alte Zeit zurückzublicken. Wir müssen uns einfach dieser Situation stellen, was nicht heißt, daß wir sie billigen müssen oder sollten. Im Gegenteil, gerade, wenn wir überzeugt sind, daß die massive sexuelle Liberalisierung, wie wir sie heute erleben, ein gefährliches Übel ist, müssen wir uns gründlich, nüchtern und vorbehaltlos mit diesem Problem auseinandersetzen, den Werdegang der Entwicklung zu begreifen versuchen.

Zunächst einmal gilt es einzugestehen, daß die sogenannte „bürgerliche“ Moral mit ihrer Doppelbödig- keit ebensowenig der menschlichen Sexualität gerecht wurde wie die durch viele Jahrhunderte hindurch von der Kirche eingenommene Haltung einer übertriebenen Leibfeindlichkeit. Die eher negative Einstellung selbst zu einem geordneten und beglückenden Sexualleben von Seiten der moralischen Instanzen, insbesondere auch der Kirche, mußte früher oder später zu einer Gegenreaktion führen.

Der Umstand, auf den auch Viktor Frankl hinweist (siehe Beitrag Seite 3), daß in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts die dominierende Ursache. j?ür. Nęuptjsjeruną pi ejner Störung des Sexüallebens gesehen werden muß, ist von da her verständlich. Sigmund Freuds Arbeiten haben sich gerade mit dieser Problematik auseinandergesetzt.

Allerdings geht Freud bereits so weit, daß er, grob gesprochen, die Ursachen der Neurotisierung fast ausschließlich in Störungen des Sexuallebens (insbesondere im Kindesalter) zu erkennen vermeint. Hier zeichnete sich schon das Ausschlagen des Pendels in die andere Richtung ab: Um Neurotisierung zu vermeiden, war nichts näherliegend, als zu einer Befreiung der bisher unterdrückten Sexualität des Menschen aufzurufen.

Einen weiteren wichtigen Schritt tat Freud auf dem Weg zur sexuellen

Liberalisierung insofern, als er den Unterschied zwischen normaler und pathologischer Sexualität in gewisser Hinsicht aufhob: Er erklärte nämlich letztere als eine Form der frühkindlichen, durchaus normalen Sexualität.

Die Arbeiten von Wilhelm Reich stellen einen weiteren entscheidenden Schritt auf dem Weg zur theoretischen Untermauerung der totalen sexuellen Liberalisierung dar. Einerseits verbindet Keich die gesell- schaftsbezogenen Aussagen von Marx mit den auf die Person des Menschen ausgerichteten Aussagen von Freud zu einer neuen Wissenschaft, der Sexualökonomie. Sein Hauptangriffspunkt ist die Familie mit ihrer autoritären Unterdrük- kungsfunktion.

Ein weiteres „Verdienst“ von Reich auf dem Weg zur sexuellen Revolution aber war das besondere Augenmerk, das er der genitalen Sexualität zuwendet. Er geht so weit, daß er dem Orgasmus die Funktion eines Gradmessers für gelungene Sexualität zumißt.

Damit aber ist es nicht mehr weit zu dem Konzept, das der amerikanische Sexualwissenschafter Kinsey seinen Erhebungen zugrunde legt. Für ihn wird der Orgasmus zum Indikator zur Erfassung, wie geglückt das Sexualleben einer Person ist. Alle Praktiken, die zum Erreichen des einmal so definierten Zieles dienen, werden gleichwertig und homogen behandelt.

Mir scheint, daß der wesentlichste Aspekt dieser Entwicklung darin zu sehen ist, daß die sexuelle Dimension als Erlebnisbereich isoliert betrachtet wird. Damit lassen sich menschliche Beziehungen rein auf das sexuelle Erleben reduzieren; Die sexuelle Begegnung ist somit nicht mehr eine der vielfältigen Möglichkeiten, eine tiefe menschliche Beziehungzum Ausdruck zu bringen. Sie wird zum Selbstzweck. Es entsteht ein autonomer Bereich mit einem eigenen Ziel (dem sexuellen Höhepunkt), das nicht mehr in einer Gesamtsicht von menschlichem Glück eingeordnet und relativiert wird, sondern als absolut erstrebenswert dargestellt wird.

„Je mehr Orgasmen, um so größer das menschliche Glück“, lautet die Parole. Daher spielt auch die Art und Weise, wie dieses „Glück“ erzeugt wird, nur eine untergeordnete Rolle. Von dieser Sicht der Dinge her ist es auch verständlich, daß es immer schwieriger wird, gegen das Uber- handnehmen anomaler Sexualpraktiken und perverser Beziehung zu-ar- gumentieren. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß sich im vergangenen Jahrzehnt eine neue Moralauffassung entwickelt hąt.

Sich mit ihr auseinanderzusetzen, muß unser aller Anliegen sein. Je länger die Sexwelle dauert, um so leichter ist es möglich, zu zeigen, daß die „neue Moral“ dem Gesamtglück des Menschen einfach abträglich ist. Immer zahlreicher werden die Mahnrufe, die aus Ärztekreisen, besonders von Seiten der Gynäkologen, kommen. So berichtete etwa J. Abrams 1974 auf einem internationalen Kongreß in Tel Aviv: Die Geschlechtskrankheiten, die in den fünfziger Jahren als ausgerottet angesehen worden waren, nehmen in den meisten Ländern rapid zu.

irffffibi; häüfte’PaRefÖK/öl betrifft nicht nur die unverheirateten jungen Leute, sondern immer mehr auch erwachsene und verheiratete Personen. Eine Folge dieses häufigen Wechselns und des Mangels an tiefgreifenden menschlichen Bindungen zum Geschlechtspartner ist, daß Frauen immer öfter über Frigidität klagen. Störungen stellen sich jedoch in wachsendem Maß auch bei Männern ein. Häufig sind es junge Männer, die über Impotenz klagen, sehr oft infolge eines allzu fordernden und sexuell aggressiven Verhaltens von „allzu liberalen“ jungen Frauen.

Immer häufiger wird auch die Erscheinung, daß Paare keinen Wunsch nach Kindern mehr haben, bzw. nach jahrelanger „erfolgreicher“ Schwangerschaftsverhütung einfach unfruchtbar werden.

Man muß sich ernsthaft fragen, ob es nicht langsam an der Zeit ist, jetzt, da sich die ersten Rückschläge der über uns hinweggegangenen Sexwelle zeigen, endlich nach einer ausgewogenen Sicht der Sexualität Ausschau zu halten. Dabei geht es sicher darum, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Das bedeutet, daß Prüderie und verklemmte Körperfeindlichkeit ebenso abzulehnen sind wie die heute dominierende Doktrin der möglichst früh beginnenden, möglichst häufig stattfindenden und möglichst bis ins hohe Alter forzuset- zenden sexuellen Betätigung jedweder Spielart.

Die einseitige Verabsolutierung der sexuellen Dimension des Menschen tut ihm ebenso unrecht wie ihre möglichst totale Unterdrük- kung. Sollten sich nicht gerade die Christen fragen, ob sie nicht zum Teil selbst schon stark angekränkelt sind von der heute vorherrschenden „modernen“ Moral? Spielen sich nicht gerade viele Diskussionen über die Sexualmoral so ab, als wäre hier ein vom menschlichen Glück losgelöster und separater Bereich Thema der Debatten?

Ich bin überzeugt davon, daß wir Lösungen nur dann finden werden, wenn wir von einer umfassenden Sicht her die Fragen nach der Sexualität zu lösen versuchen. Lassen wir uns nicht täuschen - die Verabsolutierung des Sexuellen schadet ja nicht zuletzt gerade der sexuellen Erlebnisfähigkeit, wie die oben erwähnten medizinischen Beobachtungen ifeifeeil'. Söhi/plästisch foWhÖIirt'Viktor. Frankl diese Einsicht, Wenn er feststellt:. ,,je mehr es einem, um die Lust geht, umso mehr vergeht sie einem auch schon!“

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