Regenbogenparade - © Foto: APA / EXPA / Florian Schroetter

Das Ende der Heteronormativität: „Vielfalt von der Vielfalt denken“

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Heteronormativität und duale Geschlechterverhältnisse sind in der Gesellschaft tief verwurzelt. Wie diese Denkweisen Beziehungen zu anderen, zur Welt und zu sich selbst prägen.

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Heteronormativität und duale Geschlechterverhältnisse sind in der Gesellschaft tief verwurzelt. Wie diese Denkweisen Beziehungen zu anderen, zur Welt und zu sich selbst prägen.

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Jutta Hartmann ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Bildungsfragen zur Triade Geschlecht, Sexualität und Lebensform.

DIE FURCHE: In Ungarn wurde vor kurzem ein umstrittenes Gesetz erlassen, dass Information zu Homo- und Transsexualität verbietet. Inwiefern beeinflusst die Tatsache, dass Lebensweisen, die von heteronormen Vorstellungen abweichen, zu Diskriminierung führen können, die Entwicklung Betroffener?
Jutta Hartmann:
Das beeinflusst massiv. Ich würde auch weitergehen, dass es nicht nur Menschen gegenüber diskriminierend ist, die sich selbst anders begreifen und anders leben wollen – sondern letztendlich alle von dem Gesetz betroffen sind. Denn alle Kinder und Jugendlichen erfahren nun nichts mehr von der Bandbreite an Möglichkeiten, sich geschlechtlich und sexuell verstehen und leben zu können. Damit wird eine zeitgemäße Bildung vorenthalten, die für ein reflektiertes Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich selbst steht. Wie sollen Kinder und Jugendliche ein reflektiertes Verhältnis zur Welt aufbauen, wenn sie nur einen schmalen Ausschnitt von dieser kennenlernen? Auch werden sie nicht unterstützt bei der Frage, wie kann ich mich ins Verhältnis setzen zu Menschen, die sich anders verstehen als ich mich selbst? Und drittens ist das Verhältnis zu sich selbst betroffen. Ich glaube, dass wir zum eigenen geschlechtlichen und sexuellen Sein nur dann ein mündiges Verhältnis entwickeln können, wenn wir das vor einem Horizont an potentiellen Möglichkeiten tun. Und wenn mir dieser Horizont nicht eröffnet wird, bleibt auch das Verhältnis zu mir selbst ein beschränktes.

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DIE FURCHE: Welche Faktoren beeinflussen grundsätzlich, was wir in unserer Gesellschaft über Beziehungen lernen beziehungsweise wie wir in Beziehung treten?
Hartmann:
Zunächst bilden die nahen Beziehungen, in die Menschen hineingeboren werden, die Grundlage schlechthin. Die Beziehung zu den Eltern und zu den Geschwistern und das Miterleben der Beziehungen der engsten Bezugspersonen zueinander. Hier geht es vor allem um den Umgang miteinander, die Interaktionen. Wie wird wahrgenommen, angenommen, aufeinander geantwortet? Im nächsten Schritt kommt es auf das soziale Umfeld an. Welche Beziehungen werden zum Beispiel in der Nachbarschaft erlebt? Aber auch die ersten Medien, Kinderbücher oder Filme sind entscheidend. Dabei werden konkrete Familienformen interessant. Aus Kind-Perspektive formuliert: „Haben andere Kinder auch zwei Mamas? Oder eine Mama und einen Papa? Und was gibt es noch?“ Als drittes sind die pädagogischen Einrichtungen relevant. Die Schule ist neben Familie und Peer-Group eine der wichtigsten Sozialisationsinstanzen. Einerseits gibt es dort den curricularen Inhalt – was an Wissen wird über vielfältige geschlechtliche oder sexuelle Lebensweisen hier vermittelt? Andererseits gibt es den sogenannten „heimlichen Lehrplan“, wo es um gelebte Verhaltensweisen und Normen geht, die aber noch immer zu wenig reflektiert werden.

Vorbild zu sein in einer Haltung, die diese Vielfalt als gleichwertig und gleichberechtigt anerkennt – das bildet die Grundlage dafür, was wir als normal wahrnehmen lernen.

DIE FURCHE: Wie kommen daraus dann die Vorstellungen von Normalität und Abweichung zustande?
Hartmann:
Es macht einen Unterschied, ob eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen ganz selbstverständlich kennen gelernt werden kann, oder ob nur eine kleine Auswahl vermittelt wird. Als Vorbild kommt es auch nicht darauf an, welche konkrete Lebensform man selbst lebt, sondern welche Einstellung man anderen Lebensweisen gegenüber vermittelt. Es geht darum, Vorbild in einer Haltung zu sein, die diese Vielfalt als gleichwertig und gleichberechtigt anerkennt. Darüber wird die Grundlage dafür gelegt, was wir als Menschen als normal wahrzunehmen lernen. Für pädagogisches Handeln habe ich die Orientierungslinie „Vielfalt von der Vielfalt aus denken“ formuliert. Sie soll helfen, die gängige Unterscheidung in Norm und Abweichung zu überwinden.

DIE FURCHE: Von queeren Personen wird in unserer Gesellschaft meist ein Coming-Out erwartet – auch um von anderen Personen eingeordnet werden zu können. Wäre es aus ihrer Sicht der Idealzustand, wenn wir Menschen nicht mehr in Kategorien einordnen? Oder brauchen wir diese, um miteinander interagieren und darüber hinaus auch in Beziehung treten können?
Hartmann:
Meines Erachtens sind nicht die Kategorien das Problem, sondern die Hierarchisierung von diesen. Ich finde es sinnvoll, dass wir in sexuellen Positionierungen und Selbstverständnissen eine Unterschiedlichkeit haben und dass wir darüber ins Gespräch kommen, wenn es ein wertschätzendes, respektvolles Interesse am Gegenüber gibt, eingebettet in der Anerkennung von Vielfalt. Aber wie Sie schon die Frage formuliert haben – dass nur bestimmte Menschen sich outen sollen – das ist ein Teil dessen, wie wir Heteronormativität definieren: Heterosexualität wird immer als selbstverständlich gesetzt, während alles andere als das Abweichende gilt. Der Gedanke „Vielfalt von der Vielfalt aus denken“ versucht da raus zu gehen. Dann müssten sich alle erklären – oder eben niemand. Ich finde das Konzept des Coming-Outs außerdem sehr ambivalent, weil häufig ein essentialistisches oder gegenständliches Identitätsverständnis dahinterliegt. Als könnte man die eigene Identität suchen und finden wie einen Gegenstand, den man verloren hat. Das wäre sozusagen das innere Coming-Out. Das äußere Coming-Out wird häufig damit verbunden, dass man zu sich stehen soll. Von einem heterosexuellen Menschen würde das jedoch niemand erwarten, das würde keinen Sinn machen. Damit wird wieder klar, wie die unterschiedlichen Lebensweisen hierarchisiert sind. Daher würde ich sagen, ja, es wäre gut, wenn wir das Coming-Out hinter uns lassen könnten. Für mich ist das jedoch mit dem Auflösen der Hierarchisierung verknüpft.

DIE FURCHE: Manchmal wird kritisiert, wenn sich das sexuelle oder geschlechtliche Selbstverständnis eines Menschen im Laufe des Lebens ändert. Wie sehr sind wir in unserer Gesellschaft von einem Verlangen nach Eindeutigkeit geprägt?
Hartmann:
Der Imperativ der Eindeutigkeit ist ganz zentral. Fast noch wichtiger, als klar einer Identität zuzugehören ist, diese Identität ein Leben lang zu behalten. Der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt geht davon aus, dass die sogenannte Monosexualität die Megaregel ist. Also wichtiger als Heterosexualität sei, eine eindeutige sexuelle Identität zu haben und diese ein Leben lang. Ich glaube, das hängt stark mit dem zusammen, was Michel Foucault gesagt hat: eine Ordnung in das unübersichtliche Gewimmel an Menschen zu bringen, um sie regierbar zu machen. Die Vorstellung, sich innerhalb eines Lebens geschlechtlich unterschiedlich zu begreifen, widerspricht diesem Ordnungsdenken sehr.

DIE FURCHE: Sie beziehen sich auch auf das Buch „Wie wir begehren“ von Carolin Emcke (Fischer, 2013). Diese vergleicht die Dynamik von Identität und des Begehrens mit Musik und schreibt: „Warum hatte uns das niemand erklärt, dass sich für manche das Begehren so wandeln kann wie eine Tonart, dass anfängliche Lust sich öffnen kann hin zu einer anderen, und, manchmal, wieder zu einer anderen? Warum sagt das heute niemand?“
Hartmann:
Das ist eines meiner Lieblingszitate. Es veranschaulicht das Fließende und sich im Laufe des Lebens Verändernde der Sexualität. Und es ist nahe an der Definition von Judith Butler, die Geschlecht und Sexualität beschreibt als „Improvisationen im Rahmen des Zwangs.“ Sexualität ist nicht wesenhaft, sondern ein Ergebnis komplexer Lernprozesse. Wir haben den gesellschaftlichen Rahmen der Heteronormativität – aber darin können wir improvisieren. Carolin Emcke beschreibt, dass es der Musikunterricht war, der ihr ein Hören zwischen den Tönen, eine analytische Lust ermöglicht hat, ein differenziertes Denken. Es wäre gut, wenn sich viele pädagogische Fachkräfte diese Fragen stellen und mehr darüber gesprochen wird, wie dynamisch wir sein können, welches Potential in uns Menschen steckt, uns auch anders zu begreifen, als die Norm es vorgibt.

Hartmann - © Foto: Kathrin Schröter-Hüttich

Jutta Hartmann

Jutta Hartmann ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Bildungsfragen zur Triade Geschlecht, Sexualität und Lebensform.

Jutta Hartmann ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Bildungsfragen zur Triade Geschlecht, Sexualität und Lebensform.

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