Rotlicht - ©  Holger Schué / Pixabay

"Das ist eine Verhurung von Frauen"

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Rotraud Perner, Juristin, Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin, plädiert für eine "sexuelle Reformation", geprägt von Freiheit und Verantwortung. Ein Gespräch.

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Rotraud Perner, Juristin, Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin, plädiert für eine "sexuelle Reformation", geprägt von Freiheit und Verantwortung. Ein Gespräch.

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"Ich plädiere für einen realistischeren Blick auf Sexualität. Meist wird sie verteufelt oder glorifiziert: Hier die traditionelle katholische Leibfeindlichkeit, dort die Sexualoptimisten der 68er."

Aktuell wird viel von der Notwendigkeit gesprochen, christliche Werte gegenüber denen anderer Kulturen zu bewahren bzw. zu verteidigen. Aber was sind diese Werte - vor allem im Zusammenleben und Zusammenwirken der Geschlechter?" Diese Frage steht am Anfang jener Masterarbeit, die Rotraud Perner - Juristin, Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin -im Fach evangelische Theologie verfasst hat. Am Ende plädiert sie für eine "sexuelle Reformation", geprägt von Freiheit und Verantwortung. Doch was heißt das vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen? DIE FURCHE hat mit ihr gesprochen.

Die Furche: Die Verleihung des deutschen Musikpreises "Echo" an die Rapper Kollegah (s. o.) und Farid Bang hat für einen Eklat gesorgt. Im Zentrum der Kritik standen antisemitische Passagen, aber auch unglaubliche Frauenverachtung findet sich auf dem Album "Jung Brutal Gutaussehend 3". Es heißt etwa: "Dein Chick ist ne Broke-Ass-Bitch, denn ich fick sie, bis ihr Steißbein bricht." Mittlerweile ist der "Echo" abgeschafft, aber was bedeutet es, wenn solche Texte tausendfach geliked und gehört werden?

rotraud A. Perner: Es gibt natürlich in den Massenmedien das große Suchen nach dem Sager, nach dem Tabubruch. Interessant ist jedenfalls, dass beim geringsten Hauch von Antisemitismus alle -berechtigterweise - aufschreien, aber selbst ärgster Sexismus oder auch Ageismus übergangen wird.

Die Furche: Endet hier für Sie die Freiheit der Kunst?

Perner: Kunst kann und muss auch aufrütteln, aber sie darf auch hinterfragt werden, denn sie ist ein Produkt des Kunstmarktes: Wenn man mit etwas Geld machen kann, dann wird es gepusht. Die Debatte, was Kunst ist, wäre jedenfalls überfällig, sie findet aber nicht statt. Doch wie sollen junge Menschen etwa zu solchen Songs Stellung beziehen können, wenn alle Angst haben müssen, als prüde, unmodern oder vorgestrig diskriminiert zu werden?

Die Furche: Während im Battle-Rap alle Grenzen überschritten werden, gibt es in der Realität eine wachsende Sensibilität gegenüber sexueller Belästigung oder Gewalt - Stichwort #Metoo. Ein Griff aufs Knie kann heute einen ministeriellen Rücktritt auslösen. Was halten Sie von dieser Entwicklung?

Perner: Ich finde gut, dass Formen sexueller Erpressung aufgezeigt werden. Und auch das Whistleblowing ist in Ordnung. Wenn jemand etwas berichtet, braucht es Unterstützung; und vor allem braucht es Modelle, wie Frauen bei sexuellen Übergriffen agieren können. Meine Generation war ja noch hilflos, weil wir zum Bravsein erzogen wurden.

Die Furche: Und was ist mit der Kritik, dass Männern im Zuge von #Metoo die Unschuldsvermutung genommen würde?

Perner: Ich verstehe die Verunsicherung der Männer, und sie ist auch gut, weil sie dann vielleicht vorsichtiger werden in ihrem Werbeverhalten. Es wäre wichtig, dass sie sich diese eine Sekunde Zeit nehmen, um ihr Wertesystem zu überprüfen. Es ist ja nicht so, dass der triebhafte Mann nicht anders könne. Und auch wenn Männer tatsächlich beschuldigt werden, wäre es wichtig, dass sie kühl überlegen: Habe ich einen Grund, mich zu entschuldigen? Oder muss ich mit der anklagenden Person eventuell besprechen, wie man das so bereinigen kann, dass keiner das Gesicht verliert? Hier wird man oft einen Dolmetscher brauchen, denn im Bereich der Sexualität gibt es zwei verschiedene Sprachen. Wobei erschwerend dazukommt, dass es ab 1968 -medial vermittelt - eine "Verhurung von Frauen" gegeben hat, wie ich es nenne.

Die Furche: Was meinen Sie damit?

Perner: Der Punkt ist, dass damals im Zuge des Suchens nach befreiten Sexualitätsformen die Scheu und Langsamkeit von Frauen überwunden wurde -vor allem in Verbindung mit der Verfügbarkeit hormoneller Kontrazeptiva. Zudem sind Verhaltensweisen aus dem Pornographiebereich, die teilweise von Künstlerinnen auf der Bühne gezeigt wurden, um etwas zu verkaufen, in das Alltagsverhalten eingesickert. Irgendwann sind dann die Mädchen auf der Straße so herumgelaufen wie Madonna. Diese Entwicklung ist nur von sehr prüden, sehr konfessionell gebundenen Leuten kritisiert worden, aber viele Frauen haben zu mir in der Therapie gesagt: "Ich habe mitgespielt, aber ich wollte es nicht."

Die Furche: Womit wir bei einem zentralen Punkt Ihrer Masterarbeit wären -nämlich Ihrer Kritik an der "Konsensethik" der "Sexualoptimisten". Die Konsensethik besagt, dass alles erlaubt ist, wozu zwei Partner zugestimmt bzw. wogegen sie nicht protestiert haben. Wo liegt hier das Problem?

Perner: Ich kritisiere, dass bei diesem Konzept nie energetisch gedacht wird, dass also manche Menschen deutlich stärker sind als ihr Partner -entweder in ihrer Selbsicherheit oder ihrer Körperkraft oder Argumentation -und dass es dann zu einem Ungleichgewicht kommen kann. Die Person, die stärker ist, kann und soll also nicht darauf vertrauen, dass der andere etwas wirklich will, wenn er zustimmt. Es kann auch aus Angst geschehen.

Die Furche: Aber wie kann Mann -und erst Recht später ein Richter -feststellen, ob der andere etwas tatsächlich will bzw. wollte?

Perner: Diese Frage ist schwierig und stellt sich auch beim Thema Vergewaltigung in der Ehe. Umso wichtiger wäre, dass Richter und auch Sachverständige sexuologisch geschult werden. Wenn ein sexuell erregter Mann seine Energien auf eine Frau zulässt, ist es ja ganz normal, dass die Frau erst einmal erstarrt. Wenn jemand sich nicht wehrt, heißt es also nicht automatisch, dass die Person es auch will. Doch das verstehen viele Richter und Anwälte noch immer nicht. Gesellschaftlich gesehen können wir das nur immer wieder thematisieren -und müssen wie gesagt darauf drängen, dass sich Menschen diese kurze Sekunde des Reflektierens nehmen. Das ist für mich Ethik.

Die Furche: Wie passt das "Begehren" dazu?

Perner: Das ist für mich eine Frage des Zeitmanagements. Es geht darum, sich wirklich die nötige Zeit zu lassen, den anderen wahrzunehmen. Den Begriff "Keuschheit" kann man ja ableiten vom lateinischen conscius, bewusst machen: Man muss sich bewusst machen, was gerade läuft. So wie man besser keinen Kavalierstart hinlegt, sondern langsam Gas gibt, sollte man auch lernen, langsam mit den eigenen Erregungszuständen umzugehen. Und nur mit der Zeit kommt auch der Genuss. Das erklärt auch, warum viele Leute heute so unbefriedigt bleiben.

Die Furche: Neben mehr Zeit wünschen Sie sich auch einen realistischeren Blick auf Sexualität.

Perner: Ja, Sexualität wird meist verteufelt oder glorifiziert: hier die traditionelle katholische Leibfeindlichkeit, die ich eher als Bewältigungsmethode von zölibatär lebenden Männern verstehe, dort die Sexualoptimisten, die die Gefahren nicht sehen wollen. Aber wenn ich auf Genesis 1,28 schaue, dann heißt es hier nach meiner Übersetzung: "Seid kreativ und fördert einander." Es geht also nicht um einen "ehelichen" Vermehrungsauftrag, sondern um gegenseitige Förderung, Adam und Eva sind hier Prototypen für alle Männer und alle Frauen. Statt einer "Konsensethik" plädiere ich deshalb für eine salutogene, gesundheitsfördernde Verantwortungsethik, die auf Dialog und gegenseitiger Wahrnehmung beruht. Salutogenese ist ja keine Einbahnstraße. Und das kann man auch von klein auf trainineren.

Die Furche: Wie könnte eine salutogene Sexualpädagogik in Schulen umgesetzt werden?

Perner: Lehrerinnen und Lehrer bräuchten dazu jedenfalls eine Handreichung, ein Vademecum, wie sie mit dem Thema altersgemäß umgehen sollen -vor allem angesichts anderer Kulturen und eines drohenden Clash of Cultures. Meine 2010 angebotene Lösung ist ein Online-Coaching für Lehrerinnen und Lehrer, bei dem Experten im Dialog mit den Betroffenen arbeiten und die Ergebnisse dann -anonymisiert -für alle auf einer Homepage öffentlich einsehbar sind.

Die Furche: Apropos andere Kulturen: Die stärkste Gegenbewegung zur vermeintlichen "Verhurung" von Frauen kommt derzeit von muslimischer Seite. Das führt mitunter dazu, dass Mädchen ohne Kopftuch als sündhaft ("haram") bezeichnet werden. Was sagen Sie zu diesen Entwicklungen?

Perner: Diese neuen Verhüllungstendenzen führen wieder ins andere Extrem und sind natürlich problematisch -nicht nur deshalb, weil hier wieder Besitzdenken dahinter steht, sondern auch, weil Mädchen und Frauen dadurch im Alltag wirklich behindert werden. Außerdem weiß man nie, wer hinter der Verhüllung steckt. Es gibt also viele Gründe, die dagegen sprechen.

Die Furche: Was halten Sie vor diesem Hintergrund vom geplanten Kopftuchverbot in Kindergärten und Volksschulen?

Perner: Das Verbot halte ich für nicht wirklich zielführend. Ich kann es aber als Versuch verstehen, eine Diskussion anzustoßen. Und es kann sein, dass manche Mütter und junge Mädchen dankbar sind, weil sich dadurch Diskussionen mit manchen Vätern erübrigen. Aber ich plädiere lieber für einen Dialog, bei dem religiöse Experten mit Autorität den Jugendlichen sagen: Das ist nicht notwendig, das steht nicht im Koran.

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