Im toten Winkel der Moral

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Barbara C. Jarnig erzählt, wie sie in das Milieu geraten ist, es geschafft hat, wieder auszusteigen, und wie sie andere Frauen beim Ausstieg unterstützt.

Heute kann die 39-Jährige ganz ruhig über ihre Erfahrungen im Rotlichtmilieu sprechen. Sie hat vor neun Jahren geschafft, was nur wenigen gelingt, die einmal in diese brutale Szene hineingeraten: den Ausstieg aus der Prostitution. Die Wienerin hilft Frauen dabei, aus jenem Teufelskreis auszubrechen, in dem sie selbst sieben Jahre gefangen war.

Die Furche: Wie sind Sie in die Prostitution geraten?

Barbara C. Jarnig: Ich war als uneheliches Kind in den Siebzigerjahren in Kärnten von Beginn meines Lebens mit einem Stigma behaftet. Meine alleinerziehende Mutter war in vielerlei Hinsicht überfordert und hat mich geschlagen. Ab dem sechsten Lebensjahr habe ich sexuellen Missbrauch durch den Nachbarn erlebt. Als Kind war mir nicht bewusst, dass es sich um Missbrauch handelt. Ich habe nie gelernt, meine Grenzen wahrzunehmen und anderen gegenüber zu verteidigen.

Die Furche: Wie war Ihre Jugend?

Jarnig: Ab dem ersten Hauptschuljahr habe ich in einem Kinderheim gewohnt. Ich wurde zur Borderlinerin, habe mir Gewalt zugefügt: Ich habe mich geritzt, Putzmittel getrunken und war anderen Heimkindern gegenüber gewaltbereit. Als ich 14 war, hat sich mein älterer Bruder an mir vergangen. Auch in meiner Ehe mit einem Fernfahrer habe ich Missbrauch erlebt. In allen Fällen war Alkohol im Spiel. Durch einen weiteren Missbrauch wurde ich mit 19 schwanger.

Die Furche: Wie sind Sie mit dieser Situation umgegangen?

Jarnig: Mir war klar, dass ich mein Kind trotz allem bekommen möchte und dass es keinesfalls in ein Heim kommen sollte. Viele Jahre war mir nicht bewusst, dass meine Tochter ein Missbrauchskind ist. Da wirkte wohl eine Art Selbstschutz, damit ich sie vorbehaltlos lieben kann.

Die Furche: Wovon haben Sie gelebt?

Jarnig: Nachdem ich mehrere Lehren abgebrochen hatte, habe ich als Kassiererin und in der Fahrzeugaufbereitung gearbeitet. Dummerweise habe ich eine Bürgschaft für die Schulden meines jüngeren Bruders unterschrieben. Ich bin hochverschuldet nach Wien gegangen und habe in verschiedenen Abhängigkeitsbeziehungen gelebt, teils auf der Straße. Irgendwie musste ich meine Tochter und mich durchbringen. Schließlich habe ich eine Anzeige in der Zeitung gesehen und dort angerufen.

Die Furche: Welche Art von Annonce war das?

Jarnig: Auf mich hat die Anzeige damals seriös gewirkt: "Erster Bezirk, Masseurin gesucht, Spitzenverdienst.“ So verlogen sind die Anzeigen. Insgesamt sieben Jahre habe ich in sogenannten "Massagesalons“, verschiedenen Prostitutionslokalen und bei Escortservices gearbeitet. Die Gürtellokale habe ich gemieden, weil die Frauen dort zum ständigen Alkoholkonsum angehalten werden. Auch wollte ich nie so exponiert am Straßenstrich stehen. Irgendwo hatte ich noch meine Grenzen.

Die Furche: Wie ist es Ihnen als Prostituierte ergangen?

Jarnig: Zu Beginn empfand ich meine Position als machtvoll: Nun wurde ich für Dinge bezahlt, wozu ich zuvor privat gezwungen wurde. Einige Männer sind zu mir gekommen, um nur zu reden, aber oft ist es brutal zugegangen. Um mich zu betäuben, war ich ständig auf verschiedenen Medikamenten, eine Weile kokainsüchtig. Ich habe unter Schlafstörungen gelitten, zudem Bulimie und Fresssucht entwickelt. Dahinter steckte der Wunsch, meinen Körper zu kontrollieren. Am Ende konnte ich vor lauter Schmerzen kaum mehr gehen, habe nur mehr gearbeitet, um meine Sucht zu finanzieren.

Die Furche: Wie hat sich die Arbeit auf Ihr Privatleben ausgewirkt? Jarnig: Schon zuvor habe ich mit Frauen zusammengelebt, denn meine Beziehungen zu Männern haben mich an die Missbrauchserlebnisse erinnert. Ich habe den Geruch von Männern nicht mehr ertragen. Meine kleine Tochter hätte ich niemals mit einem Mann alleine in der Wohnung gelassen.

Die Furche: Wie viel hat Ihre Tochter von Ihrer Arbeit registriert?

Jarnig: Relativ wenig. Die Arbeit fand nur außerhalb des Hauses statt. Während ich weg war, hat ein Au-pair auf sie aufgepasst. Als ich ausgestiegen bin, war sie acht Jahre alt. Weil ich dieses belastende Familiengeheimnis lüften wollte, habe ich sie über meine Vergangenheit aufgeklärt, als sie 16 war. Sie hat das gefasst aufgenommen.

Die Furche: Welche Erfahrungen haben Sie mit der Polizei gemacht?

Jarnig: Einmal haben mich mehrere Kunden mit K.-o.-Tropfen betäubt und missbraucht, aber als Prostituierte gehst du nicht zur Polizei. Viele Polizisten sind selbst Freier. 2006 war ich endlich soweit, meinen älteren Bruder und den einstigen Nachbarn in Kärnten anzuzeigen, der sich an mir und seiner Schwester vergangen hat. Wir sind gemeinsam zur Polizei gegangen. Dort wurde uns ein Psychologe vorgesetzt - gerade bei so einem Gespräch hätte ich mir eine Frau als Ansprechpartnerin gewünscht. Unsere Anzeige hatte keine Folgen für die Täter: Ich erhielt ein Schreiben darüber, dass die Tat verjährt ist und obendrein nicht schwerwiegend genug. Darüber war ich sprachlos.

Die Furche: Wie haben Sie es geschafft, nach sieben Jahren im Milieu auszusteigen?

Jarnig: Meine damalige Freundin ist mit meiner Arbeit nicht zu Rande gekommen. Und ich konnte körperlich einfach nicht mehr. Mit Ende 20 war ich gesundheitlich schon ziemlich am Ende. Um seelisch heiler zu werden, habe ich mich einer Psychotherapie unterzogen und erkannt: Ich habe mich dauernd in Gefahr begeben, weil ich so selbstzerstörerisch programmiert war. Meinen Hass gegenüber Männern wollte ich in den Griff bekommen. Oft kommen aber durch kleine Auslöser im Alltag Bilder und Erinnerungen hoch.

Die Furche: Welche Probleme hatten Sie bei Ihrer Rückkehr in das "normale Leben“?

Jarnig: Diese sieben Jahre werden mir für meine Pension nicht angerechnet. Ich war nicht sozialversichert, musste aber regulär Steuern bezahlen. Beim AMS wurde mir geraten, im Lebenslauf "Hausfrau und Mutter“ anzugeben. Weil Prostitution kein anerkannter Beruf ist, gibt es auch keine Berufskrankheiten: Ich leide aber bis heute unter Waschzwang und könnte nirgends arbeiten, wo ich einen Mann als Chef habe.

Die Furche: Was haben Sie seit Ihrem Ausstieg beruflich gemacht? Jarnig: Ich habe vier Jahre lang als mobile Altenpflegerin bei der Volkshilfe gearbeitet, dann habe ich diese Arbeit körperlich nicht mehr geschafft. Als mir klar wurde, dass ich im System nicht mehr funktioniere, habe ich den Verein "Menschenkraft“ gegründet: Dabei helfe ich Frauen beim Ausstieg aus der Prostitution. Außerdem besuche ich alte Menschen, helfe ihnen im Alltag, schenke ihnen Zeit.

Die Furche: Wie unterstützen Sie die Frauen beim Ausstieg?

Jarnig: Derzeit begleite ich eine 38-jährige Rumänin. Sie ist nun in einer Entzugsanstalt, außerdem bringe ich sie regelmäßig zur Schuldnerberatung und spreche mit ihr über ihre Perspektiven. Man kann aber niemanden retten. Die entscheidenden Schritte müssen die Frauen selbst gehen. Als ich einer Frau geraten habe, ihren Zuhälter zu verlassen, wurde ich bedroht und musste umziehen.

Die Furche: Welche Parallelen gibt es in den Lebensgeschichten?

Jarnig: Armut ist immer der Ausgangspunkt. Ich schätze, dass 80 Prozent schon zuvor Opfer von Missbrauch und Gewalt wurden. Nur deshalb sind sie fähig, diese Arbeit auszuüben. Dann folgen Abhängigkeit, Isolation, wieder Gewalt, Alkohol, Drogen. Die Zuhälter setzen die Frauen unter Drogen, damit sie noch kontrollierbarer werden.

Die Furche: 80 bis 90 Prozent der Frauen sind Migrantinnen.

Jarnig: Die Zuhälter holen mittellose Frauen aus Osteuropa, nehmen ihnen die Papiere ab. Die meisten sprechen kein Deutsch und wissen nicht, was sie erwartet. Oft kommen die Frauen mit Schlepperbanden ins Land. Deren Familien in den Heimatländern glauben, sie würden als Pflegehilfen oder Ähnliches arbeiten.

Die Furche: Sie arbeiten derzeit an einer Schullektüre. Worum soll es darin gehen?

Jarnig: Ich will Kinder präventiv über Gewalt und Missbrauch jeglicher Art aufklären und sie dazu ermutigen, sich im Falle eines Übergriffs einer Vertrauensperson zu öffnen. Die Lektüre soll Kindern ein Bewusstsein für ihre soziale Verantwortung in verschiedensten Situationen vermitteln.

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