"Ich habe hier Wurzeln geschlagen“

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In Tschetschenien wurde sie verfolgt, in ihrem Zufluchtsland Österreich von ihrem Ehemann geschlagen und in der Straßenbahn nicht selten angepöbelt. Doch die vierfache Mutter Zarema Sulajewa hat hartnäckig ihr Glück gesucht - und es beinah gefunden.

Als sie mit ihrer Kinderschar die 56 Quadratmeter kleine Wohnung bezieht, schauen die Nachbarn verwundert. Auch Zarema Sulajewa wundert sich: In ihrem Heimatland Tschetschenien würde man die Neuen zum Tee einladen. Aber die junge Frau wartet nicht ab, sondern versucht von sich aus, den Hausbewohnern ihren Schock zu nehmen. Sie kauft einfach einen großen Blumenstrauß und pilgert mit ihren vier Kindern von Tür zu Tür. Jeder Bewohner bekommt zur Begrüßung eine Blume - und ein Lächeln: "Hallo, wir sind ihre neuen Nachbarn“, stellt sie sich vor. "Ich bin Zarema, das sind meine Kinder Magamed, Adam, Chawa und Mansur.“

So beschränkt die Wohnverhältnisse in Wien auch sind: Für die 32-jährige Mutter bringt der Umzug eine Verbesserung.Mit ihrem Mann, drei kleinen Kindern und schwanger ist sie 2003 aus Tschetschenien geflohen. Zu viel Schreckliches hat sie erlebt. Erst 2007 bekommt die Familie Asyl in Österreich. Bis dahin führt sie ein beengtes Leben in drei verschiedenen Heimen. "Wir haben vier Jahre lang in winzigen Zimmern gewartet“, erzählt die zierliche Frau. "Es ist eine eigene Welt. Keine Arbeit, kaum Geld, kaum Kontakt zu Österreichern, stattdessen russisches Fernsehen und viele Landsleute.“ Die Familie ist traumatisiert, braucht psychologische Hilfe. "Manche können das annehmen und sich selbst retten“, weiß Sulajewa. "Und manche schaffen es gar nicht.“

Frustration und Gewalt

So wie auch ihr eigener Ehemann, der den Bruch und Statusverlust in seinem Leben nicht verkraftet hat. In Grosny hat die Familie über ein Haus verfügt - und der Vater über ein abgeschlossenes Technik- und Pädagogikstudium. Hier in Österreich zählt das alles plötzlich nichts mehr. Der Mann verfällt dem Alkohol und reagiert mit Gewalt gegen seine Familie. Als das vierte Kind geboren ist, packt Zarema schließlich ihre Sachen und flieht mit ihren Kindern wieder. Bis nach Bregenz zu einer Tante. Noch heute atmet sie tief durch, wenn sie von damals erzählt: "Es war nicht mehr zum Aushalten. Ich wollte weg, so weit wie möglich.“ Auch Therapien habe ihr Mann immer wieder abgebrochen. "Ihm wurde so viel Hilfe angeboten, aber er ist einfach nicht mehr mit dem Leben zurechtgekommen.“

Geprägt von ihren Erfahrungen hat Sulajewa eine große Stärke darin entwickelt, widrige Zeiten trotzdem gut zu nützen. Als Asylwerberin bemüht sie sich, rasch Deutsch zu lernen: "In einem Geschäft am Schwedenplatz habe ich mir ein Grammatikbuch gekauft“, erinnert sie sich. "Ich war so motiviert, obwohl meine Kinder ständig krank waren, ich selbst schwanger war und oft zum Arzt musste. Aber ich habe bis ein Uhr nachts gelernt und morgens die Wörter wiederholt.“

Dieser Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass sie immer öfter als Übersetzerin eingesetzt wird - und schlussendlich eine Ausbildung zur Beraterin absolvieren kann. "Ich war wohl die Einzige, die nie gefehlt hat“, erzählt sie lachend. Für die Kinderbetreuung organisiert sie alles Mögliche: Oma-, Opa- und Nachbardienst. Alles auf Deutsch - eine Herausforderung. Bei der Präsentation ihrer Abschlussarbeit sind schließlich auch Vertreter vom Wiener ArbeitnehmerInnenfonds (WAFF) anwesend. Prompt wird ihr eine Stelle angeboten. "Ich war so froh, so stolz“, sagt sie heute strahlend in ihrem Büro.

Nun kann sie sogar daran denken, einmal eine größere Wohnung zu mieten oder auf Urlaub zu fahren. Umso mehr hat sie kürzlich eine Zeichnung ihrer Kinder berührt: Das Blatt zeigt sie selbst, wie sie schwer bepackt mit einem Rucksack die Treppe erklimmt. Ihre innere Einstellung hilft ihr freilich, den Alltag zu bewältigen: "Ich habe vier Kinder, die ich großziehen muss“, ist sie sich bewusst. "Wenn ich von der Arbeit nach Hause fahre, habe ich genau 40 Minuten zum Durchatmen. Dann brauchen die Kinder meine ganze Energie, aber ich bekomme auch sehr viel zurück.“

Ihre einstige Begrüßungsaktion hat jedenfalls Früchte getragen: Wenn etwas kaputt ist oder die Fahrräder der Kinder - heute zwölf, zehn, acht und sieben Jahre alt - ein Service brauchen, kommen Nachbarn und helfen mit. Auch mit den Österreicherinnen und Österreichern insgesamt habe sie meist gute Erfahrungen gemacht. Nur manchmal in der Straßenbahn werde sie angepöbelt, wenn sie mit ihren Kindern tschetschenisch spricht. "Ich versuche dann zu erklären, dass wir alle Deutsch können, aber dass für uns auch die eigene Sprache wichtig ist“, stellt sie klar.

Leben in Sicherheit

Es gehe darum, sich der eigenen Herkunft bewusst zu sein - und zugleich seinen Platz in der neuen Heimat zu finden. "Ich bin Tschetschenin, aber ich lebe hier“, sagt die zierliche Frau bestimmt. "Manche gestehen mir nicht zu, dass ich beruflich weiterkommen will, ich könne ja putzen gehen. Andere sagen, du gehörst nicht zu uns. Dabei habe ich hier längst Wurzeln geschlagen und - so glaube ich jedenfalls - auch ein Recht darauf, endlich sicher und glücklich zu sein.“

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