Im "Chandra" der VERTREIBUNG

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In der Ukraine leben Tausende Bürgerkriegs-Vertriebene ein verzweifeltes Dasein. Reportage aus dem blinden Winkel der Weltöffentlichkeit.

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In der Ukraine leben Tausende Bürgerkriegs-Vertriebene ein verzweifeltes Dasein. Reportage aus dem blinden Winkel der Weltöffentlichkeit.

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Wer nicht weiß, dass es sie gibt, gerät dort erst gar nicht hin. Unweit vom ostukrainischen Charkiw, nur 40 km von der Front entfernt, liegt die modulnij gorodok, eine Siedlung für Binnenflüchtlinge, sogenannte IDPs (Internal Displaced Persons), aus dem Donbass. Auf weißem Kies stehen hier graue Wohncontainer, auf dem dazugehörigen Spielplatz lachen und schaukeln Kinder, vor den "Häusern" trocknet auf Ständern Wäsche. Der Versuch eines normalen Lebens soll hier stattfinden. Das Lager soll Familien mit Kindern und Invaliden aus umkämpften ostukrainischen Gebieten Sicherheit schenken. Küche und Badezimmer werden geteilt, auf einem Herd köchelt ein Topf vor sich hin, auf dem Gang duftet es nach grechka, Buchweizen. Jana aus Lugansk trägt ihren Sohn auf dem Arm, der hier geboren wurde, und erzählt, dass sie gerne nach Österreich möchte. Sveta, die in ihrer Heimatstadt als Verkäuferin gearbeitet hat, sorgt nun für Sauberkeit in ihrem Block. Die Großmutter, die mitgekommen ist, hat Schmerzen. Das Geld reicht kaum für die teuren Medikamente. Der Ehemann ist gestorben.

Und dann ist da noch Tanja. Der Name ist die liebevolle Abkürzung für Tatjana. Tanja fällt auf. Kurzes blondes Haar umspielt ihr hübsches Gesicht, sie trägt einen langen grünen Rock und eine knallrote Bluse. Die Finger-und Fußnägel sind perfekt maniükiert, die grauen Augen gekonnt geschminkt.

Schmerzliche Momente

Sie ist es gewohnt gut auszusehen, erklärt sie. Als Hochzeitsplanerin, die sie in ihrer Heimatstadt war, musste sie das. Freundlich lädt sie zum Tee in ihre vier Wände ein. Man fühlt sich geehrt. "Schwarztee oder Grüntee?" fragt sie und lässt den Gast an verschiedenen Dosen riechen. Dazu kann sie leider nur suchariki, zwiebackähnliche Kekse, servieren. Mehr gibt es im Moment nicht. Hinter ihr eine vollgeräumte Küche, neben ihr ein Sack von Medikamenten, den sie gerade bei der Caritas abgeholt hat, und vor ihr ein ordentlich gemachtes Doppelbett. Und dann erzählt sie vom Krieg und von sich selbst. Davon, dass sie noch drei Wochen nachdem die Boben auf die Stadt gefallen waren mit zitternden Händen dagesessen ist. Zwei Tage und Nächte hatten sie und ihre Familie im Keller des Hauses verbracht und auf ein Ende der Detonationen gewartet. Die Kinder weinten, sagt Tanja.

Mit charmantem ukrainischem Akzent, wenn sie Russisch spricht, der beinahe jedes "g" wie ein "h" aussprechen lässt, berichtet sie von ihrer Heimat, Horlovka (Gorlovka) in Donezk. Zuhause waren die Umstände andere, da gab es eine Haushälterin, da musste sie nicht auf die Preise im Geschäft achten -man lebte gut und teuer.

Nun schmerzen Momente, wo sie auf die billigste Kleidung zurückgreifen muss. Ihre drei Kinder Vita (8), Juri (14) und Ivan (6) tun sich leichter, Tanja und ihr Mann Andrej jedoch müssen sich jeden Tag fragen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Trotz der schwierigen Lage in ihrer neuen Heimat dürfen ihre Tochter und ihre beiden Söhne auf Sommerlager fahren. Früher jedoch reiste die ganze Familie regelmäßig im Sommer auf die Krim oder im Winter auf Skiurlaub. Es ging ihnen gut. An ihrer Nachfrage als Hochzeitsplanerin erkennt sie die wirtschaftliche Lage im Land: es wird weniger geheiratet. Und Tanja wird weniger gebraucht.

Nun droht vielleicht auch noch ein neuerlicher "Umzug" - weil bald kein Platz mehr für sie sein könnte in dem Lager bei Charkiv. Auf der Straße stehen mit drei Kindern? Das Wort "beängstigend" kommt während des Gesprächs häufig aus Tanjas Mund. Und wie schläft sie nachts?"Oj " praktisch gar nicht, denn eine von ihr organisierte Hochzeit steht an. Und sie lacht. Ein seltener Moment, wenn man sie genau beobachtet.

Für den großen Tag sind noch einige Vorbereitungen zu treffen. Als wären ihr Kummer und die Aufregung noch nicht genug, muss sie täglich mit den neidischen Blicken anderer Flüchtlingsfamilien fertig werden. Denn ihr Häuschen ist das schönste in der Siedlung, davor blüht ihr ganzer Stolz -rote und weiße Blumen. Irgendwie, meint sie, geht es ihnen ja doch nicht ganz so schlecht: Ihr Mann und sie haben beide ein Auto, mit dem sie beinahe täglich zur Arbeit fahren.

Andere Frauen in der Siedlung putzen, um ihre kopeiki zum Überleben zusammenzukratzen. Eines findet sie in Krisenzeiten trotzdem schön: Die Verbindung mit ihren Lieben wird in solchen Zeiten noch enger. Oft telefoniert sie mit ihrer Mutter, die ebenfalls flüchten musste. Ihre Schwiegermutter ist noch dort. Die Kinder, erzählt sie bei den Telefonaten, gehen nicht mehr zur Schule, sondern sitzen im Keller. Es hat sich also nichts geändert - zu Hause. Warum sie dann nicht hierher kommen? "Menschen fürchten sich vor Veränderungen. Sie sagen dann, sie hätten kein Geld, um wegzufahren."

In der Ukraine bleiben

"Wir hatten auch kaum Geld, 8000 Grivnja (rund 320 Euro), davon gingen 4000 für die Miete des neuen 'Hauses' hier in der Siedlung weg und der Rest fürs Essen. Mein Mann und ich verstanden, wenn wir hier nicht zu leben beginnen, dann müssen wir wieder zurück". Doch Tanja ließ sich nicht unterkriegen: von Restaurant zu Restaurant lief die 35-jährige, rief alle Hochzeitsagenturen in Charkiw an. Arbeiten helfe, um nicht an den Krieg zu denken. Denn den ken macht Angst. Angst, zu leben, weil die Perspektiven nicht klar sind. Der Traum ist ein eigenes kleines Haus, um das Gefühl zu haben, dass sie von dort niemand wegjagen kann. Sicherheit, Stabilität, danach sehnt sich Tanja.

"Chandra" heißt der Seelenzustand, die Müdigkeit, die Abgeschlagenheit, die Hoffnungslosigkeit die Trauer. Tanja kennt "Chandra" gut.

Wie es weiter geht? Das weiß sie nicht. Gesagt hat man ihr, als sie ankam, sie solle hier leben, gerade so als würde sie nicht mehr heimkehren. Ins Ausland will sie nicht. Wohin auch? Die Teetassen sind leer. Schnell notiert sie ihre Mailadresse. In Kontakt bleiben, das wäre schön. Höflich begleitet sie ihren Gast zur Haustür. Zum Abschied eine Umarmung begleitet von der unausgesprochenen Bitte, zu berichten, wie es ihnen hier in der Ostukraine geht.

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