Mit einem kleinen Koffer in eine neue Welt

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Tausende österreichische Kinder wurden in den Nachkriegsjahren von der Caritas zum "Aufpäppeln" für eine Auszeit nach Portugal geschickt. Waltraud Kispert ist eines der wenigen "Caritas-Kinder", das bis heute dort lebt. Der FURCHE hat sie ihre Geschichte erzählt.

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Tausende österreichische Kinder wurden in den Nachkriegsjahren von der Caritas zum "Aufpäppeln" für eine Auszeit nach Portugal geschickt. Waltraud Kispert ist eines der wenigen "Caritas-Kinder", das bis heute dort lebt. Der FURCHE hat sie ihre Geschichte erzählt.

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Kaum mehr als ihre Kleidung am Leib hatte die fünfjährige Waltraud, als ihre Eltern sie in Wien in den Zug setzten. Es war das Jahr 1948. Die Fahrt hat sie noch immer klar vor dem geistigen Auge. "Ich habe die ganze Zeit nur geweint", sagt die heute 72-Jährige mit dem freundlichen Lächeln und dem großen Kreuz um den Hals. Nach drei Reisetagen stieg sie "ganz dreckig und schwarz" mit den anderen Kindern in Lissabon aus - ohne zu wissen, wer sie erwartet. "In der Schule gab es ein Caritas-Formular, das die Eltern ausfüllen mussten", erinnert sich Waltraud Kispert. Ihre Familie entschloss sich, die Tochter für neun Monate nach Portugal zu schicken. "Nach dem Krieg herrschte so eine Knappheit, dass sie dachten, das wäre das Beste für mich."

Über 5500 Kinder zwischen vier und zwölf Jahren wurden zwischen 1947 und 1958 wegen ihrer Bedürftigkeit oder gesundheitlicher Probleme von der Caritas in Familien im unversehrt gebliebenen Portugal untergebracht. Sie blieben zwischen sechs und zwölf Monate bei ihren Gastfamilien. Nach dem Vorbild der Landverschickungen während des Krieges organisierte die Caritas solche Aufenthalte für Kinder unterschiedlicher Konfessionen in Portugal, Spanien, Italien, Luxemburg, Belgien und den Niederlanden.

Suche nach Kontakten von damals

Die Motive der portugiesischen Familien waren unterschiedlich: "Christliche Nächstenliebe, karitatives Engagement oder einfach der Wunsch nach einem Kind im Haus", berichtet Ingo König, Mitarbeiter der österreichischen Botschaft in Lissabon. Immer wieder melden sich bei ihm Österreicher, die auf der Suche nach ehemaligen Pflegeeltern oder Freunden aus Kindheitstagen in Portugal sind. Um die Kontaktvermittlung zu erleichtern, sollen bis 2017 ein umfassendes digitales Archiv sowie eine Datenbank erstellt werden.

Einige Kinder kamen ohne Zuteilung zu einer bestimmten Familie am Bahnhof in Portugal an und wurden dort von Leuten spontan mitgenommen. Einflussreiche Familien konnten im Vorfeld Kinder "reservieren". Besonders beliebt waren blonde Mädchen - wie die kleine Waltraud. Ältere Kinder hatten es schwerer. Die "übrig gebliebenen" wurden vor allem in Pfarren und Klöstern untergebracht. Von Gewalt oder sexuellem Missbrauch dort oder in den Gastfamilien ist kein Fall bekannt. "99 Prozent der Erfahrungsberichte sind positiv", erzählt König.

Für das kleine niederösterreichische Mädel aus schwierigen Verhältnissen sollte sich Portugal als Glücksfall erweisen -zumindest vorübergehend: Ihre Gasteltern entpuppten sich als sehr herzliche Menschen, die selbst keine Kinder bekommen konnten. Gemeinsam mit zwei Buben, Dolfi und Helmut, wurde sie in die neue Familie aufgenommen. "Der Gastvater wollte noch ein Mädchen dazu nehmen, das war mein Glück", erinnert sie sich. Als das frisch angekommene Kleinkind angesichts der riesigen Umstellung ins Bett nässte, reagierte die Gastmutter so verständnisvoll und hilfsbereit, wie sie es von ihrer eigenen Mutter nie erlebt hatte. Mitten in Lissabon führte die Familie eine Pension. "Dort war immer was los, eine offene, lustige Atmosphäre. Ich durfte mir sogar aussuchen, was ich essen will." Nach wenigen Monaten beherrschte das kleine Mädchen fließend Portugiesisch und wurde in Lissabon eingeschult.

Ihr Pflegevater ging mit ihr oft zur Caritas-Stelle, um zu zeigen, dass sie gut versorgt ist. Liebend gerne wäre das Kind von der neuen Familie adoptiert worden, doch das wollten ihre Eltern nicht. Mit acht Jahren wurde sie nach Österreich "zurückgerissen", wie sie sagt - ein wahrer Kulturschock. Ihre Gastmutter begleitete sie noch den ganzen Weg bis nach Österreich, um sie sicher abzugeben.

Der zweite Kulturschock

In der Schule tat sich die "Fremde" schwer, niemand half ihr bei der sprachlichen Umstellung. "Die Kinder haben mich ausgelacht, wenn ich ein deutsches Wort falsch gesagt habe, das war so erniedrigend", erinnert sie sich. In der Familie wurde sie vernachlässigt, fühlte sich alleine. Überhaupt empfand sie die österreichische Mentalität nun als kalt und hart. "Ich weiß nicht, wie die Österreicher heute sind, aber hoffentlich haben sie von den Ausländern gelernt", scherzt Kispert, während sie ihren portugiesischen Café trinkt.

Viele österreichische Caritas-Kinder empfanden ähnlich: Sie gewöhnten sich schnell an die neue Umgebung und erlebten in den Gastfamilien viel Fürsorge und einen bislang ungekannten Wohlstand. Die spärliche Kommunikation mit der Familie in der Heimat erleichterte zwar die Eingewöhnung, sorgte aber beim Abschied für dramatische Szenen. "Oft, wenn es um die Caritas-Aktion in Portugal geht, wird Negatives ausgeblendet", bemerkt König. Viele österreichische Eltern konnten sich bei der Anmeldung noch nicht vorstellen, wie sich die Abwesenheit ihres Kindes auf ihre Gemütslage auswirken würde. Obwohl das Thema Adoption in vielen Fällen auftauchte, durften nur rund 20 Kinder adoptiert werden.

Rückblickend betrachtet Waltraud Kispert dieses Nein ihrer Eltern als den fatalsten Fehler in ihrem Leben. Zumindest jeden Sommer durfte sie ihre Ferien im Sommerhaus der Familie in Porto verbingen. "In der Schule habe ich nur von Portugal geträumt", sagt sie. Endlich, nach dem Pflichtschulabschluss, konnte Kispert wieder zur geliebten Gastfamilie zurück. Sie half von nun an in der Pension mit. Doch kaum zwei Jahre später starb ihr Gastvater - und ein anderer Familienzweig wollte das österreichische Mädchen nicht mehr im Haus haben. Inzwischen hatte sie bei einem Jahrmarkt einen jungen Portugiesen kennengelernt, musste aber bis zu ihrer Volljährigkeit - damals mit 21 Jahren - zu ihrer österreichischen Familie zurück.

Endlich "zu Hause"

Es folgten harte Jugendjahre in Österreich, in denen ihr vor allem der Briefkontakt mit José Trost war. Endlich volljährig, ging sie zurück in "ihr Land", heiratet José, bald darauf kam Sohn Frederico zur Welt. Doch das Glück sollte nicht lange währen. Bald nach der Hochzeit wurde der junge Mann vom Militär eingezogen, musste in der damaligen portugiesischen Kolonie Angola kämpfen - und kam 1970 als ein anderer Mensch zurück. Die Ehe zerbrach bald, Kispert musste um Unterhalt klagen. Heute lebt die trotz aller Schicksalsschläge jung gebliebene und positiv denkende Frau in einem Vorort von Lissabon und hat bereits mehrere Enkelkinder.

Wie auch Waltraud Kispert haben die meisten "Caritas-Kinder" ihre Gastfamilie in guter Erinnerung behalten. Das sollte sich nicht nur als prägende Erfahrung in den Biografien der Betroffenen niederschlagen, sondern knüpfte ein Band der Freundschaft zwischen Österreich und Portugal, das bis heute - über Generationen hinweg - gepflegt wird. In Graz, Linz und Wien haben sich ehemalige "Caritas-Kinder" formiert, von denen viele noch eine starke emotionale Bindung zu Portugal haben.

Waltraud Kispert ist eine der wenigen, die noch immer dort lebt. Wenn sie dieser Tage Bilder von Flüchtlingskindern sieht, geht ihr das sehr nahe. "Vor allem, wenn ein Vater oder eine Mutter das Kind so schützend im Arm hält." Sie selbst, von kleinauf hin- und hergerissen zwischen zwei Familien, zwei Ländern, zwei Sprachen, hätte sich diesen Schutz damals sehnlichst gewünscht."Aber was soll mir jetzt schon noch passieren?", lacht sie. "Ich habe soviel Menschenkenntnis entwickeln müssen. Ich habe mich selbst gemacht."

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