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Familien im Niedergang und ihre Rettung

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England, das durch seine Heilsarmee und seine Settlementsbewegung soviel soziale Rettungsarbeit geleistet hat, hat einen neuen Beitrag zur Rettung des „untergegangenen Zehntels" der Bevölkerung, wie Charles Booth es nannte, geliefers durch die Betreuung der sogenannten Problemfamilien von seiten neuer Gemeinschaften, der Pacifist-Service-Units. Die Bewegung ist ganz vom Freundesgeist der Quäker getragen. Die Fürsorger und Fürsorgerinnen kommen zu den Familien im Geist der Freundschaft und der Teilnahme, verrichten dort zuerst die groben Reinigungsarbeiten, die fast überall notwendig sind, gewinnen dadurch das Zutrauen der Eltern, sorgen, wenn nötig, für die Unterbringung der Kinder und suchen in jeder Weise zunächst einmal die Mutlosigkeit und Verzweiflung der Mütter zu bekämpfen. Sie versuchen zuerst die Umgebung der Familien sauber zu gestalten durch Vertilgung des Ungeziefers, Scheuern der Fußböden, Weißen des Plafonds und der Wände, besorgen ihnen dann den notwendigen Hausrat sowie das notwendige Bettzeug und jedesmal wird die Erfahrung gemacht, daß die Mütter, denen auf diese Weise geholfen wird, nunmehr wieder Interesse am Leben gewinnen und kräftig mitarbeiten, während sie früher bis zehn oder elf Uhr in den Betten lagen. Die weitere Art der Hilfeleistung hängt von der Lage der Familie ab. Immer aber ist die Sorge für eine reinliche Umgebung der Beginn der Arbeit. Nicht das Austragen von Geldspenden oder Nahrungsmitteln, sondern das tatkräftige Helfen im Haushalt, die Rettung aus Schmutz und Unrat ist der B e- ginn der Rettungsaktion. Erst dann wird je nach dem Bedarf der Familie für die materielle Hilfe gesorgt. Die Lage der Familien ist sehr verschieden. In den allermeisten Fällen ist es die M u 11 o s i g- k e i t der überlasteten Frau und Mutter, die zum Untergang des gesamten Familienlebens führt. Diese Überlastung wird durch verschiedene Lebensverhaltnisse herbeigeführt. Sehr oft ist es die Abwesenheit des Mannes, der zum Kriegsdienst einberufen worden ist, die zur Überlastung der Frau führt. Früher an ein geregeltes Familienleben gewöhnt, vermag sie es nicht, mit der geringfügigen Unterstützung zu wirtschaften und ihrer Kinderschar Herr zu werden. Es sind beinahe immer Familien mit vielen Kindern, die vom Absinken bedroht werden. Die Pacifist-Service-Units haben diese Familien in fünf Gruppen geteilt.

Die Rogers und ihresgleichen haben vor dem Krieg ein geordnetes Familienleben geführt, das nur durch das Einrücken des Mannes gefährdet worden ist. Die Frau fühlte sich dann überlastet und war ihren Aufgaben nicht gewachsen. Sie verfiel in Mutlosigkeit, vernachlässigte- ihre Arbeiten und ihre Mutterpflichten, das Heim verfiel und die Kinder verwahrlosten. Es gelang den Fürsorgern auf dem oben geschilderten Wege, die Frau ihrer Mutlosigkeit zu entreißen, mit dem heimkehrenden Mann zu versöhnen und ein geordnetes Leben herzustellen.

Viel schwieriger waren die Bartons zu betreuen. Es waren sechs kleine Kinder vorhanden unter neun Jahren. Die Frau hatte schwere Geburten hinter sich, mußte aber trotzdem in Arbeit stehen, ihre Gesundheit war vollkommen unterminiert. Herr Barton war von Beruf aus Tischler und konnte eines Herzleidens wegen nicht arbeiten. Die Familie mußte von Unterstützungen leben. Der Vater betätigte sich nur in der Aufsicht der Kinder. Hier war das schwerste Hindernis die Kränklichkeit von Vater und Mutter. Im übrigen waren beide ordentliche Menschen und gute Eltern. Die Units hilfen der Farrrlie wo sie konnten, ermöglichten einen Spitalsaufenthalt der

Mutter und übernahmen in der Zwischenzeit die Betreuung der Kinder. Ein Hauptübel war, daß die Bartons in der Stadt lebten, getrennt von ihren Angehörigen, die ihnen auf dem Lande wohl geholfen hätten.

Wieder anders die Dunns. Vater Dünn war Handwerker, aber dem Trünke ergeben, lebte jetzt als Straßenverkäufer und gab seiner Frau nur ganz wenig für den Haushalt. Die Units brachten ihn zu seinem früheren Beruf zurück, aber ihm behagte ein geregeltes Leben nicht mehr. Sie unterstützen daher Mrs. Dünn. Es gelang ihnen, die Frau und die Kinder in menschliche Lebensverhältnisse zu bringen.

Bei den Gordons war die Mutter selbst seit ihrer Kindheit auf schlechte Bahnen geraten. Sieben kleine Kinder schliefen auf Fetzen auf dem Fußboden und wurden von ihr nach Laune ganz im Stich gelassen. Auch hier wurde mit der Reinigung der Wohnung begonnen. Man mußte die ältesten Kinder in Anstalten bringen, um sie vor dem Verkommen zu behüten. Dann kam das jüngere Mädchen auf Abwege. Auch dieses mußte in eine Anstalt gebracht werden. Frau Gordon nahm sich Männer ins Haus und versetzte alles, was sich in der Wohnung fand. Man mußte sich entschließen, auch die jüngsten Kinder in Anstalten unterzubringen, um sie vor dem weiteren Einfluß der Mutter zu schützen. Beide Eltern wurden geschlechtskrank. Diesen Familien konnte nicht geholfen werden, weil die Mutter moralisch verkommen war. In solchen Fällen genügt die Aufsicht im Heim nicht zur Rettung der Kinder und die Kinder müssen außer Haus gebracht werden.

Ein anderer Kreis von Familien, die Watsons genannt, kam ins Unglück durch die Krankheit des Vaters. Hier war nur das Unglück allein an dem Niedergang schuld. Die liebevolle Hilfe der Units wurde sofort dankbar aufgenommen und hatte die Mitarbeit der Mutter zur Folge, die sich selbst nach einem geordneten Familienleben sehnte. Hier konnten bald leidliche Familienverhältnisse geschaffen werden.

Aus dem Überblick, den uns die Pacifist- Units in einem sehr lesenswerten Buch „Problems families — an experiment in social rehabilitation“ geben, können wir manches für unser eigenes Volk schöpfen. Vor allem sehen wir daraus, daß unter den heutigen Verhältnissen nicht die materielle Hilfe, sondern die Hilfe in jeder Art von Reinigungsarbeit, die Schaffung einer menschenwürdigen Umgebung den Beginn der Besserung darstellt. In den meisten Fällen versagt die Frau und Mutter nicht aus Mangel an Einkommen, sondern verliert ihren Lebensmut, weil sie eben der Riesenarbeit nicht mehr gewachsen ist. Man muß also darangehen, ihr Lasten abzunehmen, so daß sie wieder Lebensmut gewinnt und freudig zugreift, um für sich und ihre Kinder das Heim zu gestalten. Nur wo es gelingt,

die Frau und Mutter mit neuem: Lebensmut zu erfüllen, kann die Familie gerettet werden. Wo die Mutter moralisch verkommen ist, bleibt nichts anderes übrig, als die Kinder in Anstalten zu geben.

Die Hilfe besteht zunächst in Beistellung von Hausarbeit. Die Wohnung wird gründlich geputzt, gerieben, geweißt, vom Ungeziefer gesäubert, Hausrat und Bettzeug werden beschafft. Jetzt erst ist die Frau wieder imstande, für die laufende Familienerhaltung zu sorgen, während sie bisher den großen Reinigungsarbeiten hilflos gegenübergestanden ist. Das aber ist eine große Lehre' für uns. Der Mangel an Haushaltshilfe bedroht die kinderreichen Familien, indem er den schwer belasteten Müttern allmählich den Lebensmut raubt. Hier müssen Wege gegangen werden, um diesen Familien für regelmäßige Reinigungsarbeiten Kräfte zu sichern. Dafür brauchen wir Familienpflegerinnen in Gemeinde und Kirche, so wie wir Krankenpflegerinnen brauchen. Die Fürsorge darf nicht bloß im Zutragen von Unterstützung und Lebensmitteln bestehen, sondern muß sich auch auf Reinigungsarbeiten aller Art erstrecken. Dadurch gewinnt sie das Vertrauen der Frauen und es entstehen herzliche Beziehungen, die es der Fürsorgerin ermöglichen, die Frau und Mutter zum Guten zu beeinflussen.

Diesem Bedarf nach einem neuen Frauenberuf, der Familienpflegerin, kommt die Schichtung unserer Bevölkerung entgegen. Der Krieg hat zahlreiche Frauen aus ihren Familien gerissen und vereinsamt, so daß sie vor die Notwendigkeit gestellt sind, sich einen neuen Lebensberuf zu suchen, der ihnen Lebensinhalt und oft auch Lebensunterhalt bieten muß Die Statistiken stellen heute in Wien allein ein Überwiegen der Frauen um eine Viertelmillion fest. In dem ehefähigen Alter stellt sich das Verhältnis von Männern zu Frauen noch viel ungünstiger, so daß nahezu für die Hälfte der Mädchen kein Partner gefunden werden kann. Dieser sogenannte Frauenüberschuß bedeutet, tiefer gesehen, das Freisein von sehr viel Liebesfähigkeit für soziale Aufgaben, die durch die Zeitnot gestellt sind. Eine solche Aufgabe ist auch die Bereitstellung von Hilfe für die kinderreichen Familien, die FamilLnpflegerin in Kirche und Gemeinde. Hier kommt ein doppelter Notstand zum Ausgleich: der Mangel an Arbeitskräften auf der einen Seite, der Bedarf nach einem Lebensinhalt auf der anderen Seite. Hier muß ein neuer Frauenberuf entstehen, der eine Art Volksmutterschaft darstellt. So wie die englischen Units nicht bloß feststellen, was fehlt, sondern sofort tatkräftig an die Arbeit gehen und auch vor der schwersten Arbeit nicht zurückscheuen, müssen auch die Familienhelferinnen materielle und geistige Betreuung verbinden. Die Anfänge dazu liegen schon weit zurück. Frau Dr. Hildegard Burjan hat ihre Caritas socialis auch zur Familienpflege eingesetzt und die Caritas hat diesen Aufgabenkreis nie aus den Augen verloren.

Der englische Bericht, der uns erreicht, ist ein Anruf an uns, der Liebesfähigkeit der alleinstehenden Frauen, mögen sie nun unverheiratet oder verwitwet sein, in der Betreuung der kinderreichen Familien ein Lebensziel zu geben. Gilt doch auch hier, was Vinzenz von Paul seiner Zeit zurief: „Die Not der Zeit ist der Wille Gottes.“

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