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Die Familie und „die Mädchen“

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Wer in diesen Sommerwochen durch Deutschland und Oesterreich fährt, Freunde besucht, junge Familien mit Kindern, landet sehr bald bei einem Gesprächsthema. Dieses Thema ist nicht der hohen Politik gewidmet. Selbst die Teuerungen am Obstmarkt und die Erhöhung des Milchpreises treten vor diesem erstrangigen Thema zurück. Ein Wort sagt dieses Thema an: „die Mädchen“.

Es ist heute für eine Familie, die nicht sehr begütert ist, nahezu unmöglich, eine Haushaltshilfe zu bekommen, wenn sie zwei oder gar drei kleine Kinder besitzt. Sie wird erbarmungslos niederkonkurrenziert von anderen Bewerbern um die so kostbar gewordene häusliche Hilfe.

Wer die gesellschaftliche und politische Bedeutung dieses Problems verstehen will, muß sich zunächst klar darüber sein, daß die kinderliebende Familie heute am stärksten von der Umschichtung der Gesellschaft erfaßt, ja in ihr zennalmt zu werden droht. In vergangenen Zeiten bot die Großfamilie Schutz für das Kind und Schutz für die gebärende Frau: Verwandte aller Grade, Großmütter, Tanten, unverheiratete ältere Schwestern bargen die junge Frau und ihre Kinder. Ein kinderreiches Bauerntum und städtisches Kleinbürgertum stellten ein Reservoir von „Gesinde“ zur Verfügung, das erst in den letzten Jahrzehnten durch die Industrie und den Handel aufgesogen wurde. (In Oesterreich gab es 1936 165.000, 1956 40.000 Hausgehilfinnen.)

Im Umbau der europäischen Gesellschaft aus ihren älteren patriarchalischen Formen zu einer pluralistischen Großgesellschaft des industriellen Zeitalters haben sich die bedrohten Stände und Gruppen mächtige Abwehrorganisationen geschaffen: das Bauerntum in seinen Bünden, die Arbeiterschaft in ihren Gewerkschaften und politischen Bewegungen. Den Familienbünden ist, etwa in Frankreich, mancher Erfolg gelungen — der geringste mußte ihnen bisher beschieden sein im Raum unseres Problems. Naturgemäß, da sie hier auf einen übermächtigen Gegner treffen: auf einen gesellschaftlichen, mentalen und im Vollsinndes Wortes politischen Prozeß, der das „Mädchen“, die Haush alt shilfe, überhaupt n i c h t m e h r. k e n n t. Ein „Dienstmädel“ kann mit ihren Freundinnen in anderen Berufen nicht mehr mithalten, da sie, in kinder,,?eichen“ Familien, mit deren Freizeit und Freizeitansprüchen nicht mithalten kann. Sie scheidet aus, sie wird deklassiert, in einem strengen Sinn des Wortes, da sie nicht „mitmachen“ kann. Sie verliert ihre Freunde und damit, so scheint es, ihre Heirats- und Glücks-1 chancen, da alle diese Freunde über viel mehr Freizeit und Freiheit verfügen als sie. Das Budget der kinderwilligen Familien in Mitteleuropa, und das heißt zumeist der städtischen, christlichen Familie, sodann der Mittelstandsfamilie aus Beamten- und Akademikerkreisen, kann, auch bei größter Einschränkung, um eben diese wertvoll und unersetzlich gewordene Hilfskraft zu gewinnen, einfach nicht mitkonkurrieren mit der Geldmacht der Industrie, der Wirtschaft, des Handels, die heute den freien Markt der stellensuchenden Hausgehilfin abschöpfen. Das „Mädchen“ ist also, wenn es den Weg in die kinderwiliige Familie wagt, auf ein Entgelt verwiesen, das weit unter dem Salär seiner Freundinnen und Freunde, jener Umwelt, in der sich seine mitmenschlichen Beziehungen abspielen, liegt.

Wie sieht nun vom Gesichtskreis einer betroffenen Familie diese prekäre Situation aus? Etwa, in diesen Sommerwochen, in Wien — ein Blick in Haushalte in München, Hamburg und anderen größeren Städten zeigt eine bestürzende Uebereiristimmung.

Ein Dutzend Annoncen in Tageszeitungen, jeweils an Sonntagen, haben stereotyp folgende Kettenreaktion zur Folge: zunächst eine Reihe von Telephonanrufen. Die beglückte, hoffende-Hausfrau, die dieses Spiel zum erstenmal spielt, dieses Vabanquespiel, in dem ihre wahren Chancen unendlich klein sind, notiert also: Fräulein A kommt heute oder morgen um 10 Uhr vormittags, Fräulein B wird um 11 Uhr angesetzt, geladen, Fräulein C nachmittags um 14 Uhr. Und so weiter. In „günstigen“ Fällen hat die Hausfrau dann, ein halbes Dutzend Namen und'Adressen auf einem Blatt Papier stehen. Dabei bleibt es. Ende.

Was ist geschehen? Die Mädchen haben, nach dem Anruf, bereits anderwärts Stellen, besser bezahlte Stellen gefunden. Was da geboten wird, mag ein interessierter Leser aus der Lektüre der Angebote in Wiener oder deutschen Tageszeitungen selbst ablesen. Primitiv offen werden da. mit der Uebermacht des stärkeren Geldbcu.c'.s und der ganz anderen gesellschaftlichen Situation, von alleinstehenden älteren Personen und von kinderlosen Ehepaaren (in Villenhaushalt, mit eigenem Bad für das Mädchen) Gehälter geboten, die in Wien an der Eintausend-Schilling-Marke liegen, in Westdeutschland 200 bis 300 DM erreichen. Das Abwerben, der Kampf um das Mädchen, zwischen den suchenden Parteien erreicht immer härtere und schärfere Ausdrucksformen, die denn auch immer unverhüllter im Inserat ihren, man möchte sagen, schämlosen Ausdruck finden. Das Angebot von Sparbüchern (auf 1000 DM, auf 5000 DM nach einigen Jahren!) scheint, in Oesterreich zumindest, noch nicht praktiziert zu werden: was aber mündlich zugesagt, und natürlich auch eingehalten wird, zeigt, daß auf diesem Markt — er ist ein Kampffeld erster Ordnung heute geworden — ein Kampf ums Dasein begonnen hat, der an die dschungelhaften Kämpfe im Zeitalter des Frühkapitalismus erinnert.

In der Praxis sieht das — Fall zwei der Kettenreaktion — so aus. Auf wiederholte, mehrmalige Inserate, auf Vermittlung des Arbeitsamtes, von Freunden, auch einer Stelle der Caritas etwa, hin, melden sich dann doch ein, zwei- Mädchen. Beglückt, erleichtert wird mit ihnen abgeschlossen, und der Eintritt in das Dienstverhältnis verabredet. Das aus seinem Dienstverhältnis geschiedene, junge, siebzehnjährige Ding gehörte leider, wie man sich überzeugen mußte, zu jener nicht kleinen Schicht junger Mädchen, die in Abwesenheit der Eltern eine Reihe fremder Personen in die Wohnung aufnahmen, die die Zeit des befohlenen Spazierganges, der Spazierfahrt mit dem Kleinkind benützen, um Freundinnen und Freunde in verschiedenen Lokalen zu besuchen und was dergleichen „Vorkommnisse“ mehr sind ...

Nun aber ist es erreicht. Zum Wochenende wird der längst fällige Urlaub angetreten. Zwei Stunden vor der Abfahrt ein kurzer Anruf: „Ich komme nicht zu Ihnen. Ich bekomme eine Stelle mit 1000 Schilling im Monat und jeden Abend Ausgang.“ Das Telephon schnappt ab. Das immer verzweifelter werdende Spiel kann von vorne beginnen...

Was soll geschehen? — Lobenswert sind die Bemühungen der Caritas etwa,.junge, bei ihr in Ausbildung befindliche Mädchen als Halbtagshilfen zur Verfügung zu stellen. Für Familien mit Kleinkindern, die ständiger, ganztägiger Mitarbeit bedürfen, kommt dies jedoch nicht in Frage. Die Arbeitsämter und andere Organisationen wollen helfen, können aber oft nicht..

Wirkliche Abhilfe wird erst geschaffen werden, wenn die drei wesentlichen Faktoren des gesellschaftlichen und politischen Prozesses, die heute gegen die Familie und ihre Mitarbeiter wirken, geändert werden: also der mentale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktor. Das würde bedeuten: daß zunächst durch seine Steuergesetzgebung, durch finanzielle Sonderhilfen (die Familie in Stadt und Land ist heute ein Stand im Notstand, der genauso gesehen werden muß wie etwa der Stand der Bergbauern!) und zuallererst bereits durch eine Reform der Krankenkassenbeiträge, Staat, Bund. Gemeinde, öffentliche Hand es der . Familie ermöglichen, wirtschaftlich die „Mädchen“ dem Sog der anderen Bewerber zu entreißen und sie als Mitarbeiter zu engagieren. Die Höhe und die Steigerung der Krankenkassenbeiträge bei auch nur geringer Steigerung des Monatsgehaltes der Haushilfen usw. ist sehr oft der Hauptgrund, der es einer Familie unmöglich macht, eine Hilfe zu finden. Nicht der Betrag, den die Mitarbeiterin in der Familie auf die Hand bekommt, ist sehr oft das Fatal-Ausschlaggebende, sondern jener Betrag, den die Familie der Krankenkasse übermitteln muß. Hier müßte der e r s t e A u s g 1 e i c h ansetzen: einen Teil der Krankenkassenbeiträge sollte, jeweils bei gegebener Einkommen- und Familiengröße, Bund und Gemeinde übernehmen: diese Beträge werden sich mehr bezahlt machen in Hinkunft als die Steuernachlässe für Kraftwagen und andere Belange.

Wenn unser Staat keine Finanzpolitik für die Zukunft wagt — in seiner Hilfe für die kinderwillige Familie —, wird er auch in der Gegenwart keinen festen inneren Stand gewinnen. Das ist das erste, was not tut. Damit ist es freilich nicht getan: die innere und gesellschaftliche Aufwertung aller im Haushalt tätigen Berufe, also zu aller er s t der Hausfrau in der Familie und aller ihrer Hilfskräfte und Mitarbeiterinnen, zu jenem politischen und gesellschaftlichen Rang und zu jener Würde, die ihnen als Hüter und Beschirmer des jungen Lebens zukommen, setzt ja eine innere Revolution voraus, in deren ersten Anfänger, wir heute stehen. Eine innere Umstellung, die dem Menschen, dem an Leib und Seele gesunden, reifenden, immer wachsenden Menschen, wahrhaft den Primat zuerkennt vor den Betriebsamkeiten, Aktionen und Geschäften.

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