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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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MIT BESTÜRZUNG wird weithin unter den österreichischen Katholiken wahrgenommen, daß die baldige Besetzung des Wiener erzbischöflichen Stuhles ins Ungewisse gerückt erscheint, da Vorgänge um das Konkordat von 1934 an der höchsten kirchlichen Stelle ernste Verstimmungen hervorgerufen haben. Das wird von unserem Volke um so schmerzlicher empfunden, als es die Dankbarkeit gegenüber dem Heiligen Vater, diesem großen Freund und Anwalt in schwersten Lagen unseres Vaterlandes, nie vergessen kann. Die Gutmachung ist eine Angelegenheit ganz Oesterreichs und nicht bloß die der Wiener Erzdiözese. Der Weg dazu wird begangen werden.

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DIE AUFNAHME ÖSTERREICHS IN DIE UNO,

kurz vor Jahresschluß, unterstreicht die Chancen, Gefahren und Möglichkeiten, die eben dieses Jahr Oesterreich gebracht hat mit der Gewinnung der Freiheit und der Erklärung der Neuira-liiät. Allzuwenige Oesterreicher, auch an verantwortlicher Stelle, sind sich der Tafsache voll bewufjt, was es heifjf, vor dem Forum der Weltöffentlichkeit eine eigene, eigenständige Meinung zu vertreten. Seit 1918 bis in die jüngste Vergangenheit war alles anders: Man segelte im Fahrwasser dieser und jener Macht, dieser und jener Ideologie und verzichtete von vornherein darauf, ein eigenes Urteil, eine echt eigene Stellungnahme in weltpolitischen Fragen zu entwickeln. Von nun ab soll aber Oesterreich nicht nur über europäische, sondern auch über indische, südamerikanische, asiatische Fragen mitsfimmen und mitentscheiden: in der Vollversammlung der UNO. Der Schrecken in Wien war nicht gering, als die „Gefahr“, dal} Oesterreich sogar in den Sicherheitsrat, als einjähriges nicht-permanentes Mitglied, gewählt werden könnte, bekannt wurde. Hier hätte sich ein Debakel ergeb3n können: plötzlich wäre sichtbar, allzusichtbar geworden, wie wenig man sich hierzulande ein eigenes Urteil erarbeitet hatte über dieses und jenes Weifproblem (nachdem schon unsere Stellungnahmen zu Südtirol, Triest, Deutschland oft lange Zeit dürffig genannt werden mußten). Im Schlepplau der Schlagworte, der Propaganda dieses und jenes weltpolitischen Machtblocks, durch eine billige Presse (mit dem Motto „Wir kleinen Oesferreicher, glauben wir doch ja nicht, etwas mitzureden zu haben“), noch verstärkt, wird nun eben ein riesiger Lehrraum sichtbar. Oesterreichs diplomatischer Nachwuchs ist gering (Kabalen und Intrigen verhindern Neuaufnahmen, entscheiden über Besetzungen). Was kann, was muß geschehen? Drei Maßnahmen sollten allerschnellsfens und ernstestens erwogen werden: die Neugründjng der Konsularakademie, in heutigen zeitgemäßen Formen, wobei an eine erweiterte Ausbildung, etwa auch für Exportkaufleute zu denken wäre, zum zweiten, die Uebernahme von Männern in den auswärtigen Dienst, die Welterfahrung, Reife und selbständige Urteilsbildung besitzen und nicht wegen jeder Kleinigkeit ängstlich zum Kadi laufen müssen; drittens, eine Heranziehung von erfahrenen Auslandösterreichern, die unserem Staate, der keinen kostspieligen Nachrichtendienst aufbauen kann, als loyale Mitarbeiter im Vertragverhältnis verpflichtet werden sollten. Zum ersten und letzten: ein lange fälliger Aus-und Umbau unseres Auswärtigen Amies. — Die Aufnahme Oesterreichs in die UNO fordert von unserem kleinen Lande, dafj es die besten Diplomaten zur Verfügung hat. Es ist oft für eine Großmacht leichter, schwächere Diplomaten einzusetzen, da grofja Dinge eben auf höchster Ebene ausgehandelt werden. Ein kleines Land, im Schnittpunkt von Weltinferessen, im Brennpunkt der Weltöffentlichkeit braucht erstklassige Diplomaten, die Oesterreichs Neutralität, die echten und legitimen Anliegen der freien Welt ebenso gut vertreten können wie redliche Miftlerdienste übernehmen, wenn eben die Zeit, der Moment, den sie selbst sehen müssen, dafür gekommen ist. Es ist hohe Zeit für Oesterreich, hier nach dem Rechten zu sehen.

ÄSKULAP UND SEINE „GÄSTE“. Von den Stationsärzten der Wiener Gemeindespitäler“ sind 46,3 Prozent sogenannte Gastärzfe. Das heifjf: sie durften die gleiche Arbeit verrichten wie ihre Kollegen, trugen die gleiche Verantwortung, bekamen aber nicht das gesetzlich vorgeschriebene Entgelt, sondern ein Stipendium von 750 Schilling (das zur Hälfte der Bund, zur anderen die Gemeinde generös auswarf). Uebrigens bekamen nur jene Aerzte die 750 Schilling, wo im Verbände der Familie der Familienerhalter nicht mehr als 800 Schiling je Familienmitglied verdiente. Im Durchschnitt sind diese Gastärzfe 30 Jahre alt, aber es gibt auch „Gäste“ von 40, 50 und sogar mehr Jahren. Von diesen Männern sind 44 Prozent verheiratet, 16 Prozent davon haben für Kinder zu sorgen (mit 750 Schilling; denn es gibt (ür Gastärzfe keine Familienzulage, keine Wohnungsbeihilfe, keine Kinderbeihilfe usf.). Unter den 355 Gasf-ärzten Wiens gibt es welche, die nahezu fünf Jahre auf eine Anstellung warten. Sehr viele warfen mehr als zwei Jahre. Da man mit 750 S und Familie nicht leben kann, haben diese Gasfärzte noch eine weitere Gastrolle — sie sind nebenberuflich „wissenschaftliche Mitarbeiter“ für pharmazeutische Firmen, was in klarem Deutsch heifjf, daß sie Hausierer sind.

Diese Parias der Geisfesarbeiter haben sich — die Budgetverhandlungen laufen und man gibt an verschiedene Arbeiterkategorian und Angestellte der Gemeinde eine außergewöhnliche Beihilfe — auch nach oben gewandt. Die Gastärzte baten (ihr in den Spitälern affichiertes Plakat war ein einziger Hilfeschrei) um eine Erhöhung der Stipendien auf 1200 Schilling monatlich, um eine Herabsetzung der „Wartezeit“ auf maximal eineinhalb Jahre, um Auszahlung an alle ohne Unterschied der sozialen Verhältnisse, die oft in beschämender Weise ausgeschnüffell werden, und sie baten um eine außertourliche Beihilfe. Die Bitten (enden (nach Vorantritt des Bundes) bei der Gemeinde teilweise Gehör. Aber was ist mit der Wartezeit? Es gibt Krankenanstalten in Wien (Rudolfspifal, Poliklinik), wo sich Gastärzte und angestellia Aerzte die Waage halfen, ja, im Wilhelminen-spital gibt es sogar mehr „Gäste“ als „Eingeborene“. Die Gemeinde gibt zu, daß ein geregelter Betrieb ohne jene unterbezahlten Kräfte nicht möglich wäre. Ein wenig mehr Fürsorge um die „Gäste“ täte wirklich not! Fürsorge? Ja! Denn die Stipendien an die Gastärzte werden in Wien von der Magistratsabteilung 11 (Fürsorge) bezahlt.

„GRENZGÄNGER“ JOHN. Der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, ist nach eineinhalbjähriger Ab-

Wesenheit nach Westdeutschland zurückgekehrt. In die Zeit dieser Abwesenheit fallen seine Erklärungen und Reden in Ostdeutschland, seine mehrwöchigen • Verhöre in Rufjland ... Nun haben die Verhöre im Westen begonnen. John wird gegenwartig im Status eines in Disziplinaruntersuchung befindlichen Beamten geführt, das Verfahren gegen ihn trägt, als Akte des Bundesgerichtshofes, den Titel: „Verfahren wegen Hoch- und Landesverrats gegen Doktor Wohl-gemuth und andere ...“ — Dr. Wohlgemuth ist der Berliner Arzt, der John nach Ost-Berlin brachte, unter den „anderen“ ist John mitzu-verstehen. — Die augenblicklichen Urteile über John schwanken zwischen: „ein pathologischer Fall“ (anspielend auf seine Alkohollsidenschaft), ein „Hoch- und Landesverräter“, ein „gefährlicher Narr“, und: „ein kranker Wirrkopf, von dem man nicht so viel Aufhebens machen sollte“. — Mit einem maliziösen Lächeln, das die wiedergewonnene Sicherheit bekunden soll (die doch einigermaßen in Unsicherheit geronnen war, als der Chef des Sfaalssicherheits-diensfes nach dem Osten flüchtete), kehrt man zum Alltag -zurück und ist nur allzu bereit, den „Rest d'es Falles John“ den Kriminalpolizisfen, den Richtern und den Aerzten zu überlassen. Da erheben denn nun doch einige verantwortungsbewußte Deutsche ihre Stimme und warnen: dieser „Rest des Falles John“ kann nicht einfach liquidiert werden, er ist in jedem Deutschen auszufragen. Denn, so argumentieren sie, wie viele der feinhörigsten und wachesten Deutschen sind, mit John, krank in Wissen und Gewissen, verwirrt durch die Brutalitäten des Ostens, verwirrt durch das fast hemmungslose Empordrängen der ewig Gestrigen im Westen, bedrängt, innerlich und äußerlich, durch die Spaltung des Volkes. .. ? — So wird, wenigstens für einen Augenblick, an der Wende dieses. Jahres, der Grenzgänger John, der vom Westen nach dem Osten und vom Osten nach dem Westen floh, zu einem unheimlichen erregenden Symbol heutiger deutscher Existenz zwischen den Walten. Züge eines Don Quichotte, eines verunglückten Till Eulenspiegel und eines Michael Kohlhaas mischen sich in ihm. Ein Mann, ein Mensch, der zwischen den Fronten, zwischen den Zeiten zerbrochen ist, weil er innerlich und äußerlich dem Druck nicht gewachsen war. Wer dürfte es wagen, diesen Fall des Deutschen ad acta zu legen und sich im eigenen warmen Nest zu beruhigen?

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