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Österreich: Sein und Schein

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Die Stellung von Menschen unter ihren Mitbürgern und von Ländern auf der Welt hängt meist mehr von dem ab, was sie gelten, als von dem, was sie sind. Bei fast keinem der 82 bei den Vereinten Nationen vertretenen Länder deckt sich das, was man von ihm hält, mit der Wirklichkeit. Diese ist meist schlechter, nur in manchen Fällen besser als der Ruf. In welche Gruppe gehört Oesterreich?

Die Monarchie hatte einen schlechteren Ruf, als sie verdiente. Was sie an Kulturarbeit in schwierigen Gebieten leistete, war wenig bekannt oder wurde verkannt. Von den beiden Säulen der Kultur: Kunst und Recht, stand nur die eine im Licht, die andere blieb im Schatten. Und doch hat Oesterreich von der Strafrechtsreform Maria Theresias über das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch bis zur Zivilprozeßordnung für die Rechtsentwicklung der Welt so bahnbrechend gewirkt und ist auch heute noch manchen sonst entwickelteren Ländern auf einzelnen Rechtsgebieten überlegen.

Es wäre der Untersuchung wert, wieviel von dem Kunst- und Rechtsruf des heutigen Oesterreichs auf geistige Investitionen aus der Zeit der Monarchie zurückzuführen ist. Zwischen den beiden Kriegen war Oesterreich in der Kunst nicht ganz auf der Höhe seiner Vergangenheit, im Recht sank es langsam ab, überstrahlte aber in beidem weitaus die anderen Nachfolgestaaten. Im Recht sanken diese rascher und tiefer als Neu-Oesterreich, wenn das auch hier und dort dem Auslande verschleiert werden konnte, wie etwa bezüglich der Tschechoslowakei, deren künstlich erzeugtem Ruf die Wirklichkeit keineswegs entsprach.

Nach 17jähriger Besetzung, Beschneidung und Beugung seines Kulturgutes richtete sich der gebeugte, nicht gebrochene Baum Oesterreich wieder auf. Hat er seine frühere Höhe und Blüte wieder erreicht? Oesterreichs Schein leuchtet noch im Widerschein früherer Größe, aber er scheint dem Auslande zu verblassen. Es gibt jetzt auch mehr Kenner des Landes im Auslande, die die frühere Heimat mit durch Wehmut geschärftem Auge betrachten und deren Verständnis im guten und weniger guten verbreiten; es kommen viel mehr Ausländer nach Oesterreich, die neben der Bewunderung für Seen, Berge und Bauten doch oft den Eindruck mitnehmen: „Es ist doch ganz anders, als man uns gesagt hat!“

Der Oesterreicher hat den Ruf großer Freundlichkeit. Ist sie aber auch immer echt? Bei einem gewissen Teil der Begegnungen findet man weniger offene Herzen als offene Hände. Wer hellhörig für den Tonfall der Stimmen ist und manches zur Seite gesprochene Wort versteht, kommt darauf, daß zur Schau getragene Freundlichkeit oft nur ein aus verschiedenen Elementen zusammengesetztes Ressentiment verbirgt, das mitunter nicht ganz frei von Schlacken aus der NS-Zeit ist. Lippendienst der Dankbarkeit verschleiert oft Neid und Schadenfreude.

Der geänderte Volkscharakter scheint sich auch in anderen Zeichen zu offenbaren. Nichts läßt in unserer Zeit den Charakter der Bevölkerung besser erkennen als ihr Benehmen auf der Straße. Da kann man einem großen Teil der Oesterreicher nicht das beste Zeugnis ausstellen. Nirgends wird so rücksichtslos, gedankenlos, ja boshaft gefahren und gegangen wie in Oesterreich. Selbst in Deutschland ist die Rücksichtslosigkeit durch Erfahrung gemildert. Der Italiener fährt zu rasch, zu kühn, aber nicht unfreundlich. Der Franzose fährt leichtsinnig, aber nicht unhöflich. Der Amerikaner fährt mit durch Masse erzwungener Disziplin. Der ideale Fahrer aber ist der Engländer, voll der Vorsicht und Rücksicht einsichtiger Erfahrung. So spiegelt sich tatsächlich der Charakter eines Volkes wie des einzelnen im Verhalten auf der Straße. In Oesterreich vermittelt es die blitzartige Erkenntnis neu gebildeter, sonst verdeckter Charaktereigenschaften, die seinem Rufe widersprechen

Ist das nicht ein zu oberflächlicher Schluß? Wird er durch Symptome auf anderen Gebieten widerlegt oder verstärkt? Ist Licht und Schatten etwa im Rechtsleben gerecht verteilt? Es ist nicht leicht, das von außen zu beurteilen. Da muß man sich schon auf Stimmen von Kennern aus dem Inlande verlassen, wie die des großen Oesterreichers Klang, die noch aus seinem Grabe dringt. Viele dieser Stimmen klingen skeptisch, klagen über eine Dekadenz des Rechts, über das Eindringen der Politik ins Recht, ob sie nun als unentbehrlicher Vorspann den Karren über einen Berg ziehen muß, der eigentlich aus eigener Kraft befahrbar sein müßte, oder als Hemmschuh das Recht bremst. Und wenn unter Mitanwendung von Gesetzen au der nationalsozialistischen Aera Leistungen auf wenige Prozente des Vereinbarten und Bezahlten herabgedrückt werden; wenn der Staat sich zum Nutznießer solcher Gesetze macht, wo es ihm paßt und nützlich scheint; wenn er sich knauserig gegen die Opfer eines Regimes zeigt, unter dem er selbst gelitten hat und die er daher eigentlich als Kollegen im Unrecht ansprechen und unterstützen sollte, sich aber freigebig und rücksichtsvoll gegen nahe oder entferntere Wahlverwandte dieses Regimes zeigt, so ist das nicht geeignet, das Vertrauen in das Rechtsbewußtsein Oesterreichs zu stärken. Das bekannte goldene Herz des Oesterreichers scheint noch immer warm zu schlagen, aber nicht immer am rechten Fleck.

Selbst kleine Flecken vermögen ein Bild zu entstellen. Der Versuch, den Stichtag des Staatsvertrages dazu zu mißbrauchen, um Neu Amerikanern Besatzungssteuern für die Kosten der Sowjetbesetzung aufzuerlegen, was schon die Erinnerung auf den Verzicht der Vereinigten Staaten auf Besatzungskosten und an deren Spenden von 25 Milliarden Schilling verbieten müßte, macht böses Blut. Der Versuch, im Staatsvertrag verbriefte Gebührenfreiheit in einzelnen Fällen durch zu schlaue Interpretation zu versagen, macht bösen Aerger am kleinen Objekt. Die Wirkung von als Unrecht empfundenen Maßnahmen hängt nicht von deren Bedeutung, sondern von dem Geiste ab, der aus ihnen spricht.

Oesterreich dürfte auch nicht mehr mit der Exceptio paupertatis zu operieren suchen. Es ist zwar ein räumlich kleines, aber kein armes Land mehr und darf nicht glauben, daß man das dem Auslande dauernd verbergen kann. Das Wort des Bundeskanzlers, zu dessen Urteil man auch dort Vertrauen hat: „Wir sind jetzt ein reiches Land!“, ist nicht unbekannt geblieben. 25 Milliarden von den Vereinigten Staaten, 50 Milliarden aus dem Oel, gemindert durch den Anteil, den die Sowjets davongetragen haben und noch beanspruchen, sind für ein Volk von sieben Millionen, von denen mindestens vier Millionen fleißig arbeiten und Werte schaffen, keine Kleinigkeit. Den Begründern dieses Oelreichtums, auch wenn sie arm und als Oesterreicher wehrlos sind, sollte man nicht statt Brot Steine geben, auch wenn es Gesetzestafeln sind.

Dagegen wissen Regierung und Volksvertretung sich sehr wohl großzügig zu zeigen, wo es ihnen paßt, wie in der Behandlung des Deutschen Eigentums. Aber keineswegs nur aus hochachtbarer Abneigung gegen Konfiskation von Privateigentum, denn da gäbe es zahlreiche andere Gelegenheiten, um die Opfer viel verwerflicherer Konfiskationen zu entschädigen. Schließlich darf man nicht vergessen, daß Oesterreich im Verhältnis zu Deutschland, trotz aller deutschen Investitionen während der Besetzung, doch stark auf der Gläubigerseite steht.

Achtung vor Westdeutschland ließe sich besser durch bescheidene Nachahmung der deutschen Entschädigung s.gesetz- g e b u n g bezeigen, die — trotz einiger Mängel in der Handhabung — Westdeutschland auf der ganzen Welt Achtung und Anerkennung eingetragen hat. Ein Teil dieser Gefühle hätte auf österreichische Mühlen gelenkt werden können, wenn map sich gegen Deutschland weniger großzügig erwiesen und ersparte Werte zur Entschädigung von Opfern der Jahre 1938 bis 1945 verwendet hätte. Durch Harthörigkeit gegen diese ist der Ruf Oesterreichs nicht gefördert worden. Die Verteilung der 550 Millionen durch den Hilfsfonds für bedürftige Ausgewanderte, deren musterhafte Durchführung gezeigt hat, was man in Oesterreich an Organisation leisten kann, konnte nur wenige Tropfen auf heiße Steine spritzen; niemand in den Altersklassen unter 60 Jahren wird etwas bekommen. Wenn nun österreichische Behörden berücksichtigenswerte Ansprüche, die sie nicht für begründet halten, mit dem Hinweis auf samer Entstaatlichung befindet. Es dringen aber Warnungssignale hinaus, die stutzig machen. Wenn die österreichische Industrie behauptet, daß sie ohiire Subšfdierung'tTui’ch den HausbMif1 nicht konkurrenzfähig wäre, so ist das ein hippokratisches Zeichen. Durch den durch eine Generation währenden „M ieterschutz“ hat sich das österreichische Volk um eines der wertvollsten Stücke seines Privatkapitals gebracht. Der gesamte Hausbesitz Oesterreichs ist heute sicher weniger als 10 Prozent wert und um mehr als 50 Prozent schlechter geworden als 1914. Seine Bevölkerung hat sich aber gewöhnt, einen zu kleinen Teil ihres Einkommens auf Wohnung und einen zu großen auf Konsumgüter, wie Motorisierung, zu verwenden. Es mag schwer sein, sie zu einer Umstellung ihrer Bilanz zu bewegen, die eine wirtschaftliche Finanzierung, Verzinsung und Amortisierung des Volkswertes „Hausbesitz“ erfordert. Es mag einfacher sein, nach Lohnerhöhungen zu rufen und mit den modernen Mitteln der Politik durchzusetzen. Die Wirtschaft richtet sich aber nicht nach der Politik. Man kann sie nicht am kurzen Hebel lenken, besonders wenn der schon brüchig geworden ist. Wenn die Industrie wirklich die Subsidierung durch den Hausbesitz braucht, um konkurrenzfähig zu bleiben, so ist das ein bedenkliches Zeichen für sie, und sie wird nicht mehr lange darauf rechnen können. Schon gar nicht, wenn der Verstaatlichungs- prozeß des Hausbesitzes weiter fortschreitet. Dies alles ist um so bedenklicher, als in keinem Lande diesseits des Eisernen Vorhangs ein so großer Teil der Industrie direkt oder indirekt, sichtbar oder unsichtbar, der öffentlichen Hand gehört, so daß die meisten Industrie- und Fi- nanzführer eigentlich nur Vertragsbeamte des Staates und der öffentlichen Körperschaften sind. Freie und gebundene Wirtschaft wirken aber wie Motor und Bremse. Wer den Motor zuwenig und die Bremse zuviel gebraucht, wird im Rennen überholt.

Es mag sein, daß dem Oesterreicher, der das ganze Bild vor sich hat, vieles von diesem Spiegelbild im Ausland ungerecht und verzerrt erscheint. Oesterreich zehrt aber von einem Kapital, das in der Vergangenheit angesammelt wurde und anscheinend nicht genügend aufgefüllt wird. Nicht in der Kunst, denn nur ihr reproduktiver, nicK ihr produktiver Sektor läßt die alte Größe erkennen. Was hat das Oesterreich von heute vergangenen Zeiten, von Grillparzer bis Robert Musil, an die Seite zu stellen? Welche großen Namen der Medizin dringen nicht nur nach Mitteleuropa, sondern in alle Winkel der Erde? Von österreichischen Juristen von internationalem Format sind kaum andere Namen als Wahle, Verdross und Seidl-Hohenveldern in der Welt bekannt, und auch deren Klang ist nicht ganz so stark wie einst der von Lammasch und Klein, linger und Schey. Diese Urteile mögen ungerecht sein. Die Oesterreicher von heute meinen vielleicht, daß es unter ihnen Männer und Frauen gibt, die es mit den größten Gestalten der Vergangenheit aufnehmen können. Aber im Ausland weiß man es nicht. Das mindert das Kapital an geistigem Ansehen Oesterreichs. Nun beruhte die Geltung Oesterreichs aber stets weniger auf seiner materiellen als auf seiner geistigen Produktion. Das war sein Ruhmestitel.

So zeigt sich selbst dem freundlichen Blicke von außen das Bild: Oesterreich büßt nach und nach Stückchen seines Rufes ein, auf dem seine Geltung in der Welt beruhte. Im Inlande merkt man das kaum und tut daher nichts dagegen. Gerade jetzt, da Oesterreich wieder sein Wort und seinen Wert in die Waagschale werfen kann, wo es — etwa bei den Vereinten Nationen — nicht durch Quantität, sondern nur durch Qualität wirken und dort das seltene Beispiel der Unbestechlichkeit geben kann — gerade jetzt — ist jeder Schatten auf seinem Glanz zu beklagen.

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