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Zeitgeschichte im Wortschatz

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Am Kirchenplatz einer oberösterreichischen Kleinstadt hängt der Schaukasten einer katholischen Jugendorganisation, und darinnen sieht man derzeit die Photographie eines andächtig knienden Beters. Es ist aber nicht das Bild eines unbekannten Gläubigen, es ist auch nicht etwa ein Bild des Heiligen Vaters, sondern es ist — in Oesterreich Anno 1959! — ein Bild von Konrad Adenauer, dem Bundeskanzler des deutschen Nachbarstaates.

Man mag die gleichsam kirchenamtliche Zurschaustellung gerade dieses Bildes als nicht ganz taktvoll empfinden; denn schließlich gibt es in Oesterreich, von Bundeskanzler Raab abwärts, genug prominente Katholiken, die der Jugend als Vorbilder hingestellt werden könnten. Es wäre aber verfehlt, in der Placierung dieses Photos irgendwelche großdeutschen Ambitionen zu wittern, darin den Ausdruck einer politischen Gesinnung zu sehen; denn seit Hitler ist die. großdeutsche Idee entzaubert, und als Politik, als bewußte Tendenz, bat sie vorerst und wohl für immer ihre Rolle ausgespielt. Hingegen stehen wir nicht an, dieses Adenauer-Photo als ein Symptom zu werten für die unbewußte Annäherung, für die kulturelle Anpassung Oesterreichs an den großen Bruder, die sich jenseits aller Politik, gleichsam unwillentlich, vollzieht.

Dieser unpolitische Anschluß manifestiert sich am,ösinnrfäJIigsten rpturlicįį dort, wo. Geist und Auįfurritėinesj Voltces. aufbewahrt sind; in. jer Sprache. Wenn der Käsehändler Mayer sich Käse-Mayer nennt; wenn keine Formulare mehr, sondern Formblätter auszufüllen sind; wenn der Fußballer nicht mehr einen Corner schießt, sondern eine Ecke tritt, wodurch nicht mehr das Match, sondern das Spiel entschieden wird, und die Zuschauer nicht mehr nach dem Köpfler, sondern nach dem Kopfstoß des Mittelstürmers „Tor“ brüllen und nicht mehr „Goal“; wenn wir nicht mehr übersiedeln, sondern umziehen, und dann unseren Geschäftsfreunden nicht mehr die neue Adresse, sondern die neue Anschrift bekanntgeben; wenn die Hausfrau keine Paradeiser und keine Ribisel mehr, sondern Tomaten und Johannisbeeren einkauft, und der Wirt keine Stelze, sondern Eisbein auf die Speisekarte setzt; wenn die Linie einer Zeitung nicht mehr von ihrer Redaktion, sondern von ihrer Schriftleitung bestimmt wird, der Kritiker nicht mehr eine Rezension, sondern eine Besprechung verfaßt, und der Lokalberichterstatter, der den Lokalreporter abgelöst hat, einen artistisch kühnen Einsteigdieb einen Klettermaxe nennt; wenn die Ortsbezeichnung Linz an der Donau sich zu Linz/Donau verkürzt; wenn der Mittelschüler nicht mehr Matura macht, sondern zur Reifeprüfung antritt; wenn an die Stelle des ’frottoirs der Gehsteig, an die Stelle der Tramway die Straßenbahn, an die Stelle des Telephons der Fernsprecher, an die Stelle' des Radios der Rundfunk tritt; und wenn gar — horribile dictu — der sprichwörtliche Wiener Charme sich im amtlichen Wörterbuch die Schreibung Scharm gefallen lassen muß; dann sind das untrügliche Zeichen einer kulturellen Angleichung an Deutschland. Es sind zugleich aber auch objektive, nämlich ungelenkte und unbeabsichtigte, weil unbewußte Eingeständnisse eines neuen historischen Sachverhalts. Gewiß: die jungen Oesterreicher, die sechs Jahre lang neben ihren reichsdeutschen Kameraden im Felde standen, haben etliche typisch reichsdeutsche Wörter mit nach Hause gebracht — zum Beispiel: Schliff, zackig, denkste, es schaffen, veräppeln, ran- gehen,.Nutte, platt sein, kotzen, Knüller, Kippe—, von denen sie sich, wenn überhaupt, nur allmählich trennen; und angesichts der Tatsache, daß der österreichische Fremdenverkehr zu zwei Dritteln von den westdeutschen Touristen lebt, kann man dem Wirt nicht verargen, wenn er im Vokabular seiner Speisekarte auf den Sprachgebrauch seiner ausländischen Gäste Rücksicht nimmt.

Wenn wir aus einem Wörterbuch des österreichischen und insbesondere des Wiener Dialektes diejenigen Wörter aussondern, die in den letzten Jahrzehnten aus dem Sprachgebrauch verschwunden sind, dann entdecken wir, daß sehr viele dieser abgestorbenen oder absterbenden Ausdrücke nicht eigentlich deutscher Herkunft sind, sondern aus Sprachbereichen stammen, die bis 1918 zum politischen Komplex der Monarchie gehörten und heute entweder in ihre Mutterländer eingegliedert sind (Galizien, Trient) oder sich als eigenständige politische Gebilde organisiert haben (Ungarn, Tschechoslowakei) Wir denken hier an Wörter wie Akzidenzl, vom italienischen accidenza, worunter ein kleines Nebeneinkommen verstanden wurde; an aus- skaliern, in der Bedeutung von bemängeln, das sich wahrscheinlich vom italienischen scagliare herleitet; an Bosniak, womit man ein aus Bosnien stammendes Gebäck aus dunklem Roggenmehl bezeichnete; an Britschkn, von polnisch bryczka, das heißt Wägelchen; an Fazi, wiederum italienischen Ursprungs, für Geschäftsführer; an Gebernek, das ist ein verschnürter Wintermantel, der wie das Wort aus Ungarn kam; an Paraber, das hier wie im slowenischen Stammwort paraba soviel wie ungelernter Arbeiter bedeutet; an Pawlatschn, das ist der offene Gang in den Alt-Wiener Häusern, dessen Bezeichnung sich vom tschechischen pavlac herleitet; an Schock, ein Synonym für viel, das dem ungarischen sok entspricht; an Tränak für Troßsoldat, wobei dem französischen train die slawische Ableitungssilbe -ak angehängt wurde; an Umschrift — eilig umhergehen — und an verhimmln — verkaufen, die sich auf Umwegen aus dem Hebräischen ableiten lassen; und an zahlreiche weitere Wörter slawischer, romanischer, ungarischer und jüdischer Herkunft, die nicht mehr in der Sprache leben, sondern nur noch im Wörterbuch aufbewahrt sind.

Das Verschwinden all dieser Wörter aus der in Oesterreich gesprochenen Sprache belegt einen durch die Politik bedingten kulturellen Sachverhalt: die Isolation Deutsch-Oesterrfeichs; es gibt zu erkennen, daß der Austausch zwischen dem deutschen Oesterreich und dessen traditionellem Kraftreservoir stagniert. Seit 1918 ist der Oesterreicher ja nicht nur auf die staatliche Existenz im Raum seiner deutschen Kernlande eingeschränkt, sondern damit auch auf seine eigene, relativ geringe Substanz, auf-den deutschen Anteil der vorher vielvölkischen Tradition.

In dem Maße nun, in dem die vom Vielvölkergemisch geprägten Ausdrücke verschwinden, finden typisch reichsdeutsche Wörter Eingang in die österreichische Sprache. Denn Menschen, Waren und Ideen kommen nicht mehr aus Prag und Budapest, aus Kroatien und der Bukowina, sondern aus Stuttgart und Berlin, aus dem Rheinland und von der Waterkant; und umge kehrt paßt sich ’ die österreichische Wirtschaft nicht mehr den Bedingungen zwischen Ost- und Südosteuropa, sondern denen des amerikanisierten Westeuropas an, wie auch Kunst und Literatur, Philosophie und Politik sich die westlichen Formen mehr und mehr zu eigen machen. Und der Repräsentant des Westens ist für Oesterreich, heute eindeutiger denn zwischen den Kriegen, derjenige Staat, der die Nachfolge des Deutschen Reiches angetreten hat: die Deutsche Bundesrepublik.

Zwar denkt hier, von einigen Phantasten abgesehen, niemand an einen politischen Anschluß, sehr im Gegensatz zu den dreißiger Jahren. Damals entsprang der Anschlußgedanke einer aktiven Tendenz, einem zielstrebigen Willen zur Veränderung, kurz: einem bewußten Bedürfnis; denn viele, nicht nur die nationalsozialistischen Oesterreicher, fühlten sich damals als Deutsche. Heute hingegen herrscht hier, im Bewußtsein der Staatsbürger, die umgekehrte Tendenz vor: Oesterreich als ein politisches Gebilde unabhängig zu erhalten. Und dennoch ist der nationale Fortbestand Oesterreichs, der sich, wie der

Bestand jeder Nation, natürlich nur auf kulturelle Eigenständigkeit gründen kann, heute ungleich mehr, weil aus der Tiefe des Unbewußten heraus, bedroht, als er es in den Krisenzeiten vor dem zweiten Weltkrieg war. So wie nach 1918 das Politische sich kulturell ausgewirkt hat, so wirkt sich jetzt das Kulturelle politisch aus: In dem Maße, in dem die seit vierzig Jahren isolierten österreichischen Kernlande ihrer traditionellen Bauelemente, ihrer biologischen, ökonomischen und kulturellen Reserven verlustig gehen — und diese Reserven kamen jahrhund'eftelang aus dem Osten —, in dem Maße dominiert, von Jahr zu Jahr spürbarer, hier in Oesterreich selbst das einheimische deutsche Element, der nicht gerade weltoffene Geist des Aelplers, und in eben dem Maße verwandelt die Nation sich in eine deutsche Provinz, wie Bayern, die Pfalz oder Sachsen, die dann, wenn überhaupt, nur noch dank einer Laune der Weltpolitik ein eigenstaatliches Dasein führen wird. Bis 1918 war der Oesterreicher deutsch, und zugleich war er mehr als deutsch; seither ist er aus dem Gleichgewicht geraten, mit dem politischen auch aus dem geistigen Gleichgewicht. Abseits von seinem politischen -Willen, ja im strikten Gegensatz dazu,' entwickelt sich Oesterreich auf der 1918/19 geschaffenen schiefen, westwärts steil abfallenden Bahn kulturell, das heißt innerhalb seiner Willens- und seiner Bewußtseinsschicht, auf den dann selbstverständlichen, weil organisch naheliegenden Anschluß hin; auf einen insofern organisch naheliegenden Anschluß hin, als, was kulturell nivelliert worden ist, unweigerlich auch der politischen Nivellierung anheimfällt. Und wie weit die kulturelle Nivellierung bereits ge- WW die fewh; mehr -Ösfer- r.eįęjiisębe, jndecp. fast schojy .gemeindeutsche Sprache.

Selbst diejenigen, die, aus achtenswertem Patriotismus, diesen Sachvefhalt kategorisch leugnen, spüren zuweilen ein heimliches Grauen angesichts dieser Entwicklung, woraus sich die Intensität erklärt, mit der hier immer wieder diskutiert wird, ob es eine österreichische Nation — also einen eigenständigen österreichischen Staat auf dem Grund einer eigenständigen österreichischen Kultur — überhaupt gebe.

Heute gibt es sie noch, die österreichische Nation; aber morgen wahrscheinlich schon nicht mehr. Denn sie nährt sich aus einem Fundus, der sich unwiederbringlich verzehrt; Oesterreich lebt — wenn ein kühner Vergleich erlaubt ist — nur noch von seiner eisernen Ration. Gewiß, die Fabrikschlote rauchen, der Fremdenverkehr meldet Umsatzrekorde, die Menschen kaufen Autos und Eisschränke, und es werden mehr Kinder geboren als irgendwann in den Jahrzehnten zuvor. Aber dieser materielle Wohlstand sprießt nur aus der Materie selbst, nicht mehr aus dem Nährboden einer spezifischen Kultur, und ist daher nicht annähernd wert, was er kostet. Er ist vor allem kein Beweis für Oesterreichs nationale Existenzberechtigung; denn Schlote rauchen auch im Ural, Autos werden auch in Amerika gekauft, Kinder auch in China geboren. Es zeugt so recht von provinzieller Geistesverfassung, auf den materiellen Wohlstand stolz zu sein, und die Oesterreicher sind es, weitaus mehr als die Deutschen. Gerade darin aber, daß sie den weltpolitischen Zufall für eine nationale Leistung, daß sie einen abstrakten Sachverhalt für ein konkretes Verdienst, daß. sie das Geld für einen wirklichen Wert, statt für ein Wertsymbol, halten, offenbart sich ihre kulturelle Bewußtlosigkeit, ihre Substanzarmut und damit auch ihre Anspruchslosigkeit bezüglich eines eigenen nationalen Daseins. In der Tiefe wird sie gespürt, diese Insuffizienz; und nicht nur in scheinbaren Zufällen — wie in der eingangs erwähnten Placierung eines Adenauer-Photos im Schaukasten einer österreichischen Jugendorganisation -, sondern vor allem in der gesprochenen Sprache kommt sie zum Ausdruck. Man kann, was sich da vollzieht, bedauern, wie der Schreiber dieser Zeilen es bedauert; aber man kann es nicht dadurch ändern, daß man die Augen davor verschließt.

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