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Etwas tum alten Österreich

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Im alten Oesterreich wurde viel geschimpft, mehr geraunzt, am meisten wohl in Wien selbst, nicht zuletzt von denen, die ihm nach dem Untergang nachweinen. Das ist menschlich, das Kostbare, in vielen Bezügen ganz Einzige hochzustellen, als unvergleichlich zu erkennen, nachdem es dahingegangen ist. Im Paradies mag das anders gewesen sein, da man ohne Gedächtnis leben konnte. Vielleicht auch bis zu einem gewissen Grade in den sogenannten Nationalstaaten, ohne daß darum das Leben darin paradiesisch sein mußte oder müsse. Dem Schimpfen und Raunzen im alten Oesterreich ist vielerlei Heiterkeit und Sinnenfreude beigemischt, es durfte gewissermaßen im Hintergrund zur letzteren lautbar werden. In Wien mehr als in den Provinzen.

Ich habe stets und in allen Lagen das alte Oesterreich als ein Ganzes empfunden, Wien als dessen Kern, habe dabei Ungarn nie ausgelassen, ein Land mit einer großen Suggesfionskraff, den Fremden schnell gewinnend, ihn auch suchend, das freilich durch eine anmaßende Politik den größten Anteil hat am Untergang der Monarchie. An welcher mir von jeher das eine aufgefallen und unvergeßlich geblieben ist: der Reichtum an Typen. Mähren, von dem sich sagen ließ, daß es die Monarchie in nuce widergespiegelt habe, ist darin allen anderen Kronländern vorangegongen. Das deutsche und das slawische Element sind dort mehr im Gleichgewicht geblieben als in Böhmen, was wohl auch darauf zurückgeführt werden darf, daß Mähren katholisch war von Grund aus, Böhmen aber seine hussitische Vergangenheit nie ganz vergessen hat. Hus war zweifellos eine heldische Natur, hat aber kein glückliches Land zurückgelassen, als er den Scheiterhaufen bestieg. Es ist etwas Düsteres um ihn, das sich auf sein Volk übertragen hat, sich in seinen Städten, den Stadtbildern wiederfindet und auf eine besondere Art den böhmischen Barock herausgefordert hat. Welche Ohnmacht verraten darnach und daneben die über jede Vorstellung häßlichen Hus-Denkmäler des Landes.

Weil die Typenbildung im alten Oesterreich nicht auf einer rein nationalen Grundlage vor sich gegangen ist, vor sich gehen konnte, durch die Jahrhunderte des Bestehens, so konnten die einzelnen Typen selbst nicht eines gewissen Komischen entbehren, deutlicher: war eine bestimmte Neigung des Typischen zum Komischen nicht zu vermeiden. Die Monu- mentalisierung dieses Zustandes ist Nestroy, das größte komische Genie im ganzen deutschen Sprachgebiet. Väterlicherseits stammt dieser einzige Mann, dem ich auf den Straßen des alten Wien nachgelaufen wäre, um ihm einmal ins Auge sehen zu können, von polnischen Bauern (des Teschener Kreises gegen Galizien zu), mütterlicherseits war er Wiener vom reinsten Wasser. Welche plastische Kraft, welche Magie lebt da nicht in einem Stadtwesen, das so etwas dann zusammenbringf, wie Nestroy es warl Freilich hat es ein halbes Jahrhundert gebraucht, bis man den Zauber, den echtesten, dieses Wesens in sich rein aufzunehmen geeignet war. Was wohl auch dazugehören mag, zu Wien, zum ganzen Wesen der Jahrhunderte hindurch werdenden Monarchie, einem geschichtlichen Gebilde: dieses Zögern, dieses Versäumen, ebenso wie zur Sinnenfreude das Raunzen.

Wien hatte eine beispiellose Fähigkeit, Dinge umzuwandeln, in sich einzubeziehen, sich zu eigen zu machen, was wohl nicht vonstatfen gehen möchte ohne eine große Gabe, auf Reize zu reagieren, sich dem Schauspiel hinzugeben, im gegebenen Gegenwärtigen den Akteur allem anderen vorzuziehen, ihm das letztlich Entscheidende zu opfern. So etwas mag den Moralisten nicht mit Unrecht zuweilen verstimmen, den Politiker aufreizen, aber vergessen wir nicht, daß die beiden größten Menschen, die, auf Oesterreichs Boden stehend, Oesterreich zu schaffen und im höchsten Sinne zu bilden berufen waren, nicht in Oesterreich geboren sind, sondern erst Oesterreicher zu werden hatten: Prinz Eugen und Beethoven. Daß letzterer in Bonn geboren wurde, scheint mir darum nicht so bedeutsam, wie daß er in Wien gestorben ist. Von hier finden wir leichf den Weg zu dem, was man die Musikalität Oesterreichs nennt und nennen darf: die ganz und gar mit der Fähigkeit zur Typenbildung zusammen gedacht werden muß, die deren Wesenhaftigkeit, ihr rhythmisches Geheimnis ausmacht.

Ich brauche da nur an die kleine mährische Stadt zu denken, in der ich das Gymnasium besucht habe. Welche Begabung für Musik unter meinen Mitschülernl Es gab Quartette, es gab ein Schülerorchester, wahre Virtuosen im Klavierspiel, mit der Violine. Muß ich es durchaus verschweigen, daß die beiden berühmtesten Bar-Klavierspieler Wiens in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg zwei Brüder aus Nikolsburg waren, rührende Gestalten voll Trauer und Müdigkeit im Rücken, weil das Gesicht nur Freude, Miffreude zu zeigen gezwungen war? So sah ich die beiden einmal im Stadtpark langsam vor mir einhergehen, um mir, auf meinen Ruf hin, strahlende Gesichter zuzukehren.

Bei dieser Begabung und Neigung für die Musik und zur Typenbildung mußte das alte Oesterreich von allen Staaten Europas am meisten durch das Aufkommen des Kollektivs, des Kollektivmenschen leiden. Es ist im letzten daran zugrunde gegangen. Die talentloseste, von Grund aus stupideste Form des reinen Kollektivs war dann wohl der Nationalsozialismus. Es ist tragisch, doch mit der an das Tragische sich ansetzenden Komik, daß in der Stadt Grillparzers, Nestroys, um die allergrößten Musiker nicht zu nennen, jenes kubische Monstrum von einem Menschen, der Ringe an den Zehen und wohl auch goldene Spangen um seine Elefanfenschenkel gewunden trug, in einer mit Lautsprechern verstärkten Rede verkünden ließ, ja feierlich versprochen hatte, er würde Wien in zwei bis drei Jahren, wenn man ihm soviel Zeit lasse, zu einer deutschen Stadt machen. Wien, das er und seinesgleichen in ein wenig mehr Jahren beinahe so zerstört hatten wie viele Städte im „Reich’, war nicht nur die schönste deutsche Stadt von allen, sondern war mehr gewesen: die Kapitale eines der wichtigsten, vielleicht des europäischesten aller Gebilde, einer wahren Völkergemeinschaft.

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