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Das Gleichnis einer Armee

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-Tnedrich Schiller mit seinem wahrhaft weltbürgerlichen Instinkt für das Besondere der Völker, das ihn zum Nationaldichter Europas machte, hatte auch das Wesen des Oesterreichers, diesen geheimnisvollen und in seinem Inneren so vieldeutigen Begriff, in seinem „Wallenstein“ nicht minder tief erfaßt als die Freiheitsliebe der Schweizer im „Wilhelm Teil“. Jener Begriff des Oesterreichers hat viele Völker unter der habsburgischen Führung und in der Haltung des spanischen Katholizismus in sich vereinigt; der Oesterreicher selbst hat — was ihm nie vergessen sei — zweimal Europa vor dem Islam gerettet, in der ersten Hälfte des 16. und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts — oder, noch besser gesagt: der Wiener! —, denn Wien war der Wall, daran sich der Ansturm brach. Gegen diesen Islam pflanzte man dann die Ostgrenze entlang eine stets schlagfertige Armee, die „Granitscharen“, wie man sie in scherzhaftem Gegensatz zu den „Janitscharen“ bei dem türkischen Erbfeind nannte, Soldatenfamilien, die jene stets gefährdeten Landstriche besiedelten und gewissermaßen „Gewehr bei Fuß“ in dauernder Bereitschaft standen; „Grenzer“ war ihr offizieller Titel.

Diese Grenzer waren nun ein Gleichnis des ganzen Reiches hinter ihnen. Wie sie zu jenem sich verhielten, eine Art Quivive-Truppe, die jederzeit aufgerufen werden konnte und deren Leben darum erregter und flackernder verlief in allen Gefühlen als das des deutschen Nordens, so verhielten sich die habsburgischen Erblande, das Herzstück des späteren Oesterreich-Ungarn, damals zum gesamten Europa. Sie brachen an sich die Stürme, die nicht nr ihnen, sondern eigentlich dem ganzen Erdteil galten. Es war aber dabei das Seltsame, daß die Ueberwindung jener Orkane weniger durch offene Gewalt glückte, als durch die Entzauberung ihrer Schrecken, durch den Beweis, daß sie sich barmen ließen. An der Porta Hungarica, wo die Entscheidungen über Europa durch 700 Jahre fielen, im Wiener Marchfeld und an den Westkarpaten verloren die Mongolen den Ruf ihrer Unbesiegbarkeit, die Türken, die Schweden und noch einmal die Türken, und zuletzt ein Angreifer aus dem Westen: Napoleon. Und anderseits wurde im 19. Jahrhundert dieses Oesterreich zum Glacis der zentraleuropäischen Kultur, die von ihm aus nach dem Osten strahlte. Es half ihm dazu eine alte Tradition; seine Statthalter und seine Bezirkshauptleute mußten unter sieben großen und etlichen kleineren Nationen das Gleichgewicht halten oder Verträglichkeit stiften, denn mit Gewalt allein kam man da nicht weiter. Eine solche Gewaltanwendung hatte den Habsburgern des Mittelalters ihren Stammbesitz in der Schweiz gekostet und später den spanischen Habsburgern die Niederlande; deshalb wiederholte man das nicht mehr. Zu Ehren kam hier der Grundsatz eines glänzenden Weltpolitikers, dessen Schüler die Erziehung des jungen Adels der Monarchie bis zum Ende führten, eines Adels, den man nach der Vernichtung der rebellischen Stände in der Schlacht am Weißen Berg, 1621, für den österreichischen Verwaltungsdienst verwendete. Dieser Grundsatz hätte in seiner überlegenen Menschenkenntnis, die das Problem der „Reeducation“ in einem Satz formuliert, von einem Oesterreicher erfunden sein können, aber es war ein Baske, von dem er ausging, Ignatius von Loyola, und er lautett „Ich gehe mit jedem durch seine Türe hinein, um ihn durch meine Türe herauszuführen.“

So hatte sich in den Jahrhunderten ein fast irrealer Begriff des österreichischen Wesens herausgeschält, kunstliebend und leidenschaftlich naturverhaftet, gläubig und skeptisch zugleich, betont katholisch aus der hier ansässigen Gegenreformation her und dennoch wieder zur Toleranz genötigt durch die nationale und religiöse Vielfalt seiner Völker, und leichtsinnig und schwermütig in einem wie ihre Musik. Auch die Menschen, die sich von auswärts hier ansiedelten, ergriff dieses Wesen und formte sie um, ohne daß sie es merkten. Es ging mit ihnen durch ihre Türe und führte sie zu der seinen hinaus, den Eugen von Savoyen und den Beethoven aus Bonn, den Burgenländer Haydn und sogar den vielgelästerten Metternich aus Koblenz. Und dieses Irreale zeigt sich auch in mehr als in dem bloßen Wesen des einzelnen. Oder ist es vielleicht nicht das Eigenartigste an Wien, das die Fremden so sehr zwingt, daß nämlich dieses Wien — schon im äußeren Bild von seinem Hausberg, dem Kahlenberg, her geschaut — aber auch im inneren Sinn eine Stadt neben ihrem Strom und damit neben der Welt geblieben ist, obgleich es eine Weltstadt war? Als einzige unter den großen Metropolen Europas schmiegt sie sich voll einer gewissen Angst vor der Wirklichkeit in ihre Berge hinein, obgleich sie an dem zweitgrößten Wasser Europas liegt, an der Donau. Nie ist sie bis in das letzte Jahrhundert über das Ufer gegangen und hat ihren Strom in die Mitte genommen, wie es geschäftstüchtigen Städten selbstverständlich schiene, die ja um Ströme entstehen. Wien aber ist als Wall und als Abwehr aus einem römischen Heerlager geboren worden, aus dem Castrum Viennense, einer „Grenzer“Festung der Antike — und Wall, und Abwehr gegen das allzu Heftige, das allzu Laute kann man noch heute dort spüren.

Nun kam der Krieg von 1914 über ein solches Menschentum, dem die Geschichte auferlegt hatte, sieben Völker zu einem Reich zu binden. Und diese österreichisch-ungarische Armee, diese letzte übernationale Armee der Geschichte, trat noch einmal zusammen mit ihren Feldzeichen und Standarten, und sie sprach den Schwur, den ihr Dichter Grillparzer entworfen hatte, und Enkel und Söhne der Männer, die schon für denselben'fast mythisch gewordenen Kaiser-ihr Blut in der Lombardei, in Schleswig, in Böhmen und in Bosnien vergossen hatten, sangen das Lied Haydns, und noch einmal versuchte diese Armee das Wunder, sieben Völker in sich zum gemeinsamen Kampf zu vereinen gegen die Zentrifugale der Zeit, und obgleich das Piemont ihrer Völker bei Ausbruch jenes Krieges auf der feind-wärtigen Seite lag, obgleich sie, Nordslawen, Südslawen, Rumänen und Italiener, in Oesterreich zwar ein Vaterland, aber ihre Heimaten jenseits seiner Grenzen besaßen. Und so unwahrscheinlich diese Armee Wallensteins, Prinz Eugens, des Erzherzogs Karl ihrem Wesen nach war, so unwahrscheinlich hat sie auch im November 1918 geendet.

Sie ist nie heimgekehrt.

Ueberau sonst bei Siegern und Besiegten hat man die Soldaten empfangen, ihre Rückkehr freudig oder schmerzbewegt gefeiert. Aber die Armee Oesterreich-Ungarns war einfach als Ganzes nicht mehr da, die neuen Reiche, die aus seinem Zerfall entstanden oder sich daran vergrößerten, hatten ihre Landsleute aus diesem Heer abberufen. Was sich vorher begab, heißt im österreichischen Dialekt ein „Ballawatsch“, und man kreidet uns diese plötzliche unnötige mentale Verwirrung als besondere Charaktereigenschaft an. Hier machte sie Weltgeschichte: Ein in der Auffassung mißverstandenes Telephongespräch bei den Verhandlungen am 3. November 1918 ließ diese schon schwer angeschlagene Armee die Waffen um 24 Stunden zu früh niederlegen, und ermöglichte, so dem Gegner die Gefangennahme von einer halben Million Soldaten.. Und was, dem Verderben im Süden entronnen, über die Alpen zurückflutete, befand sich mit geringen Ausnahmen in keinem Verband mehr:, noch auf den Dächern der Züge hockten vergespensterte Menschen, das Grauen im Gesicht, Typhus, Grippe und Hunger im Leib, ein Heer ohne Heimkehr, eine unbekannte Armee, deren Gräber sich über ganz Europa verstreuten. ',

Und' dabei ging der Krieg nicht an allen Orten zu Ende, sogar nach jenem verhängnisvollen' Waffenstillstand nicht. An die Stelle des alten Vaterlandes, dessen Nationen von der Monarchie noch zu. einem verfrühten „Völkerbund“ vereinigt gewesen waren, traten die Nachbarstaaten und ganz,neue Gebilde„ die aus ihr ihren Besitz ausdehnten oder erst begründeten. Wo dann die frischen Grenzen allzu scharf ineinanderschnitten, -, entflammte Widerstand. So begann das knapp nach Kriegsende

1918 in Kärnten, als ehemals südslawische Truppenteile der k. u. k. Armee für die bevorstehende Grenzregelung, in der Frist zwischen Waffenstillstand und Friedensschluß vollendete Tatsachen für ihre neue Heimat zu schaffen suchten; ein neuer Kampf schloß sich unmittelbar an den eben erloschenen Krieg, dem erst

1919 eine Volksabstimmung, die die größten Teile Kärntens für die junge österreichische Republik rettete, ein Ende setzte.

Mit jener k. u. k. Armee aber, von der Grillparzer gesagt hatte, daß in ihrem Lager Oesterreich sei, endete auch die Monarchie. Geworden aus dem Castrum Viennense, aus einem ferne der sonnigen Heimat gegründeten Heerlager, wurde es ihr Schicksal, wie ein Heerlager in der Fremde zu vergehen, und mit ihr das Reich, darin einst in den Tagen Karls V.die Sonne nicht versank und das dennoch eigentlich nie ganz ein Reich von dieser Welt gewesen ist.

Im Gleichnis seiner Armee habe ich 1935 in dem Schauspiel „3. November 1918“ die Tragödie dieses Reiches zu gestalten versucht, dessen Untergang die Tragödie unseres Kontinents einleitete, die zwischen 1939 und. 1945 ihren Gipfel erreichte und die selbst heute — 40 Jahre darnach — immer noch nicht ganz beendet scheint.

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