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Die Wacht am Bosporus

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Bald jährt sich zum 600. Male der Tag, an dem ein türkisches Heer, gestützt auf das eben eroberte Gallipoli, seinen Vormarsch gegen Konstantinopel auf dem europäischen Ufer des Hellespont begann. Seitdem hat die Türkei nie aufgehört, in der Geschichte Europas eine gewichtige Rolle zu spielen; durch dreihundert Jahre als eine kriegerisch-gewaltige Macht, die nach vollendeter Zerstörung des byzantinischen Reiches die Fahne des Propheten über den Balkan nord- und nordwestwärts trug, bis vor die Tore Wiens; und in der Folge, selbst als ihr europäischer Besitz, im wesentlichen unangetastet, sich noch immer von der unteren Donau bis an die adriatische Küste erstreckte, als Europas „kranker Mann“, der zwar, nach der allgemein herrschenden Meinung, unfähig geworden war, sich zu erholen und frische Kräfte zu sammeln, den aber die Großmächte des Westens mit seltener Einmütigkeit, wenn auch aus verschiedenen und sich oft widerstreitenden Gründen, solange als nur möglich am Leben zu erhalten bestrebt waren. Erst mit dem Ausgang des Weltkrieges 1914 bis 1918 schien das Ende des schon so lange leidenden „Patienten“ gekommen. Die Habsburgermonarchie, der das Bestehen des osmanischen Reiches für die Abwehr russischer Expansionsbestrebungen nach dem südosteuropäischen Raum als unentbehrlich galt, war von der Landkarte verschwunden; und England, die andere Schutzmacht, auf die der türkische Sultan bauen zu können glaubte, vollzog jetzt eine der plötzlichen und radikalen Kursänderungen, die für seine Staatskunst charakteristisch sind. Durch zweihundert Jahre war es einer der obersten Leitsätze der englischen Politik gewesen, dafür zu sorgen, daß die Verbindung zwischen dem Schwarzen und dem Mittelländischen Meer in türkischer Hand verbleibe; in den türkischen Kanonen, die den Bosporus und die Dardanellen bestreichen konnten, sah man in London die beste Garantie gegen einen russischen Versuch, den Land-, und später, nach Eröffnung des Suezkanals, den kürzesten Seeweg von England nach Indien zu unterbrechen. Mit dieser traditionellen Einstellung sollte nun gründlich und endgültig Schluß gemacht werden. Der unter dem ausschlaggebenden Einfluß Großbritanniens verfaßte Friedensvertrag, den die Alliierten am 10. August 1920 in Sevres den Abgesandten des rat- und willenlosen Sultans zur Unterschrift vorlegten, lief auf nichts anderes hinaus, als die Zerstückelung und völlige Entmachtung des türkischen Reiches.

Daß es nicht dazu kam, war das Verdienst eines einzigen Mannes, Mustafa Kemal Paschas, später A t a t ü r k genannt, der es nicht zur Kenntnis nehmen wollte, daß sein Land in einer hoffnungslosen Lage war und angewiesen auf die Gnade der Siegermächte. Er ließ durch die von ihm einberufene Nationalversammlung den Vertrag von Sevres für null und nichtig erklären und griff, unbeirrt durch die bedrohliche Stärke britischer, französischer, griechischer, italienischer Okkupationstrifppen neuerdings zu den Waffen, ohne dabei die Möglichkeiten außer acht zu lassen, die sich aus der Uneinigkeit und der Eifersucht der Alliierten ergaben. Seiner Diplomatie war der Abzug der Briten, die Befreiung Konstantinopels, des heutigen Istanbul, und der Abschluß eines Separatfriedens mit Frankreich zu verdanken; seiner Feldherrnbegabung, im Verein mit der Zähigkeit und dem unbegrenzten Opfermut des anatolischen Soldaten, der siegreiche Feldzug, mit dem er dem Traum einer Ausdehnung des griechischen Hoheitsgebietes auf das asiatische Ufer des Mittelmeeres, ein rasches Ende machte. Den. Westmächten, deren Wege immer mehr auseinandergingen, blieb nichts übrig, als diesen Tatsachen Rechnung zu tragen. Zwar blieb es in dem neuen Friedensvertrag mit der Türkei, der am 24. Juli 1923 in Lausanne unterzeichnet wurde, bei der Ausscheidung der arabischen Provinzen aus dem türkischen Staatsverband, aber von den früheren Stipulationen, betreffend Türkisch-Armenien, Kurdistan und Gebietsabtretungen an die Sowjetunion oder von einem fremden „Interessengebiet“ in Kleinasien, war keine Rede mehr, noch auch von einer Aufgäbe des türkischen Besitzes in Europa; und vor allem, über den Meerengen sollte weiterhin allein die türkische Flagge wehen.

Freilich, die neue türkische Republik, die nun von Ankara aus regiert werden sollte, umfaßte bloß etwa 760.000 Quadratkilometer, also mehr zwar als jeder europäische Staat, aber, um rund eine Million Quadratkilometer weniger als das osmanische Reich in seinen letzten Jahren. Doch was auf dem Papier als schwerster Verlust erscheinen mußte, erwies sich in Wirklichkeit als unschätzbarer Gewinn. Die zum früheren Reich gehörenden arabischen Länder mit ihrer undisziplinierten, ruhelosen, dem osmanischen Regime großenteils ablehnend gegenüberstehenden Bevölkerung, hatten an die militärischen und besonders auch finanziellen Kräfte der türkischen Kernprovinzen steigende und kaum mehr tragbare Anforderungen gestellt. Mit ihrer Abtrennung war die Nachkriegstürkei von einem Ballast befreit. Viele Neuerungen, namentlich soweit sie mit den Satzungen des Korans unvereinbar schienen, wie die Laisierung des Staates und die Abschaffung des Kalifats, das Verbot der herkömmlichen Männerkleidung der Muselmanen — der Gesichtsschleier der Frauen blieb erlaubt —, die Einführung des westlichen Kalenders und der westlichen Wochenteilung, konnten fast reibungslos durchgesetzt werden.

Die erste Voraussetzung für die Wandlung der ja in vielfacher Hinsicht noch östlichmittelalterlichen Türkei in einen modernen Staat westlicher Prägung, wie Atatürk es erreichen wollte, war die Einführung der lateinischen an Stelle der bisher gebrauchten arabischen Schriftzeichen. Nach einer kurzen Ueber-gangszeit wurde 1928 der allgemeine und ausschließliche Gebrauch des lateinischen Alphabets vorgeschrieben. Der Erfolg dieser Maßnahme übertraf alle Erwartungen. Binnen sechs .Jahren stieg die Zahl der des Lesens und Schreibens Kundigen von 22 auf 45 Prozent und damit der Teil der Bevölkerung, der für eine mehr als manuelle Mitarbeit am Um- und Neubau des Staates unmittelbar verfügbar wurde. Als der große Reformator knapp ein Jahr vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges starb, war sein großangelegtes Werk in wesentlichen Teilen vollendet und eine sichere Grundlage für die Weiterentwicklung. Trotz den Schwierigkeiten und Lasten, die der Krieg auch für die Türkei mit sich brachte, und mit geringer Hilfe von außen sind auch unter Atatürks Nachfolgern in allen Zweigen der Industrie, der Landwirtschaft und der Verwaltung, in der Ausnützung wertvoller Bodenschätze, beim Straßen- und Bahnbau, in der öffentlichen Gesundheitspflege und vor allem im Unterrichtswesen und bei kulturellen Einrichtungen große Fortschritte erzielt worden. Die Einwohnerzahl ist von rund sechzehn Millionen im Jahre 1935 auf jetzt über zweiundzwanzig Millionen angestiegen und hat damit die Einwohnerzahl des früheren großen Reiches bereits weit übertroffen. Von scharfen, innenpolitischen Gegensätzen ist das Land in beneidenswertem Maße frei geblieben; weder die sozialistische noch eine sonstige Ideologie trennt die beiden großen Parteien, die sich in wechselnder Stärke im' Parlament gegenüberstehen und eigentlich nur darüber verschiedener Meinung sind, ob das Tempo, in dem die Entwicklung der türkischen Volkswirtschaft und anderer Zweige des öffentlichen Lebens vorwärts getrieben wurde, beibehalten, oder noch mehr forciert, oder nicht doch vielleicht herabgesetzt werden sollte. In allen anderen Fragen, namentlich in jenen der Außenpolitik, wie hinsichtlich der Notwendigkeit, die Wehrkraft des Landes auf den höchstmöglichen Stand zu bringen — mehr als die Hälfte aller Staatsausgaben sind dem Verteidigungsressort gewidmet —, bestehen keine Differenzen.

So haben sich die Dinge ganz anders gestaltet, als es vor vierzig Jahren in den britischen Plänen für den Nahen Osten vorgesehen war. Indes die arabischen Völker, die ihre Befreiung und Eigenstaatlichkeit in erster Linie England verdanken, und selbst die von England besonders protegierten Jordanier und Irakis heute keiner anderen fremden Macht mit so großem Mißtrauen und so tiefer Abneigung begegnen wie dem Vereinigten Königreich, hegen die Türken kein Ressentiment wegen des ihnen damals von London zugedachten Schicksals; sie sind Englands verläßlichster und unzweifelhaft stärkster Bundesgenosse im östlichen Mittelmeerraum geworden. Aber nicht allein das; für die gesamte Verteidigungsfront der dem NATO-Pakt angeschlossenen Staaten bildet die am rechten Flügel vorgeschobene und wohlgewappnete Bastion der modernen Türkei eine der mächtigsten und in der Tat unentbehrlichsten Stützen.

Trotz allem darf auch die türkische Nation nicht als dauernd immun gegen die Gefahr einer inneren Zersetzung betrachtet werden. Heute mag die unterirdische Wühlarbeit der dort tätigen kommunistischen Zellen noch wenig wirksam sein; aber die mit allem Eifer betriebene Verwestlichung von Staat und Gesellschaft hat auch dem westlichen Materialismus Eingang verschafft und damit der Tendenz, das geistige Erbe einer noch tiefgläubigen Vergangenheit, die Lebensauffassung und die religiösen Bindungen der Väter zu vergessen. Ob der Islam in der heutigen Türkei noch die vitale Kraft besitzt, diese Tendenz in Schach zu halten und bei den wachsenden Massen des industriellen Proletariats und der Halbintellektuellen die Ausbreitung eines sittlich-religiösen Vakuums zu verhindern, das, wie eine weltweite Erfahrung lehrt, nur zu leicht mit dem gottlosen Religionsersatz der kommunistischen Ideologie gefüllt würde — das bleibt eine offene Frage.

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