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Ist der Muezzin noch Kemalist ?

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Die Anekdote mag erfunden und doch wahr sein, denn das Wortspiel dürfte damals vielen Türken eingefallen sein. 27. Mai 1960. Die Armee hat geputscht, Hubschrauber haben die Autokolonnen des Regierungschefs gestoppt, auf dem Weg in die Gefangenschaft sagt einer seiner Minister: „Das war Kismet!“ Adnan Menderes, der Todeskandidat, antwortet gehässig: „Nein, das war Ismet!“

Nämlich Ismet Inönü, Nachfolger des „Vaters der Türken“, Ke-mal Atatürk, im Amt des Staatsoberhauptes mit absoluter, diktaorischer Macht. Der einstige Ismet Pascha, der die Griechen 1921 bei Inönü besiegt hatte und seither danach hieß, hatte 1945 oppositionelle Parteien zugelassen und 1950 Neuwahlen ausgeschrieben, hatte diese verloren und „mit peinlicher Korrektheit und ruhiger Würde“, wie damals die „New Yorker Times“ schrieb, auf der Oppositionsbank Platz genommen. Nun hatte der Sieger von 1950, Adnan Menderes, sich angeschickt, den demokratischen Weg zu verlassen, und deshalb hatte die Armee geputscht.

Dem gegen eine islamisch-konservative Gefährdung der Demokratie gerichteten Putsch von 1960 folgten schon 1961 demokratische Neuwahlen. Folgten 1971 und 1972 Warnungen der Armee, diesmal, weil die Politiker das Staatsschiff angeblich nach links aus dem Ruder laufen ließen. Folgte das Kriegsrecht. Diesmal unterließen es die Generäle, die Macht selbst in die Hand zu nehmen. Sie hatten sich 1960 in der Rolle von Quasi-Ministern nicht besonders bewährt, und diese Erfahrung lag ihnen noch in den Knochen.

Und nun ist es wieder einmal so weit. 1980 hat die türkische Armee zum drittenmal einen politischen Gordischen Knoten durchhauen. Seither gab's zwar Parteien und Wahlen, aber alle, die bis 1980 in der Politik eine Rolle gespielt hatten, unterlagen einem politischen Betätigungsverbot, freilich zogen die alten Führer im Hintergrund die Fäden. Am 6. September durften die Türken über ihre Rückkehr in die Politik entscheiden, und sie haben sich mit einer hauchdünnen Mehrheit dafür ausgesprochen.

Neuwahlen sind angesagt - mit dem Sozialisten Bülent Ecevit und dem Führer des islamischkonservativen Lagers Suleyman Demirel als Kandidaten. Vieles spricht für einen Wahlsieg Demireis.

Bei jedem Eingreifen in die Politik haben die Generäle sich der illusionistischen Hoffnung hingegeben, die Politik könnte hinterher anders ausschauen. Doch auch der „alte Fuchs“ Demirel kann dem Dilemma nicht entrinnen, daß einerseits der Einfluß des aggressiven Islam persischer Spielart vor der Türkei nicht haltmacht, andererseits er gegen die Islam-Gläubigen in den Dörfern und die Imams, die Dorfgeistlichen, keine Wahl gewinnen kann.

Die Menschenrechte waren bei den türkischen Generälen nicht in guten Händen. Unterm Kriegsrecht von 1972 wurde ein Universitätsprofessor nur deshalb verurteilt, weil er am Begräbnis eines erschossenen Studenten teilgenommen, ein anderer, weil er in einem Buch marxistische Autoren im Quellenverzeichnis angegeben hatte. Wenn sich in den letzten Jahren die Lage Mißliebiger in den Gefängnissen und vor Gerichten etwas zu bessern schien, dann wohl vor allem, weil man dem Europarat beitreten und mit der Menschenrechtskommission des Straßburger Parlaments nicht in Clinch geraten wollte.

Und doch ist es dieser Armee ernst mit ihrer Verantwortung für die türkische Demokratie.

Die ist ein Importartikel, genauso wie der türkische Nationalismus. Zwar berichtet der Geschichtsschreiber Ibn Bibi, daß im Jahr 1276 Mehmed Bey, der Eroberer der Seldschuken-Haupt-stadt Konya, einen Diwan abgehalten habe, in dem beschlossen worden sei, daß im niedergeworfenen Seldschukenreich nicht mehr Arabisch gesprochen und auf Persisch gedichtet werden sollte, sondern im Diwan wie vor Gericht, in der Öffentlichkeit wie bei Banketten niemand mehr eine andere Sprache als die Türkische gebrauchen sollte - doch ist diese frühe Welle türkischen Nationalismus' unter dem Einfluß des Hochislam und der städtischen Kultur bald wieder verebbt.

Doch im 19. Jahrhundert reisen türkische Intellektuelle nach Frankreich—zuerst auf Staatskosten, später, unter dem reaktionären Sultan Abdülhamid II., als Emigranten. Sinasi übersetzt französische Lyrik ins Türkische,sein Freund Ziya Pascha Rousseau und Moliere. Sie führen neue Begriffe in die türkische Sprache ein: Hürriyet —Freiheit. Halkcilik — Demokratie. Mesrulyet — Verfassung. Und: Vatan — Vaterland.

Der türkische Nationalismus trieb besonders üppige Blüten. Yussuf Ziya schrieb 1928, noch in arabischer Sprache, ein Buch, in dem er behauptete, nicht das Griechen-, sondern das Türken-tum sei Urgrund der europäischen Zivilisation gewesen. Drei Jahre später veröffentlichte eine Kommission, der freilich keine Fachhistoriker angehörten, „Grundlagen der türkischen Geschichte“, wonach die Kelten eigentlich Türken waren und die Europäer aus dem Höhlendasein erlösten, sie Ackerbau, Viehzucht und Töpferei lehrten. Es ist kein Geheimnis, daß auch Kemal Atatürk zu solchen Gedanken neigte.

Vielleicht kompensierten so Generationen moderner Türken die schwer verdauliche Tatsache, daß die moderne Türkei ihre Wurzeln aus Europa importiert hatte.

Es ist ein Glück, daß die türkischen Dichter in Frankreich beim bürgerlichen Liberalismus in die Schule gegangen sind. Der von ihnen vermittelte Kontakt mit westlichen Ideen erfaßte die gebildeten Kreise mit gewaltiger Prägekraft. Den damals angenommenen und verinnerlichten Leitbildern blieben sie treu. Türkische Intellektuelle, etwas später nach Frankreich gekommen oder dort an andere Lehrer geraten, hätten ihr Land einen schlimmen Weg führen können. Es ist ja kein Zufall, wenn in der frühen rassistischen deutschen Literatur, wie sie im Wien der Jahrhundertwende in großer Vielfalt verlegt wurde, das Wort Rasse noch vorwiegend als französisches Fremdwort mit einem „c“ geschrieben wurde: Ra-ce.

Auf den liberalen Einfluß aus Frankreich führt etwa der österreichische Orientalist Herbert Duda die „geradezu ängstliche Bemühung um Aufrechterhaltung liberaler, demokratischer Grundsätze nach außen und auch in der Diktatur“ zurück.

Doch das ausgesprochen positive Image der Demokratie und des Liberalismus bei den türkischen Intellektuellen hat die Ausrottung der armenischen Minderheit 1917, lang vor dem Aufkommen des Faschismus nicht verhindert. Sie ist heute ein total verdrängtes Ereignis. Quer durch alle Generationen weiß man in der Türkei nichts von einer Million Ermordeter. Und dieses Nichtwissen ist völlig unverkrampft. Kein Unterton von Komplizentum, wenn man als Deutscher oder Österreicher mit Türken spricht, keine Spur von Schicksalsgemeinschaft im Ebenfalls-schief-angesehen-werden.

Zwischen dem Massaker und der heutigen Türkei liegt die große Zäsur, das Ende der alten, islamisch-orientalischen Türkei, liegt die Garantie persönlicher, wirtschaftlicher, kultureller und religiöser Freiheit für die überlebenden Armenier durch Atatürk, liegen die Jahre, in denen der vordem unbekannte Offizier der Türkischen Garnison Saloniki die Türkei hart und wo nötig brutal in die Zukunft hineinstößt, die ihm vorschwebt, in eine Zukunft als westliches, weltliches, liberales, demokratisches Land. Theoretisch genügte unter Atatürk das Tragen des Fez oder des Schleiers für ein Todesurteil. Er ließ zahlreiche Gegner erschießen. Aber er blieb bis heute der einzige Diktator, der die totale Macht an sich riß, um sein Land zu modernisieren-und zu demokratisieren. Vor der Demokratisierung wollte er das Volk umerziehen. Aber die Millionen Menschen in den anato-lischen Dörfern ließen sich nicht umerziehen. Die Tausenden und Zehntausenden Imams, die kleinen Dorfgeistlichen, stemmten sich nach Kräften gegen den ke-malistischen Einfluß.

Auf einem seiner letzten Fotos ist Mustafa Kemal, Atatürk, der „Gazi“, ein früh gealterter Mann mit zergrübeltem, von Krankheit und Resignation gezeichnetem Gesicht, ein Mann, der die Grenzen seiner Möglichkeiten erkannt hat. Der ganze Widerspruch der Türkei drückt sich in einem wahren Treppenwitz der Weltgeschichte aus: Die Familie sorgte dafür, daß der Todfeind der islamischen Geistlichkeit ein prächtiges islamisches Begräbnis bekam.

Er ist noch immer allgegenwärtig. In Wohnungen, Läden, Hotelhallen, Cafes, Kinos, als Foto, als Büste, als Relief, als Ganzstatuette, als Denkmal auf Plätzen lebens- und überlebensgroß, gemalt, geschnitzt, gezeichnet, aus Plastik von innen beleuchtet, als grimmer Krieger, als in die Ferne blickender Führer, Hände schüttelnd oder die Fäuste ballend, Atatürk jung, Atatürk alt, Atatürk von Künstlern dargestellt oder Atatürk unsagbar kitschig.

In einem Jahr begeht die Türkei seinen 50. Todestag. Atatürk wird noch einmal aufleuchten. Aber es ist eine große Frage, ob noch stimmt, was man in Ankara so gern kolportiert, als Beleg für sein ungebrochenes Charisma: „In der Türkei ist selbst der Muezzin ein Kemalist!“

Die Armee freilich blieb Hort und Schule des Kemalismus. Sieht sich als Aufpasser. Putscht gegen rechts und links, wenn sie die Demokratie für gefährdet hält, denn der demokratische, liberale, weltliche, parlamentarische Mehrparteienstaat, das ist ja der Staat, den er wollte.

In der Armee werden die jungen Männer kemalistisch erzogen. Aber die Dörfer, in die sie nach ihrem langen Wehrdienst zurückkehren - oft genug ist's eine Rückkehr in die Arbeitslosigkeit —, wählen mehrheitlich immer noch die Partei Allahs, die Partei des Imam, nun wieder Partei des Suleyman Demirel.

Ob die Städte, ob die industrialisierten Regionen, ob die sozialen Umschichtungen im Gefolge der Industrialisierung diese Macht aufwiegen können, ist das große Rätsel der bevorstehenden WahL

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