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Neue Impulse für Welt-Islam aus Zentralasien: Zwischen Obskurantismus und Aufklärung

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Wie das Christentum hat auch der Islam das Sowjetsystem überlebt. Um welche Art von Islam handelt es sich in den zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken? Was kommt da auf die islamische Welt, aber auch - über internationale politische und wirtschaftliche Kooperation - auf den Westen zu? Setzt sich religiöser Obskurantismus oder eine islamische Aufklärung durch?

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Wie das Christentum hat auch der Islam das Sowjetsystem überlebt. Um welche Art von Islam handelt es sich in den zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken? Was kommt da auf die islamische Welt, aber auch - über internationale politische und wirtschaftliche Kooperation - auf den Westen zu? Setzt sich religiöser Obskurantismus oder eine islamische Aufklärung durch?

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In den arabischen Staaten und der übrigen Welt des Islam erleben wir derzeit religiös-politische Zerreißproben. In Algerien beispielsweise stehen sich Islamisten (Khomeinisten) und Sozialisten (Sozialdemokraten) gegenüber. Zwischen ihnen stehen die Nationalisten (etwas islamisch, etwas sozialistisch) und die gemäßigten Moslem-Demokraten. Die Gegensätze werden als so unversöhnlich empfunden, daß latenter Bürgerkrieg herrscht. Desgleichen in Pakistan, letztlich auch in der Türkei und in Afghanistan, wo die Mudschahedin mehr untereinander als gegen den gemeinsamen Feind kämpfen.

Die moslemischen Republiken der ehemaligen UdSSR sind gegen dieses Bürgerkriegsvirus auch nicht immun. Im Gegenteil, hier besteht ein Nachholbedarf für Auseinandersetzungen. Als zusätzlicher Sprengstoff kommen noch die Abrechnung mit der kommunistischen Vergangenheit sowie der Nationalitätenkonflikt hinzu. Wie schon in Georgien, Armenien und so weiter stehen hier viele uralte Konflikte dahinter, jetzt bricht alles auf.

Häufig hat es den Anschein, als wären lokale ethnische Konflikte stärker als das Bewußtsein einer gemeinsamen islamischen Identität oder die Rassen- und Sprachenverwandschaft als Turkvölker. Man denke nur an das 1988 von Usbeken verübte Pogrom an einer türkischen Minderheit, die Stalin aus dem Kaukasus nach Usbekistan deportieren ließ. Gewiß sind jene Kaukasus-Türken Schiiten, die Usbeken Sunniten, doch herrscht zwischen beiden eine enge sprachliche Verwandtschaft.

Wie schaut der Islam in Zentralasien aus? Soziologisch gesehen hat der Islam Indonesiens mit dem Islam des Sudan nicht allzu viel zu tun, und der Islam Nigerias ist grundverschieden von dem des Libanon. Sogar zwischen Nachbarländern wie Albanien und Bosnien oder Afghanistan und Pakistan gibt es bedeutende Unterschiede im Islamverständnis sowie in der Art und Weise, wie der Glaube gelebt wird.

Von diesen regionalen Unterschieden abgesehen gibt es gewisse Charakteristika, die nicht nur für den gesamten Islam, sondern auch für die übrigen Religionsgemeinschaften in der ehemaligen Sowjetunion gelten. Die seinerzeitige Atheismus-Schulung war nicht nur stümperhaft, sondern auch ineffektiv, soweit es sie überhaupt gab. Die Mehrheit der Landbevölkerung wurde davon jedenfalls kaum erfaßt - mit regionalen Unterschieden natürlich.

Stümperhaft an der Atheismus-Propaganda war, daß sie meist am falschen Ende ansetzte, nämlich dort, wo lokaler Nationalismus und islamische Religion sich decken.

Ein typisches Beispiel dafür ist die Frage der Beschneidung, die von den Atheismus-Propagandisten mit besonderer Vorliebe aufgegriffen wurde, obwohl islamische Glaubenspraxis wenigstens zwei Dutzend Probleme schafft, die für eine moderne Industriegesellschaft problematischer sind. Die Beschneidung moslemischer Knaben (Mädchenbeschneidung kennt man in Zentralasien nicht) beeinträchtigte nicht die Modernisierung bäuerlicherGesellschaften. Außerdem fehlt ihr im normativen Islam die zentrale religiöse Bedeutung, die sie für das Judentum hat. Im Islam symbolisiert die Beschneidung nicht Abrahams Bund mit Gott, sondern ist allein eine Frage der Hygiene. Im Koran ist sie nicht einmal erwähnt.

Doch haben die Turkvölker mehr daraus gemacht als andere Moslems. Für die moslemischen Zentralasiaten ist Beschneidung eine Frage des Selbstwertes: Ein Usbeke ist beschnitten, ein Russe nicht. Mit anderen Worten: Der Russe ist halt ein Barbar und hat keine Kultur, er ist tierhaft und dreckig.

Solche ethnisch-nationalen Vorurteile mögen erklären, weshalb russische Atheismus-Propagandisten in ihren Kampagnen gegen den Islam mit so viel Wut gegen die „abergläubische Sitte" der Beschneidung zu Feld zogen. Eine Tartarin oder Turkmenin geht mit einem Russen nicht ins Bett, selbst wenn sie sich in ihn verlieben sollte. Unbeschnitten zu sein, gilt als das Unsauberste der Welt.

Der Erfolg der Anti-Beschneidungs-kampagne war minimal; denn selbst atheistische Zentralasiaten fühlen sich wohler, wenn ihre Knaben beschnitten sind. Das ist keine Glaubensfrage, sondern eine Frage der nationalen Identität.

Davon abgesehen wurde Glaubenspflege ganz allgemein deckungsgleich mit medizinischer Versorgung, und hierin liegt vielleicht die wesentlichste Ursache für das Überleben des Islam im Sowjetsystem. Außerdem erklärt sich daraus die spezielle Art von Religiosität, die sich unter dem Namen Islam erhalten hat. Wie schon angedeutet, gilt das nicht für den Islam allein, sondern für Religion in der ehemaligen Sowjetunion generell.

Die medizinische Versorgung war -im großen und ganzen - miserabel. In den asiatischen Republiken war sie noch mangelhafter als in den europäischen, und auf dem Lande dürftiger als in der Stadt. Das heißt, die überwiegend ländliche Bevölkerung Usbekistans oder Tadschikistans sah wenig von den sozialistischen Errungenschaften in der Gesundheitsfürsorge. Stattdessen ähnelte ihre Lage der ihrer Nachbarn in Afghanistan und Pakistan, soweit es denen nicht gar besser ging.

Die Türkei, Iran und Pakistan haben eine viel stärkere Urbanisierung durchgemacht als irgendeine der zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Dadurch sind dem Süden der ehemaligen Sowjetunion städtische Ungeheuerlichkeiten wie Teheran und Karatschi (neun Millionen) erspart geblieben. Andererseits hat sich an der Lebensweise der überwiegend ruralen Bevölkerung in Zentralasien weniger verändert als man annehmen möchte. Der Fundamentalismus (Islamismus), der im wesentlichen ein Phänomen der unteren Mittelklassen und des Lumpenproletariats in den Städten ist, bleibt daher auf Baku (Aserbeidschan) und Taschkent (Usbekistan) beschränkt, aber auch jene Großstädte können sich in bezug auf Entwurzelung und Entfremdung entrechteter Landflüchtiger weder mit Ankara noch mit Lahor messen.

Bauern müssen meist einen weiten Weg in die Stadt zurücklegen, um einen richtigen Arzt zu finden. Der ist unwirsch und häufig kaum zu verstehen, weil er die Sprache so schlecht spricht und die „stinkenden Bauern" nicht gerade ins Herz geschlossen hat. Er ist entweder ein Kind von Stadtbewohnern, hat an der Uni auf Russisch studiert, darüber die eigene Sprache fast vergessen und findet sich in der Provinz nun auf verlorenem Posten wieder. Den eigenen Leuten ist er entfremdet, wie das für derartige koloniale Situationen typisch ist. Seine Frau kommt sicher aus einem anderen Land, womöglich gar aus Moskau -das macht ihn in den erz-endogamen Gesellschaften Zentralasiens vollends zum Außenseiter. Er tritt dann dementsprechend tyrannisch auf. Ist der Arzt gar Russe, kann er sein Unbehagen über die Asiaten nur schwer verbergen. Die Krankenhäuser folgen osteuropäischen Vorlagen, und der asiatisch-moslemische Patient fühlt sich hier fehl am Platz.

Also ist der Besuch beim Arzt in der Stadt meist ein frustrierendes Erlebnis, durch den Umgang mit unbeweglichen Behörden wird er zum Spießrutenlauf. Deshalb nimmt man lieber Zuflucht bei einem Dorfheiler, einem Hakim (arabisch für „Weiser" mit der Sonderbedeutung von „Arzt"). Das sind keineswegs nur Scharlatane und Rasputine, obschon es davon eine stattliche Anzahl gibt. Im großen und ganzen handelt es sich um „Eingeborenenmedizin", die bekanntlich in der ganzen Welt ein Aufleben erfahren hat und hier in Zentralasien außerdem noch eine stolze Tradition besitzt, kamen doch die meisten der berühmten Arzt-Philosophen des islamischen Mittelalters aus diesen Gegenden.

Nun gehört zu dieser Tradition des Heilens eine Ganzheitlichkeit, wie sie auch die Homöopathen, Anthroposo-phen und andere moderne Heilslehren mit großer Inbrunst predigen. Im islamischen Zusammenhang bedeutet dies, daß ein richtiger Hakim auch ein frommer Mann ist, eine Art Religionslehrer. Er soll also Medizinmann und Schamane sein beziehungsweise in der islamischen Terminologie ein Sufi-Meister.

Die Sufis, meist als islamische Mystiker präsentiert, üben häufig die Funktion von Heilpraktikern aus, das gehört sozusagen zu ihrer Tradition. Man könnte in ihnen Vorläufer moderner Berufe wie Psychiater und Psychotherapeut sehen. Als solche sind sie neuerdings auch in den Industriegesellschaften Westeuropas und Nordamerikas groß im Kommen. Wieviel mehr erst in abgelegenen Bergdörfern Daghestans und Tadschikistans, wo sie jahrzehntelang die einzige Hoffnung waren.

Hat schon der christliche Obskurantismus vieler Wolgadeutschen manchen Westdeutschen das Fürchten gelehrt, so ist der Unterschied im Religionsverständnis zwischen einem emanzipierten Marokkaner und einem tadschikischen Hinterwäldler allenfalls noch krasser. Da der offizielle „Klerus" gleichgeschaltet und strenger Aufsicht durch das KGB unterstellt war, wurde der Islam einem Heer von Quacksalbern überantwortet. In der guten alten Zeit hatten manche dieser Zauberdoktoren Format, doch in der dritten Generation nach der bolschewistischen Machtergreifung trifft man meist nur noch auf kümmerliche Überbleibsel.

Buchara in Usbekistan ist für den Islam fast eine heilige Stadt - nach Mekka, Medina und Jerusalem. Wird es wieder zum Zentrum des Geistesschaffens mit Ausstrahlung bis nach Marokko und Indonesien? Welche Art von Islam wird sich hier durchsetzen, der Fundamentalismus saudischer oder algerischer Spielart? Oder ist aus Buchara eine islamische Aufklärung zu erwarten als Folge der Läuterung im Fegefeuer des atheistischen Sowjetimperialismus?

In Usbekistan ist auch der einstmals oberste „Sowjet-Moslem" zu Hause, Mufti Babakhän - bis vor wenigen Jahren noch Babakhänov; doch legte der gewiefte Korangelehrte in weiser Voraussicht das ov bereits Anfang der achtziger Jahre ab. Mufti ist ein hoher religiöser Rang bei den Sunniten, entfernt vergleichbar dem eines Ajatollah bei den Schiiten. Die Ba-bakhäns - Vater und Sohn - genießen Ansehen in den arabischen Staaten, die sie häufig bereisen durften. Sie standen an der Spitze einer Handvoll von Sowjet-Moslems, die Moskau in den siebziger und achtziger Jahren gern auf Auslands-Toumee schickte, um der islamischen Welt zu demonstrieren, wie gut es den Moslems in der UdSSR ginge. Im eigenen Volk gelten die Babakhäns deshalb als KGB-Marionetten.

Was wird aus diesem Islam-Establishment? Werden Leute wie die Babakhäns als Kollaborateure vor Gericht gestellt oder können sie sich glaubhaft machen als Führer, die die ganze Zeit unter den ihnen auferlegten Beschränkungen gelitten haben?

Welche Alternativen gibt es in der islamischen Führung? Wie steht es um die jüngeren Imame, deren Studien bereits zu einer Zeit der Auflockerung und stärkerer Auslandskontakte abliefen, gleichzeitig aber auch perfektionierter Manipulierung durch das KGB? Woher soll eine neue Führung kommen, wenn sich hier das Stasi-Syndrom wiederholt und alles in einer allgemeinen Disqualifizie-rung endet?

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